Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen

Das Phänomen der doppelten Nichtbesteuerung: Eine Analyse im Lichte des Missbrauchs „hybrider“ Rechtsformen

Autoren
Parada, Leopoldo
Abteilungen
Abteilung für Unternehmens- und Steuerrecht
Zusammenfassung
Ein Forschungsvorhaben am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen beleuchtet die doppelte Nichtbesteuerung und argumentiert, dass diese als neutraler, also weder positiver noch negativer Vorgang einzuordnen ist. Am Beispiel hybrider Rechtsformen wird gezeigt, dass bei einem grenzüberschreitenden Vorgang die doppelte Nichtbesteuerung als solche unerheblich sein sollte. Stattdessen sollte ermittelt werden, ob die natürlichen Unterschiede zwischen Steuersystemen missbraucht werden und wie diesem Missbrauch gegebenenfalls entgegengewirkt werden kann.

Das Phänomen der doppelten Nichtbesteuerung hat es in den letzten Jahren zu einiger Berühmtheit gebracht. Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich auf multinationale Unternehmen, etwa Apple, Amazon, Fiat und Starbucks, die komplizierte Strukturen nutzten, um ihre Steuerlast zu senken oder der Besteuerung ganz zu entgehen. Die intensive Berichterstattung sowie die Reaktion derjenigen – zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen –, die vor diesem Hintergrund „Steuergerechtigkeit“ und „Gleichbehandlung“ einfordern, schaffen eine interessante Ausgangslage, um ein Geschehen zu diskutieren, das a priori negativ bewertet wird.  

Das aktuelle Projekt Base Erosion and Profit Shifting (BEPS) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bekräftigt nicht nur die Vorstellung, dass eine doppelte Nichtbesteuerung unerwünscht sei, sondern schlägt auch konkrete Maßnahmen vor, um ihr entgegenzuwirken (vgl. OECD, 2013, Addressing Base Erosion and Profit Shifting, und Action Plan on Base Erosion and Profit Shifting).

Die doppelte Nichtbesteuerung und der Gebrauch hybrider Rechtsformen sind keine neuen Erscheinungen und werden in Fachkreisen schon seit geraumer Zeit diskutiert. So hat etwa die OECD 2010 den Report on Addressing Tax Risks Involving Bank Losses veröffentlicht, der sich insbesondere auch mit Konstellationen beschäftigt, in denen der gleiche Unternehmensverlust aufgrund von Unterschieden in den jeweiligen Steuersystemen in mehreren Staaten verrechnet werden kann. 2011 folgte der Report on Corporate Loss Utilization through Aggressive Tax Planning, der sich dafür aussprach, dass Staaten die Möglichkeit, den gleichen Verlust mehrfach zu verrechnen, beschränken sollten, um eine doppelte Nichtbesteuerung oder einen Steueraufschub zu vermeiden. 2012 veröffentlichte die OECD schließlich den Report on Hybrid Mismatch Arrangements, der nationale Missbrauchsnormen als unilaterale Maßnahmen vorschlug, um die doppelte Nichtbesteuerung zu bekämpfen. Die doppelte Nichtbesteuerung und die Problematik hybrider Rechtsformen wurden zudem auf den Kongressen der International Fiscal Association (IFA) in den Jahren 2004 und 2014 diskutiert [1, 2].

Trotzdem fehlt es an Literatur, die sich eingehend mit der Natur des Phänomens befasst. Handelt es sich dabei wirklich um ein Problem? Wie hängt das Resultat der doppelten Nichtbesteuerung mit dem Gebrauch von Rechtsträgern zusammen, die in zwei unterschiedlichen Staaten steuerrechtlich unterschiedlich behandelt werden? Ist es sinnvoll, bei der Diskussion um die Gewinnverlagerung ins Ausland die doppelte Nichtbesteuerung in den Mittelpunkt zu stellen? Gibt es andere Mittel, um zu vermeiden, dass multinationale Unternehmen Gewinne in Niedrigsteuerländer verlagern, oder ist dies einfach Teil des Wettbewerbs?

Was ist doppelte Nichtbesteuerung?

