Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Plasmaphysik

Strukturerhaltende Numerik in der Plasmaphysik

Autoren
Kraus, Michael
Abteilungen
Numerische Methoden in der Plasmaphysik
Zusammenfassung
Zahlreiche Eigenschaften eines Plasmas, die experimentell nicht oder nicht im Detail zugänglich sind, können nur in Computersimulationen systematisch untersucht werden. Viele Codes nutzen aber numerische Methoden, die wichtige Eigenschaften der mathematischen Gleichungen nur unzureichend berücksichtigen. Die Folge ist, dass wichtige Phänomene in Simulationen nicht reproduziert werden können. Abhilfe könnten sogenannte strukturerhaltende Integrationsmethoden schaffen. Sie kombinieren Ideen aus Numerik, Physik und Geometrie und ermöglichen realistischere Simulationen als klassische Verfahren.

Numerische Simulationen haben sich in der Wissenschaft zur dritten Säule der Erkenntnis entwickelt – neben Theorie und Experiment. Eine Simulation ist eine computerbasierte Emulation eines physikalischen Prozesses auf Basis eines mathematischen Models. Für viele Jahre mussten sich die numerische Mathematik und die Informatik darauf beschränken, Computermodelle zu entwickeln, die die Wirklichkeit nur einigermaßen genau abbilden. Die Algorithmen basierten auf einer Diskretisierung der mathematischen Gleichungen, bei denen der lokale Fehler der numerischen Lösung, d. h. der Unterschied zwischen der numerischen Lösung und der exakten Lösung während eines Lösungsschrittes, minimiert wird. Doch auch wenn dieser Fehler pro Lösungsschritt sehr klein ist, summieren sich die Fehler der einzelnen Lösungsschritte über die Zeit auf, sodass das Endergebnis erheblich von der exakten Lösung abweichen kann.

Simulationen in der Plasmaphysik und strukturerhaltende Numerik

In den letzten Jahren hat daher die Entwicklung sogenannter strukturerhaltender bzw. geometrischer numerischer Integrationsmethoden [1] großes Interesse erweckt. Die Kombination von Ideen des wissenschaftlichen Rechnens, der mathematischen Physik sowie der angewandten Mathematik, insbesondere der Geometrie, eröffnet neue Perspektiven in der Numerik, die zu neuen Methoden und Algorithmen führen. Diese erhalten wichtige Strukturen und Eigenschaften der mathematischen Gleichungen, beispielsweise Impuls- und Energieerhaltung oder Symmetrien, was von großer Bedeutung ist, wenn man die Gleichungen in eine für Computer verständliche Form bringt. Es hat sich gezeigt, dass die Erhaltung solcher Eigenschaften zu Simulationsergebnissen führt, die besser mit der physikalischen Realität übereinstimmen und für längere Simulationszeiten geringere Fehler aufweisen als Ergebnisse, die mit klassischen Verfahren erzielt werden.

In der Plasma- und Fusionsphysik ist dies besonders wichtig, um verlässlich korrekte Simulationsergebnisse zu erhalten, da sowohl die zu lösenden Gleichungen als auch die zu simulierenden Experimente hochgradig komplex sind. Man kann sich die Gleichungssysteme, die in der Plasmaphysik gelöst werden müssen, als Kopplung der Gleichungen der Fluiddynamik mit den Gleichungen der Elektrodynamik vorstellen. In den resultierenden Systemen findet man daher sowohl sämtliche Phänomene, die Fluiden gemein sind, als auch sämtliche Phänomene, die in elektrisch leitenden Medien anzutreffen sind, sowie eine Vielzahl neuer Phänomene, die durch die Interaktion der Untersysteme entstehen und spezifisch für Plasmen sind. Man kann sich die Schwierigkeit zuverlässiger Simulationen der Plasmaphysik ausmalen, wenn man weiß, dass die Probleme der Fluiddynamik für sich alleine bereits als höchst anspruchsvoll gelten.

