Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Grenzflächenkontrollierte Phänomene in Nanomaterialien

Autoren
Mittemeijer, Eric J.; Wang, Zumin
Abteilungen
Phasenumwandlungen, Thermodynamik und Kinetik (Prof. Dr. Eric J. Mittemeijer)
Zusammenfassung
Materialien im Nanometerbereich haben eine außergewöhnlich große interne Grenzflächendichte. Eine Reihe von zuvor unbekannten Phänomenen in Nanomaterialien wurde enthüllt, die grundsätzlich auf die vorhandenen Grenzflächen zurückzuführen sind. So wurden ungewöhnlich große und kleine Gitterparameter in nanokristallinen Metallen, Quanten-Spannungsoszillationen in wachsenden Nanoschichten und außerordentlich hohe Mobilitäten von Atomen bei sehr tiefen Temperaturen beobachtet und erklärt. Das dabei gewonnene Verständnis kann zu neuen Anwendungen von Nanomaterialien in Spitzentechnologien führen.

Materialien im Nanobereich besitzen (sehr) kleine Korn-/Partikelgrößen, d.h. die Korn-/Partikelgröße ist (viel) kleiner als 100 Nanometer. Beispiele von solchen Materialien im Nanobereich sind Dünnschichten, 3D Schichtstrukturen, Nano-Verbundstoffe, nanoporöse Materialien oder Nanoröhrchen, usw. Wegen ihres außergewöhnlich großen Verhältnisses von Ober- oder Grenzfläche zu Volumen (in der Größenordnung von 100 km2/m3) – die Grenzflächendichte  – ist ein großer Anteil der Atome darin Bestandteil oder benachbart zu einer Grenzfläche. Die Energien dieser Atome unterscheiden sich höchstwahrscheinlich deutlich von den Energien jener im Volumen des Materials. Deshalb können Materialien im Nanobereich (sehr) ungewöhnliche Eigenschaften besitzen, die im Prinzip einen Weg zu fortschrittlichen Materialsystemen mit neuen Funktionalitäten eröffnen. Ein grundlegendes Verständnis der Rolle von Grenzflächen auf die Materialeigenschaften vertieft deshalb nicht nur unser Verständnis der Natur, sondern ist ebenso entscheidend für die Entwicklung neuer Materialien und ist deshalb an der vordersten Front der Materialforschung [1]. In den vergangenen Jahren haben Forscher in unserer Abteilung drei faszinierende Entdeckungen von grenzflächenkontrollierten Phänomenen gemacht, die im Folgenden präsentiert werden.

1. Außergewöhnliche Gitterparameter in nanokristallinen Metallen

Der Gitterparameter von kristallinen Materialien (also der Abstand der Atome im Kristallgitter) kann sich drastisch ändern, sobald die Dimension in den Nanobereich rückt. Einzelne Beobachtungen aus der Vergangenheit führen zu widersprüchlichen Ergebnissen (Gitterparameter von Nanomaterialien entweder größer oder kleiner als der von massiven Materialien mit großen Korngrößen), und haben zu kontroversen Diskussionen geführt.

Um endgültig den Einfluss der (Nano)Korngröße auf den Gitterparameter in nanokristallinen Metallen aufzuklären, wurden nanokristalline Metalle durch Vermahlen von Nickel, Eisen, Kupfer und Wolfram in einer Kugelmühle hergestellt. Dabei zerschlagen die Stahlkugeln die Metalle in einer zylinderförmigen Trommel in winzige Kristallkörner mit einer mittleren Korngröße von 10 Nanometern. Durch den Einsatz von Elektronenmikroskopie und Röntgendiffraktometrie wurde das erste Mal systematisch untersucht, wie sich der Gitterparameter mit der Kristallkorngröße auf einer Skala von 1000 Nanometern bis hinab zu 10 Nanometern ändert [2].

Die dabei gewonnenen experimentellen Ergebnisse für nanokristallines Nickel sind in Abb. 1a gezeigt. Es wurde beobachtet, dass anfangs das Kristallgitter von allen vier untersuchten Metallen sich mit abnehmender Korngröße zusammenzieht. Wenn die Korngröße allerdings unter eine kritische Größe von ungefähr 30 nm fällt, dann weitet sich unerwarteter Weise das Kristallgitter aller vier Metalle wieder auf, d.h. der Abstand der Atome steigt.

Diese bemerkenswerte Beobachtung, dass der Gitterparameter in nanokristallinen Metallen nicht monotonisch von der Korngröße abhängt, lässt sich auf der Basis von zwei entgegengesetzt wirksame Phänomenen, die auf den speziellen Eigenschaften der Grenzflächen zwischen zwei benachbarten Körnern beruhen verstehen [2]: (i) Grenzflächenspannung und (ii) der Überschuss an Freiem Volumen an der Grenzfläche (Korngrenze); siehe dazu die schematische Illustration in Abb. 1b.