Vereinfachend beschreiben manche Autoren die doppelte Nichtbesteuerung schlicht als Kehrseite des Phänomens der Doppelbesteuerung. Diese Herangehensweise impliziert, dass die doppelte Nichtbesteuerung genauso wenig erstrebenswert ist wie ihr Gegenstück. Denn auf den ersten Blick erscheint es gleichermaßen ungerecht, Steuern gar nicht oder doppelt zahlen zu müssen. Die Idee, dass Einkommen in einer grenzüberschreitenden Situation mindestens einmal besteuert werden sollte, wird durch Stimmen aus der Wissenschaft und aus internationalen Steuerforen gestärkt [3–8]. Allerdings birgt dieses Verständnis des Phänomens der doppelten Nichtbesteuerung das Risiko, einen grundsätzlich legitimen Effekt mit illegitimem beziehungsweise zumindest problematischem Verhalten wie Steuerhinterziehung, Steuervermeidung und Steuerumgehung gleichzusetzen.

Die doppelte Nichtbesteuerung kann sicherlich Konsequenz unrechtmäßigen Verhaltens sein, aber genauso gut kann sie vollständig legitim sein, etwa wenn zwei Staaten entscheiden, gewisse Einkünfte nicht zu besteuern, um Wissenschaft oder Forschung zu fördern. In diesem Sinne plädiert der Autor dafür, die doppelte Nichtbesteuerung als einen neutralen Effekt zu verstehen, der keinerlei subjektive Qualifikationen impliziert, etwa die des Vorsatzes durch das Unternehmen oder den Staat. Daher sollte die Abschaffung der doppelten Nichtbesteuerung nicht das primäre Ziel der Bemühungen im Kampf gegen die Erosion der nationalen steuerlichen Bemessungsgrundlagen sein.

Was ist eine „hybride“ Rechtsform?

Der Begriff der hybriden Rechtsform bezieht sich auf die Klassifikation eines Unternehmens durch zwei unterschiedliche Steuersysteme. Eine hybride Rechtsform ist ein Unternehmen, das nach dem Steuerrecht des einen Staates als eigenständiges Unternehmen einzuordnen, also Steuersubjekt, ist, während der andere Staat diese Gesellschaft für steuerliche Zwecke nicht berücksichtigt („transparente Rechtsform“). Folgendes Beispiel zur Veranschaulichung: Eine Muttergesellschaft in Staat X (GX) hat eine Tochtergesellschaft in Staat Y (TY). Im Staat Y wird TY als eigenständiges Steuersubjekt angesehen. Wenn TY Einkünfte erzielt, zahlt sie im Staat Y Körperschaftsteuer, und die Muttergesellschaft GX wird nur im Hinblick auf ausgeschüttete Dividenden besteuert. Im Staat X wird TY jedoch als steuerlich transparent angesehen. Steuerlich existiert TY für den Staat X nicht. Deshalb fließen Einkommen, Steuergutschriften und Ausgaben der TY direkt zu ihrer Gesellschafterin GX durch und werden nur dort steuerlich berücksichtigt (siehe Abb. 1).

Das gleiche Phänomen kann auch umgekehrt auftreten. Das heißt, ein Unternehmen wird im Ansässigkeitsstaat als transparent und im anderen Staat als Steuersubjekt behandelt. Diese Unternehmen werden in der Wissenschaft als „Reverse Hybrids“ („umgekehrte hybride Rechtsformen“) bezeichnet (siehe Abb. 2).

Grundsätzlich sind Staaten frei in ihrer Entscheidung, wie sie ausländische Gesellschaften steuerlich behandeln. Deswegen ist die „Hybridität“ eines Rechtsträgers das Resultat natürlicher Disparitäten zwischen den verschiedenen Rechtssystemen [9]. Grundsätzlich lassen sich dabei drei verschiedene Qualifikationssysteme unterscheiden: erstens ein Wahlsystem, bei dem der Steuerzahler entscheiden kann, wie der ausländische Rechtsträger behandelt wird (das beste Beispiel ist das Check-the-Box-System der USA, vgl. I.R.C. [Internal Revenue Code/US-amerikanisches Steuergesetz] Treasury Regulations Section 301.7701-1); zweitens ein vergleichendes System, in dem die Charakteristika des ausländischen Rechtsträgers mit den Eigenschaften nationaler Gesellschaften verglichen werden, um die steuerliche Behandlung zu bestimmen; und drittens ein starres System, in dem alle ausländischen Unternehmen zu Steuersubjekten erklärt werden.