Überdies stellt sich das Problem der Validierung von numerischen Codes, also der Vergleich von Simulation und Experiment, oft als sehr schwierig dar, da wichtige physikalische Größen nicht oder nur indirekt gemessen werden können. Strukturerhaltende Verfahren senken die Wahrscheinlichkeit für fehlerhafte Simulationen, da sie garantieren, dass die numerische Lösung wichtige Eigenschaften mit der exakten Lösung teilt.

Obwohl die computerbasierte Plasmaphysik in der Vergangenheit große Erfolge gefeiert hat [2, 3], vermag sie nicht, wichtige Phänomene im Plasma zu erklären. Das prominenteste Beispiel ist wohl die sogenannte H-Mode (High Confinement Mode), eine selbstorganisierende Transportbarriere im Plasma, bei deren Auftreten der Teilchen- und Energieeinschluss dramatisch verbessert wird. Sie wurde vor über 30 Jahren am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) in Garching entdeckt, kann heute in nahezu allen Fusionsexperimenten erzeugt werden und ist für den Betrieb eines Fusionsreaktors von großer Bedeutung. Ein vollständiges theoretisches Verständnis fehlt allerdings noch.

Man weiß jedoch, dass das Entstehen der H-Mode eng mit turbulenten Prozessen im Plasma verbunden ist [2]. Das Wesen der Turbulenz ist der Transport von Energie und Impuls von großen Skalen zu kleinen Skalen. Es erscheint also von größter Bedeutung, die diesen Prozessen zugrunde liegenden Erhaltungsgesetze, Energie- und Impulserhaltung, in numerischen Verfahren exakt einzuhalten. In den derzeit eingesetzten Verfahren ist dies jedoch bestenfalls näherungsweise der Fall.

Zur Veranschaulichung zeigt Abbildung 1 die Simulation eines geladenen Teilchens im internationalen Fusionstestreaktor ITER, das sich auf einer geschlossenen Bahn bewegt. Die linke Seite zeigt die Lösung mit einem Standardverfahren, wie es in wichtigen Fusionscodes wie NEMORB [4] zum Einsatz kommt. Die rechte Seite zeigt die Lösung mit einem neuartigen strukturerhaltenden Verfahren. Zur einfacheren Darstellung sind die Teilchenbahnen auf eine poloidale Ebene projiziert, also einen senkrechten Schnitt durch das Plasma. Gezeigt ist das Simulationsergebnis nach einer Million Zeitschritten, was mehreren zehntausend Umläufen entspricht. Es zeigt sich, dass die Teilchenbahn bei der Benutzung strukturerhaltender Verfahren für die komplette Simulation stabil bleibt, während sich der Radius der Bahn bei der Benutzung von Standardverfahren im Laufe der Zeit immer weiter verkleinert. Dies liegt daran, dass das Standardverfahren die Erhaltung wichtiger Größen wie Energie und Impuls verletzt, während das strukturerhaltende Verfahren diese respektiert.

Die Annahme liegt nahe, dass ein wesentlicher Grund für das Versagen aktueller Fusionscodes bei der Beschreibung von Phänomenen wie der H-Mode solche Defizite der in diesen Codes verwendeten Numerik sind. Gleichzeitig ist die derzeitige Vorherrschaft klassischer numerischer Verfahren in der Fusionsphysik mehr als verständlich. Obschon die meisten Systeme der Plasmaphysik reichhaltige Strukturen aufweisen, die es in Simulationen zu erhalten gilt, sind diese Strukturen oft so kompliziert, dass Standardverfahren der strukturerhaltenden Numerik höchst selten anwendbar sind. Stattdessen müssen komplett neue Ansätze verfolgt und neuartige Verfahren entwickelt werden. Ein solcher Ansatz soll im Folgenden kurz diskutiert werden.