Beitrag (i): Die Atome, die im Korninneren dichtest gepackt angeordnet sind, besitzen viele Bindungen zu anderen Atomen und haben eine geringere Energie, als Atome, die sich an der Grenzfläche (d.h. an der Korngrenze) befinden. Diese Atome an der Grenzfläche besitzen nicht die angestrebte Koordination mit umgebenden Atomen (es können z.B. Bindungspartner fehlen). Dies führt zu einer Grenzflächenenergie oder einer Grenzflächenspannung, verbunden mit einem Druck (hydrostatischer Spannung) auf die Körner. Dieser Druck wird umso größer, je stärker der Krümmungsradius der Grenzfläche, und damit die Korngröße, abnimmt. Dadurch rücken die Atome näher und näher aneinander, und das Gitter schrumpft.

Beitrag (ii): Unterhalb einer gewissen Korngröße kommt ein weiterer Effekt der Atome an der Kornoberfläche (der Grenzfläche) zum Tragen. Die Atome an der Grenzfläche von den benachbarten Körnern versuchen eine Zwischenposition zwischen den beiden sich überschneidenden Kristallgittern einzunehmen. Sie rücken deshalb von ihren ursprünglichen Gitterplätzen ab. Dadurch vergrößert sich das von einem Atom eingenommene Volumen an der Grenzfläche gegenüber jenem eines Atoms in einem regulären Gitter [3].

Dieses überschüssige freie Volumen an Korngrenzen in nanokristallinen Metallen, verursacht Spannungsfelder, die den Abstand zwischen den Atomen in den Nanokörnern vergrößern. Dieser Effekt ist für Metalle mit einer mittleren Korngröße oberhalb von 30 Nanometern vernachlässigbar. Bei kleineren Korngrößen nimmt allerdings das überschüssige freie Volumen sehr stark zu [3] und der gitteraufweitende Beitrag beginnt den gitterschrumpfenden Beitrag durch die Grenzflächenspannung zu überwiegen: Wird die Korngröße weiter reduziert, resultiert dies netto in einer Gitteraufweitung.

2. Spannungen in ultradünnen, nanometerdicken Schichten verursacht durch Quanteneffekte

Bauteile, die aus Heterostrukturen von Metallen, Halbleitern und Oxiden bestehen, finden heutzutage großflächig Anwendung im täglichen Leben. Es ist schon lange bekannt, dass sich während des (epitaktischen) Wachstums von einem kristallinen Material(Schicht) auf einem Substrat deutliche Spannungen an der Grenzfläche aufbauen können. Diese Spannungen haben enormen Einfluss auf die Eigenschaften dieser Heterostrukturen. Eine wohl bekannte Ursache von solchen Spannungen ist die Gitterfehlpassung zwischen den beiden Materialien [4]. Diese Ursache ist allerdings keinesfalls die einzige für Spannungen während des Wachstums von ultradünnen, nanometerdicken Schichten.

Es wurde kürzlich unerwartet entdeckt [5], dass die planare Spannung im anfänglichen Stadium des epitaktischen Metalschichtwachstums mit zunehmender Schichtdicke deutlich oszillieren kann. Für diese Entdeckung wurde eine Schichtwachstumsanlage verwendet, womit auf einem Siliziumsubstrat eine einatomar dicke Schicht von Aluminium nach der anderen präzise abgeschieden werden kann, vergleichbar mit dem Bau einer Ziegelmauer.

Durch die Messung der Spannung (in situ während des Schichtwachstums) in einer einzelnen Atomlage, dann in einer Zweifachlage, einer Dreifachlage und so weiter, konnte bestimmt werden, wie sich die Spannung in der Aluminiumschicht mit der Abscheidung von jeder weiteren Atomlage verändert. Dazu wurde gemessen, wie stark sich das Siliziumsubstrat durch die Spannung verformte (verbog) [6]. Es zeigte sich dass die Spannung in der Schicht überraschenderweise während des Wachstums um bis zu 100 Megapascal schwankte (siehe Abb. 2a [5]).

Auch dieses faszinierende Phänomen lässt sich (wieder) durch die Grenzflächen erklären [5]. In ultradünnen Metallschichten sind die Freien Elektronen in einem „Potentialtopf“ zwischen der Vakuum/Metall Grenzfläche auf der einen Seite und der Metall/Substrat Grenzfläche auf der anderen Seite gefangen (so genanntes „Quantum Confinement“). 

