Forschungsbericht 2015 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut
Piazza e monumento: Ein Projekt zur kunsthistorischen Erforschung der Stadt
Platz und Stadt
Eine Projektgruppe am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut, die von Alessandro Nova und Brigitte Sölch geleitet wird, untersucht den Platz in seinen räumlichen Relationen [1] und begreift ihn zugleich als Gefüge, das über sich selbst hinaus auf die Stadt sowie andere „Einheiten“ wie das Territorium [2], die Nation oder die Global City verweisen kann. Nur selten entstammt der Platz einem festen, vorgefertigten Konzept. Meist ist er Ergebnis eines langfristigen Gestaltungsprozesses (longue durée), an dem sich wechselnde Akteure beteiligen und im Rahmen dessen auf unterschiedliche Zeiten Bezug genommen wird; sei es, um an eine bestimmte Vergangenheit oder stadträumliche Beschaffenheit anzuknüpfen, sei es, um diese zu überschreiben und auf die Zukunft zu verweisen. Damit erweist sich der Platz als ein komplexes Raum-Zeit-Gebilde, das entsprechende Anforderungen an die kunstwissenschaftliche Methodik stellt.
(Un-)Beständigkeit des Platzes
Dass der Platz kein abgeschlossenes Werk ist, stellt 1959 auch Paul Zucker in seinem Buch Town and Square. From the Agora to the Village Green heraus [3]. Der Platz sei vielmehr Bestandteil eines „lebendigen Organismus“, der niemals vollendet sein könne, und besitze oftmals von Beginn an bestimmte räumliche Eigenschaften, die seine zukünftige Entwicklung prägen. Die Frage nach solchen Konstellationen, welche die longue durée des Platzes prägen, ist für die kunsthistorische Stadt- und Platzforschung zentral. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist die Piazza Ducale (1492–1494) in Vigevano, die eine besondere Stellung in der Architekturgeschichte einnimmt. Sie gilt seit ihrer Deutung durch Wolfgang Lotz 1968 als erster Renaissanceplatz, der explizit auf die antike Forumsidee Bezug nahm, wie sie in Architekturtraktaten vermittelt wurde: als längsrechteckiger Binnenraum der Stadt, der von zweigeschossigen Architekturen mit Säulenportiken im Erdgeschoss eingefasst ist, gemäß Leon B. Alberti durch einen Triumphbogen erschlossen wird und das politische und merkantile Zentrum der Stadt bildet [4].
Um ein solches Forum zu errichten, veranlasste Ludovico Sforza 1492 in der Nebenresidenz des Mailänder Hofes den Abriss des mittelalterlichen Platz- und Straßengefüges unterhalb des Kastells (Abb. 2). Die neue, in nur zwei Jahren errichtete Platzanlage setzte sich von ihren Vorgängerbauten sowohl durch ihre Weite und geometrische Klarheit ab als auch durch ihre vereinheitlichte Randbebauung mit umlaufenden Erdgeschossarkaden. Erstmals wurden die – in diesem Fall auch bemalten – Fassaden dem Platz als Ganzes verpflichtet und triumphale Ehrenbögen dauerhaft in eine „Rahmenarchitektur“ integriert. Sie machen das Betreten des Platzes zu einem Akt eigener Qualität und orchestrieren zugleich die Blickbeziehungen, indem sie das Kastell und die an der einzigen offenen Platzseite liegende Kathedrale von außen kommend als gerahmte Architekturprospekte erfahrbar werden lassen.
Das neue Forum wurde in den Stadtkörper eingefügt wie ein gebautes Manifest, das auf die ideale Verfasstheit des Staates als Fürstenstaat verweist. Ein abgeschlossenes Werk ist es dennoch nicht. Schon der Bau des Platzes nahm bestimmte Konstellationen des mittelalterlichen Stadtzentrums produktiv auf. Dies war zum einen die zentrale, leicht erhöhte Lage des Kastells, dessen Haupteingang nun erstmals zum Stadtzentrum hin ausgerichtet und durch eine Rampe erschlossen wurde. Zum anderen wurden alle bestehenden Straßenverbindungen mit Städten wie Mailand, Genua oder Pavia in die Platzarchitektur integriert und architektonisch überformt. Die dadurch bewirkte Dialektik zwischen Ruhe (architektonische Geschlossenheit, Vereinheitlichung der Platzfassaden) und Bewegung (Rampe, Ehrenbögen) regt damit auch aus einem neuen Blickwinkel zum Nachdenken über Formen der „Raumbesetzung“ und der „Raumüberwindung“ an. Diese beiden Kategorien hatte Katrin Bek ihrer Studie Achse und Monument: Zur Semantik von Sicht- und Blickbeziehungen in fürstlichen Platzkonzeptionen der Frühen Neuzeit von 2005 zugrunde gelegt, die nach der Sichtbarmachung fürstlicher Raumordnungen fragt [5]. Eine Analyseweise, die mehr als das Verhältnis von Platz und Monument ins Auge fasst.