Wie ergibt sich aus dem Gebrauch hybrider Rechtsformen eine doppelte Nichtbesteuerung?

Das klassische Beispiel für eine doppelte Nichtbesteuerung durch den Gebrauch hybrider Rechtsformen ergibt sich als Kombination aus steuerlichem Abzug auf Ebene des zahlenden Rechtsträgers und Nichtberücksichtigung der Einkünfte auf Ebene des Zahlungsempfängers („Betriebsausgabenabzug/Nichtberücksichtigung als Einnahme“). Angenommen, dass GX ihrem Tochterunternehmen TY ein Darlehen gewährt und deswegen TY in Zusammenhang mit diesem Darlehen Zinsen zurückzahlt. Der Einfachheit halber setzen wir voraus, dass der Staat Y keine Quellensteuer erhebt (siehe Abb. 3).

In diesem Szenario können die von TY bezahlten Zinsen im Staat Y von den Gesamteinkünften als Ausgabe abgezogen werden, weil TY in Staat Y als Steuersubjekt behandelt wird. Umgekehrt werden die gezahlten Zinsen in Staat X nicht in die Einkünfte der GX einbezogen, weil nach dem Steuerrecht des Staates X die TY steuerlich als transparent gilt. Folglich bleiben das Darlehen und die Zinsen steuerlich unberücksichtigt.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man im Falle einer umgekehrten hybriden Rechtsform (angenommen, dass nach dem Recht des Staates X auf die an TY gezahlten Zinsen keine Quellensteuer erhoben wird). In dieser Konstellation gewährt die TY ein Darlehen und erhält für dieses Darlehen Zinsen von GX (siehe Abb. 4).

Nach dem Recht des Staates X wird TY als Steuersubjekt gesehen. In diesem Fall können die Zinsen auf Ebene der GX bei Ermittlung der Einkünfte abgezogen werden. Nach dem Recht des Staates Y wird TY indes als transparente Gesellschaft gesehen; deswegen bleiben das Darlehen und die Zahlung der Zinsen unberücksichtigt. Das heißt, die an TY gezahlten Zinsen werden nirgendwo besteuert (unter der Voraussetzung, dass der Staat X auf die Zahlung keine Quellensteuer erhebt).

Der OECD-Vorschlag gegen den Missbrauch hybrider Rechtsformen

Die OECD hat Staaten spezifische Vorschläge unterbreitet, um der doppelten Nichtbesteuerung als Folge von „Betriebsausgabenabzug/Nichtberücksichtigung als Einnahme“ entgegenzuwirken. Die Maßnahmen sind in dem BEPS Action Plan 2 Hybrid Mismatch Arrangements zusammengefasst und werden als „Linking Rules“ (Korrespondenzregeln) bezeichnet (vgl. OECD-G-20 Base Erosion and Profit Shifting Project, 2015, Neutralizing the Effects of Hybrid Mismatch Arrangements, Action 2-2015 Final Report).

Zwei grundsätzliche Maßnahmen werden für die nationale Ebene empfohlen: Zum einen, so der Vorschlag der OECD, soll der Staat des zahlenden Unternehmens einen Abzug von der Bemessungsgrundlage nur insoweit gewähren, als die Einkünfte in dem Staat, in dem der Zahlungsempfänger ansässig ist, besteuert werden („Primary Response“). Im Übrigen soll der Steuerabzug verwehrt werden. Wenn der Staat, der den Abzug gewährt, auf diesem besteht, soll der andere Staat darauf reagieren, indem er unter Missachtung der Transparenz des zahlenden Rechtsträgers die jeweiligen Einkünfte steuerlich berücksichtigt („Defensive Rule“). Entsprechend dem Beispiel „Betriebsausgabenabzug/Nichtberücksichtigung als Einnahme mittels einer hybriden Rechtsform“, soll Staat Y den Abzug verweigern, wenn die Zinsen in Staat X nicht besteuert werden. Andernfalls soll Staat X die transparente Behandlung von TY außer Acht lassen und die Einkünfte besteuern.

Ist eine umgekehrte hybride Rechtsform Zahlungsempfänger, empfiehlt die OECD, nur die „Primary Response“ anzuwenden. Im obigen Beispiel würde das bedeuten, den Abzug der Zinsen auf Ebene der GX zu verwehren.