Da die Dicke der ultradünnen Schicht (einige wenige Atomlagen dick) vergleichbar mit der Wellenlänge der freien Elektronen ist, wirkt sich dieses "Quantum Confinement" besonders stark aus. Die Elektronen können nur noch deutlich unterschiedliche Energieniveaus einnehmen und die gesamte Elektronenenergie schwankt mit der kontinuierlich steigenden Schichtdicke (siehe die rote Kurve in Abb. 2b) [7]: Sie nimmt zunächst mit steigender Schichtdicke zu, nimmt dann ab, nimmt wieder zu und so weiter. Während des Wachstums strebt die Schicht durch elastische Verformung eine Dicke an, bei der die Elektronenenergie minimal ist. Ist die Schicht ein wenig zu dick, so neigt sie dazu lateral zu expandieren, und ist die Schicht ein wenig zu dünn, so neigt sie dazu, sich lateral zusammenzuziehen, um in den Zustand minimaler Energie zu gelangen. Da die Schicht fest mit dem steifen Substrat verbunden ist, kann eine solche laterale Expansion beziehungsweise Kontraktion nicht erfolgen. Daher entwickelt sich parallel zur Oberfläche eine Druck- beziehungsweise -Zugspannung. Wie in Abb. 2b schematisch gezeigt ist, zieht sich die Schicht bei einer Dicke von fünf Atomlagen zusammen, dehnt sich bei sieben Atomlagen aus und so weiter.

Durch die Kombination der Theorie für freie Elektronen, welche die Elektronenenergie in Abhängigkeit der Schichtdicke beschreibt, und der Elastizitätstheorie konnte ein quantitatives Model für diese Spannungsoszillationen entwickelt werden [5], anhand dessen sich die Spannungsentwicklung (Oszillation) mit zunehmender Schichtdicke exzellent vorhersagen lässt (Abb. 2a).

Die Entdeckung von Spannungsoszillationen durch "Quantum Confinement" kann offensichtlich eine bedeutende Rolle in state-of-the-art quantum devices, die auf ultradünnen Heterostrukturen basieren, spielen. Des Weiteren könnten auf Grundlage dieses Wissens künftig sehr empfindliche Sensoren entwickelt werden.

3. Außerordentliche Mobilität von Atomen an Halbleiter/Metall Grenzflächen bei ultratiefen Temperaturen

Die Mobilität von Atomen in Festkörpern kontrolliert viele wichtige Prozesse wie Interdiffusion, chemische Reaktionen, Phasenumwandlungen, Keimbildung und Wachstum und so weiter. Die Mobilität von Atomen hängt stark von der Temperatur, als auch der Struktur und der (primären) Bindungsart (kovalent, metallisch oder ionisch) des Materials ab [1]. Die Mobilität der Atome kann an der Oberfläche oder an Grenzflächen des Materials, durch die speziellen strukturellen, chemischen und/oder elektronischen Verhältnisse an diesen Stellen, erhöht werden. Ein grundlegendes Verständnis und (lokale) Kontrolle über die Mobilität der Atome sind offensichtlich entscheidend, um die Reaktivität  und Langzeitstabilität von Materialien und ihrer Anwendungen während Herstellung und Gebrauch maßzuschneidern [8].

Während der Präparation von künstlichen „Sandwich“-Schichten, die aus einer sehr dünnen 1 nm dicken Silizium oder Germanium Schicht zwischen zwei Aluminiumschichten bestehen: Al|1 nm Si| Al oder Al|1 nm Ge|Al, und mit Hilfe der Gasphasenabscheidung bei flüssig Stickstofftemperaturen hergestellt wurden, konnte kürzlich eine extreme Zunahme der Mobilität von Si und Ge Atomen an der Halbleiter-(Si,Ge)-Metall (Al) Grenzfläche beobachtet werden [9].

Es wurde beobachtet, dass eine amorphe, ein Nanometer dicke Ge-Schicht (a-Ge) kontinuierlich auf einer epitaktisch wachsenden Al-Schicht bei -190 °C (siehe Abb. 3a) "aufschwamm", was auf eine hohe Mobilität von Ge-Atomen an der Ge-Al-Grenzfläche bei solchen ultratiefen Temperaturen hindeutet [9].

In kompaktem Si oder Ge werden die Atome durch starke zwischenatomare Kräfte zusammengehalten, welche auf sogenannten kovalenten Bindungen zwischen benachbarten Atomen beruhen. Solche Kräfte sind so stark, dass jedes Atom nur geringfügig an seinem Platz vibrieren kann und sich gewiss nicht bei Raumtemperatur oder unterhalb davon von einem Platz zu einem anderen bewegen ("springen") kann. Ist Si oder Ge allerdings nahe einem Metall, so kann die Bindung zwischen den Atomen stark von dem benachbarten Metall beeinflusst werden. In situ röntenphotoelektronspektroskopische Valenzbandmessungen, die auch in dem aktuellen Projekt durchgeführt wurden, zeigten, dass eine modifizierte chemische Bindung von Ge im Kontakt mit einem Metall [d.h. sehr dünne Ge Schichten (nicht dicker als 2 Monolagen) auf reinem Al] auftritt. Die Bindung ändert sich von gerichtet kovalentartig zu ungerichtet metallartig [9].