Wenn das heutige Stadtzentrum Vigevanos mit seinen bemalten Platzwänden, Cafés und Sonnenschirmen (Abb. 3) dem Idealbild einer italienischen Piazza zu entsprechen scheint, so ist dies Ergebnis seiner langfristigen Entwicklung. Das serielle Prinzip der Fassadenbildung, aber auch die Geometrie und Weiträumigkeit der Anlage erwiesen schon im Barock ihr Potenzial für eine kongeniale Neuinterpretation. Denn es war Bischof Juan Caramuel de Lobkowitz, selbst Verfasser eines auf optischen Theorien basierenden Architekturtraktats, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts maßgeblich zum heutigen Erscheinungsbild der Piazza Ducale beitrug. Er beruhigte und dynamisierte den Stadtraum in neuer Weise, und zwar in erster Linie durch die Errichtung der konkaven Barockfassade, die der Kathedrale vorgelagert ist. Sie wirkt wie ein Theaterprospekt und überspannt mit einem Scheinportal sogar die seitlich einmündende Straße. Den Wohnzimmercharakter der Piazza erlangte der neue Bauherr endgültig, indem er die Triumphbögen auf das Motiv der umlaufenden Arkaden reduzieren und auch die zum Kastell führende Rampe abtragen ließ. Durch die Schließung der so entstandenen Baulücke unterhalb des Kastellturms mit einem Bau- und Fassadenteil, das die vorhandene Renaissancearchitektur kopiert und nahtlos fortsetzt, rückte er das Kastell aus dem Blick und brachte den kohärenten Charakter der Platzarchitektur zum Abschluss. Seitdem ist die Piazza Ducale auf die Kathedrale ausgerichtet und wird dadurch mit Plätzen wie dem Atriumsplatz vor der Wallfahrtskirche in Loreto vergleichbar, den Bramante unter Papst Julius II. (reg. 1503–1513) lückenlos schließen wollte und darum als Forum im Sinne des antiken Caesarforums interpretierte [6].
Platz-Bild
Die Piazza Ducale erlangte erst nach und nach ihr heutiges Erscheinungsbild, das mit populär gewordenen Idealvorstellungen von der italienischen Piazza als „Wohnzimmer“ der Stadt korrespondiert. An diesem Bild hatte der Begründer der Urbanistikforschung, Camillo Sitte, wesentlichen Anteil: Indem er das antike Forum von Pompeji zum Auftakt seines Buches Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889) macht und mit hymnischen Worten als „Wohnzimmer“ und als „Festsaal der Stadt“ beschreibt; indem er aber auch dessen ästhetischer Gestaltung insofern ethische Qualitäten zuschreibt, als sie ganz dem bürgerlichen Gemeinwohl verpflichtet sei [7]. Dies ist nur eines von vielen, international breit rezipierten Beispielen für das Argumentieren in und mit Platz-Bildern und es stellt sich die Frage nach deren Anteil an der Vorstellung und Wahrnehmung von sozialer und politischer Öffentlichkeit.
Das Platz-Bild steht deshalb für die Forschergruppe im Zentrum – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die jüngsten Übertragungen von Bildern aus Ägypten, der Türkei oder der Ukraine die Bedeutung des Platzes als Aktions- und Versammlungsraum der Stadt verstärkt bewusst machen. Aber auch unabhängig von Protestbewegungen wirken Bilder an der Idee des Platzes mit und entfalten zwischen Geschichte, Gegenwart und möglicher Zukunft eine Eigenlogik, deren Analyse durch die Architektur- und Stadtbildforschung neue Impulse erhalten kann.
Spätestens seit den 1990er Jahren gibt es ein verstärktes Nachdenken über das Bild der Stadt, das von historischen Ansichten [8] bis hin zur Imagebildung der gebauten Stadt reicht, die in den Wettlauf des City Branding geraten und damit auch Produkt einer globalen Kreativindustrie geworden ist [9]. Zugleich hat die Stadtbildforschung in Autoren wie dem Soziologen Georg Simmel (1858–1918) oder dem Stadtplaner Kevin A. Lynch (1918–1984) wichtige theoretische Bezugspunkte gefunden. Lynchs anthropologische Studie The Image of the City (1960) war an der Wahrnehmung der Identität, Struktur und Bedeutung urbaner Räume interessiert. Er verstand die Stadt, so Carsten Ruhl, als ein „historisch gewachsenes Kunstwerk, das mit dem kulturell kodierten Blick des Betrachters rechnet und sich durch seine ästhetische Lesbarkeit in dessen Denken und Gedächtnis einzuprägen vermag“. Lynchs Ansatz war von zentraler Bedeutung für das bildhafte Architekturverständnis Aldo Rossis, der für die sinnliche Erfassung urbaner Strukturen der Stadt plädierte und zugleich zeigte, dass das bildliche Denken für den architektonischen Schaffensprozess unabdingbar ist [10].
So vielschichtig sich die Stadtbildforschung darstellt, so erstaunlich ist es, dass bis auf einzelne Aufsätze – zu Adolph von Menzels Piazza dʼErbe in Verona (Abb. 4) zum Beispiel – noch keine eigene problemorientierte Publikation zum Platz-Bild existiert. Dessen Eigenlogik hat die Forschergruppe daher jüngst zum Thema einer internationalen Konferenz gemacht. Aus ihr soll eine Publikation hervorgehen, die das Spektrum vom bildlichen Denken im Entwurf bis hin zur Mediatisierung des Platzes im Rahmen weltweiter Protestbewegungen und Berichterstattungen umfasst.