Ein alternativer Ansatz

Das Hauptdefizit der von der OECD vorgeschlagenen Maßnahmen, um den Missbrauch von hybriden Rechtsformen zu bekämpfen, ist die vorschnelle Annahme, die doppelte Nichtbesteuerung sei von Natur aus etwas Negatives. Der Vorschlag der OECD setzt allein beim steuerlichen Resultat „Betriebsausgabenabzug/Nichtberücksichtigung als Einnahme“ an. Andere Faktoren, die besser geeignet wären, einem „mismatch“ entgegenzuwirken, werden nicht berücksichtigt. Zudem missachtet der Vorschlag, dass Staaten die souveräne Gestaltungsmacht über ihr Steuersystem besitzen und Steuergesetze erlassen, die am besten zu ihren wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Zielen passen, inklusive der Gewährung von steuerlichen Freistellungen oder Abzügen, besonderer Steuersätze usw.

Der Autor dieses Beitrags meint hingegen, dass die richtige Lösung im Kampf gegen die sich durch den Gebrauch von hybriden Rechtsformen ergebenden Diskrepanzen damit beginnt, das Phänomen der doppelten Nichtbesteuerung nicht mehr als etwas a priori Negatives (oder sogar Positives) zu sehen. Vielmehr sollte man doppelte Nichtbesteuerung als neutralen Effekt verstehen, der auf rechtmäßige oder unrechtmäßige Weise erreicht werden kann. Der Fokus sollte daher auf der Analyse der Steuerstrukturen selbst und des Begriffs des Missbrauchs liegen, statt am Resultat, der doppelten Nichtbesteuerung, anzuknüpfen.

Einige Anhaltspunkte im Hinblick auf den Missbrauchsbegriff können den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) auf den Gebieten der Nichtdiskriminierung und der Mehrwertsteuer liefern (vgl. etwa die Urteile Halifax, C-255/02, EU:C:2006:121; Marks & Spencer, C-446/03, EU:C:2005:763; Cadbury Schweppes, EU:C:2006:544), auch wenn ein genereller und einheitlicher Missbrauchsbegriff sicherlich schwierig zu bestimmen ist. Zumindest kann eine Verlagerung der Diskussion weg von der doppelten Nichtbesteuerung hin zu dem Begriff des „Missbrauchs“ auf kurze Sicht denjenigen Steuerzahlern helfen, die legitime grenzüberschreitende Geschäfte tätigen und die natürlichen Unterschiede zwischen Steuersystemen nutzen und die nach den Vorschlägen der OECD eine unnötige zusätzliche Steuerlast tragen müssten, nur weil die geltenden Regeln es ihnen an sich erlauben, gar keine Steuern zu bezahlen.

Literaturhinweise

International Fiscal Association (IFA)

Cahiers de droit fiscal international, Vol. 89a, Double non-taxation
IFA, Wien (2004)

International Fiscal Association (IFA)

Cahiers de droit fiscal international, Vol. 99b, Qualification of taxable entities and treaty protection
IFA, Wien (2014)

Avi-Yonah, R. S.

International Tax as International Law: An Analysis of the International Tax Regime
Cambridge University Press, New York (2007)

Ault, H. J.

The Importance of International Cooperation in Forging Tax Policy
Brook. J. Int’l L. 26, 1693–1697 (2001)

Brauner, Y.

An International Tax Regime in Crystallization
Tax L. Rev. 56, 259–328 (2003)

Rosenbloom, H. D.

The David R. Tillinghast Lecture: International Tax Arbitrage and the “International Tax System”
Tax L. Rev. 53, 137 (2000)

Roin, J.

Competition and Evasion: Another Perspective on International Tax Competition
Geo. L. J. 89, 543–604 (2001)

Graetz, M.

The David R. Tillinghast Lecture, Taxing International Income: Inadequate Principles, Outdated Concepts and Unsatisfactory Policies
Brook. J. Int’l L. 54, 261–336 (2001)

Lüdicke, J.

OECD – “Tax Arbitrage” with Hybrid Entities: Challenges and Responses
Bull. Intl. Taxn. 68 (6/7), 309–317 (2014), Journals IBFD
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