Variationsintegratoren

Variationsintegratoren [5, 6] sind eine Familie strukturerhaltender numerischer Verfahren, bei denen im Gegensatz zu klassischen Verfahren nicht die mathematischen Gleichungen direkt diskretisiert werden, sondern stattdessen grundlegende Prinzipien der klassischen Mechanik und Feldtheorie. Die diskreten Gleichungen folgen dann aus der Anwendung dieser diskretisierten Prinzipien auf das jeweilige Problem.

Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass die resultierenden Integratoren automatisch wichtige Größen wie Impuls, Drehimpuls und toroidalen Impuls erhalten. Die Erhaltung des toroidalen Impulses ist für Simulationen von Fusionsexperimenten von besonderer Bedeutung [3], in klassischen Verfahren aber höchst selten gewährleistet. Überdies zeigen Variationsintegratoren eine herausragende Langzeitstabilität mit guter Energieerhaltung.

Das Anwendungsgebiet von Variationsintegratoren umfasst viele wichtige Systeme der Physik. Aus dem Bereich der Plasmaphysik gehörten bis vor Kurzem jedoch nur Teilchenbeschreibungen dazu [7, 8]. Kontinuumsbeschreibungen in Form sogenannter Advektionsgleichungen, wie sie typisch für die Plasmaphysik und Fluiddynamik sind, waren diesem Diskretisierungsansatz lange Zeit nicht zugänglich.

Es gelang jedoch Wissenschaftlern am IPP, die Theorie der Variationsintegratoren dahingehend zu erweitern, dass sie nun auf die meisten physikalisch relevanten Gleichungssysteme angewandt werden kann, einschließlich der besagten Advektionsgleichungen [9, 10]. Bei der Anwendung auf wichtige Modelle der Plasmaphysik wie das Vlasov-Poisson-System und die Magnetohydrodynamik hat sich gezeigt, dass die so hergeleiteten numerischen Verfahren herausragende Eigenschaften bezüglich der Erhaltung von Energie, Impuls sowie anderer wichtiger Größen aufweisen (Abb. 2 und Abb. 3).

Literaturhinweise

Hairer, E.; Lubich, C.; Wanner, G.
Geometric Numerical Integration
Springer (2006)
Jenko, F.; Scott, B.
Turbulenzforschung
Max-Planck-Gesellschaft, Jahrbuch 2000, S. 679–683
Angioni, C.
Turbulenter Transport in Tokamakplasmen
Max-Planck-Gesellschaft, Jahrbuch 2013
Bottino, A.; Scott, B.; Brunner, S.; McMillan, B. F.; Tran, T. M.; Vernay, T.; Villard, L.; Jolliet, S.; Hatzky, R.; Peeters, A. G.
Global Nonlinear Electromagnetic Simulations of Tokamak Turbulence
IEEE Transactions on Plasma Science 38, 2129–2135 (2010)
Marsden, J. E.; Patrick, G. W.; Shkoller, S.
Multisymplectic Geometry, Variational Integrators, and Nonlinear PDEs
Communications in Mathematical Physics 199, 351–395 (1998)
Marsden, J. E.; West, M.
Discrete Mechanics and Variational Integrators
Acta Numerica 10, 357–514 (2001)
Qin, H.; Guan, X.; Tang, W. M.
Variational Symplectic Algorithm for Guiding Center Dynamics and its Application in Tokamak Geometry
Physics of Plasmas 16, 042510 (2009)
Squire, J.; Qin, H.; Tang, W. M.
Geometric Integration of the Vlasov-Maxwell System with a Variational Particle-in-Cell Scheme
Physics of Plasmas 19, 084501 (2012)
Kraus, M.
Variational Integrators in Plasma Physics
Dissertation, Technische Universität München, arXiv:1307.5665 (2013)
Kraus, M.; Maj, O.
Variational Integrators for Nonvariational Partial Differential Equations
Physica D 310, 37–71 (2015)
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