Aufgrund dieser Änderung in der Bindungsart geht eine sehr hohe Mobilität (vergleichbar mit der in flüssigem Ge) von Ge-Atomen in der Nähe von Al hervor; siehe die schematische Illustration in Abb. 3b. Wird die Ge Schicht dicker, oder wächst Ge auf einem Aluminiumoxid anstatt auf reinem Aluminium, so tritt die kovalente Bindungsart wieder auf, beziehungsweise bleibt erhalten, und die Mobilität der Ge-Atome geht zurück/bleibt bei ihrem „normalen“ Wert (d.h. Ge ist nicht mobil bei Raumtemperatur und darunter). Eine sehr hohe Mobilität der Atome tritt also nur für Ge- (oder Si-)Atome auf, die sich nicht weiter als zwei Atomlagen entfernt von der Halbleiter-Metall-Grenzfläche befinden.

Dieses Phänomen der extrem hohen Mobilität der Atome an Grenzflächen kann noch bedeutsamer werden, wenn man bedenkt, dass Bauteile für Computer, die aus Halbleitern bestehen, immer kleiner werden. Im Moment sind diese schon nur zwischen 10 und 40 nm groß, was dazu führt, dass Vermischungen an den Grenzflächen, aufgrund von einer sehr hohen Mobilität der Atome an der Grenzfläche, immer mehr die Funktionen der Bauteile beeinflussen. Außerdem hat der entdeckte Prozess einen großen Einfluss auf die Herstellung von Dünnschichtsystemen aus hitzeempfindlichen Materialien, da die Halbleiteratome mobil werden können, was kontrollierbare Reaktionen/Phasenumwandlungen selbst bei sehr niedrigen Temperaturen erlaubt.

Zusammenfassung

Eine Reihe von zuvor unbekannten Phänomenen in Nanomaterialien wurden in den letzten Jahren in unserer Abteilung enthüllt. Dieses überraschende Materialverhalten zeigt eindeutig, dass grundsätzlich Grenzflächen die faszinierenden Eigenschaften und folglich auch das Verhalten von Nanomaterialien kontrollieren. Das gewonnene Verständnis kann neue, hochentwickelte Anwendungen von Nanomaterialien in Spitzentechnologien hervorbringen.

Literaturhinweise

Mittemeijer, E. J.
Fundamentals of Materials Science
Springer, Berlin Heidelberg (2010)
Rane, G. K.; Welzel, U.; Meka, S. R.; Mittemeijer, E. J.
Non-monotonic lattice parameter variation with crystallite size in nanocrystalline solids.
Acta Materialia 61, 4524-4533 (2013)

 

Kuru, Y.; Wohlschlögel, M.; Welzel, U.; Mittemeijer, E. J.
Large excess volume in grain boundaries of stressed, nanocrystalline metallic thin films: Its effect on grain-growth kinetics
Applied Physics Letters 95, 163112 (2009)

 

Frank, F. C.; van der Merwe, J. H.

One-Dimensional Dislocations. II. Misfitting Monolayers and Oriented Overgrowth
Proceedings of the Royal Society of London A: Mathematical, Physical and Engineering Sciences 198, 216-225 (1949)

 

Flötotto, D.; Wang, Z.; Jeurgens, L. P. H.; Mittemeijer, E. J.

Quantum Confinement Drives Macroscopic Stress Oscillations at the Initial Stage of Thin Film Growth
Physical Review Letters 109, 045501 (2012)

 

Flötotto, D.; Wang, Z.; Jeurgens, L. P. H.; Bischoff, E.; Mittemeijer, E. J.
Effect of adatom surface diffusivity on microstructure and intrinsic stress evolutions during Ag film growth
Journal of Applied Physics 112, 043503 (2012)

 

Han, Y.; Liu, D.-J.
Quantum size effects in metal nanofilms: Comparison of an electron-gas model and density functional theory calculations
Physical Review B 80, 155404 (2009)

 

Wang, Z.; Jeurgens, L. P. H.; Mittemeijer, E. J.
Metal-Induced Crystallization: Fundamentals and Applications

Singapore, Pan Stanford  (2015)

 

Wang, Z.; Jeurgens, L. P. H.; Sigle, W.; Mittemeijer, E. J.

Observation and Origin of Extraordinary Atomic Mobility at Metal-Semiconductor Interfaces at Low Temperatures

Physical Review Letters 115, 016102 (2015)

 

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