Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Eine Langzeitperspektive auf die Entwicklung sozialer Unterschiede bei der Lebenserwartung

Autoren
Willführ, Kai P.; van Hedel, Karen; Myrskylä, Mikko
Abteilungen
Arbeitsbereich Bevölkerung und Gesundheit, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, Rostock
Zusammenfassung
In nahezu allen Wohlfahrtsstaaten sind erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Sozialschichten zu erkennen. Zwar steigt die Lebenserwartung insgesamt, ausgeprägter jedoch ist der Anstieg bei den höheren Schichten. Neben schlechteren Lebens- und Arbeitsbedingungen scheinen vor allem die Ess-, Trink- und Rauchgewohnheiten eine wichtige Rolle zu spielen. Die Analyse historischer Daten lässt den Schluss zu, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich erst im 18. oder 19. Jahrhundert auftraten.

Reiche leben länger – aber warum eigentlich?

In nahezu allen Wohlfahrtsstaaten gibt es erhebliche Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Sozialschichten. Dies gilt nicht nur für die mittlere Lebenserwartung bei Geburt, sondern auch für die mittlere fernere Lebenserwartung, das ist die noch zu erwartende Lebenszeit ab einem gewissen Alter in höheren Altersgruppen [1]. In Finnland beispielsweise betrug 2003 bis 2007 der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel 11,4 Jahre für Männer und 6,3 Jahre für Frauen [2]. Es scheint fast so, als würde Geld Menschen ein längeres Leben ermöglichen. Materielle Wohlstandsunterschiede können diesen Befund aber nicht vollständig erklären [3]. Auch ein unterschiedliches Risikoverhalten gerade im Hinblick auf die Ess-, Trink- und Rauchgewohnheiten spielt für die ungleich verteilte Lebenserwartung der verschiedenen Sozialschichten eine wesentliche Rolle. So hat man etwa erkannt, dass die höhere Anzahl an Rauchern in den unteren Bevölkerungsschichten einen großen Teil des Sterblichkeitsunterschieds erklärt [4]. Allerdings weiß man noch nicht genau, wie diese Einflussfaktoren zusammenspielen. So bleibt auch die Frage offen, warum in den unteren Sozialschichten ein höherer Tabakkonsum zu verzeichnen ist.

Um komplexe Gesellschaftsphänomene zu verstehen, ist es oft sehr hilfreich, ihre geschichtliche Entwicklung zu erforschen. Die Leitfragen derartiger Langzeituntersuchungen sind, ob es die Sterblichkeitsunterschiede zwischen den Sozialschichten immer schon gab, und wenn dies der Fall ist, wie ausgeprägt diese in den vergangenen Epochen waren. Daher sind historische Daten, die eine Verknüpfung von Sterblichkeit und sozioökonomischer Situation zulassen, sehr wichtig. Forschungsprojekte am Max-Planck-Institut für demografische Forschung untersuchen sowohl die historische Entwicklung als auch den Umfang und die Einflussfaktoren der heutigen sozialen Ungleichheit bei der Lebenserwartung.

Keine sozialen Sterblichkeitsunterschiede im 18. Jahrhundert

Eine aktuelle Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung [5] bestätigt, was andere Studien bereits für andere europäische Regionen nachgewiesen haben [6]: Reiche lebten in der Vergangenheit nicht länger als Arme. Die Lebenserwartung war mit durchschnittlich 40 Jahren deutlich geringer als heute, aber sie war für alle Sozialschichten gleich. Die Studie wurde anhand der historischen Bevölkerung der Krummhörn in Ostfriesland (1720 bis 1874) durchgeführt, die bereits seit Langem im Fokus der Forschung steht und Grundlage vieler wissenschaftlicher Veröffentlichungen ist [7]. Die Datenbank erlaubt es, Informationen aus verschiedenen Quellen zu verknüpfen, sodass zum Beispiel der Einfluss der sozialen Stellung sowie der Lebensmittelpreise und deren Entwicklung auf die individuellen Lebensverläufe (vornehmlich Sterblichkeit und Fortpflanzungsverhalten) untersucht werden kann.

Es zeigt sich, dass in der vorindustriellen Zeit offensichtlich alle Sozialschichten dem gleichen Sterblichkeitsregime ausgesetzt waren. Hierfür dürften zwei Hauptgründe verantwortlich gewesen sein. Erstens war die Mortalität bis zur Verbreitung wirksamer Hygienemaßnahmen im 19. Jahrhundert bei Jung und Alt vor allem durch Infektionskrankheiten bestimmt. Auch ein materiell besserer Lebensstil führte nicht zwangsläufig zu einem geringeren Sterberisiko, solange es hohe Infektionsrisiken in der Lebensumwelt gab. Zweitens änderten sich die sozialen Beziehungen der Sozialschichten im 19. Jahrhundert grundlegend. Dies trifft besonders auf den ländlichen Raum zu.

Im 18. Jahrhundert waren sogenannte Tischgemeinschaften, bei denen der Großbauer oder Landbesitzer mit seinen Arbeitern am gleichen Tisch saß und aus dem gleichen Topf aß, weit verbreitet. Es ist anzunehmen, dass der Großbauer oder Landbesitzer für seine Arbeiter soziale Verantwortung übernahm und sie auch in Krisen- und Notzeiten unterstützte. Dies erklärt auch, weshalb im 18. Jahrhundert hohe Lebensmittelpreise die Sterblichkeit und Fruchtbarkeit selbst der landlosen Arbeiter praktisch nicht beeinflussten [8]. Diese soziale Beziehung änderte sich grundlegend mit der voranschreitenden Industrialisierung, in der die Tischgemeinschaften einem kapitalistisch geprägten Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis wichen.

Erst ab dem 19. Jahrhundert lässt sich für die ostfriesische Bevölkerung nachweisen, dass Lebensmittelpreise Sterblichkeit und Fruchtbarkeit beeinflussten. Auch wenn diese und andere Studien keine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben können, welchen Einfluss der Wohlstand heute auf die Lebenserwartung hat, so lehrt die historische Betrachtung, dass die gesellschaftlichen Umstände sich entscheidend darauf auswirken können, wie finanzielle Vorteile zu Vorteilen bei der Lebenserwartung führen.

Soziale Sterblichkeitsunterschiede heute

Im Allgemeinen kann man sagen, dass sich die Lebenserwartung im westlichen Europa für alle Sozialschichten in der letzten Zeit verbessert hat. Jedoch ist sie nicht in allen Schichten gleich stark angestiegen. Sozial und finanziell bessergestellte Schichten profitieren deutlich mehr von gesellschaftlichen und medizinischen Verbesserungen, daher wächst die Kluft zwischen Arm und Reich [9]. Dafür ist größtenteils ein unterschiedliches Risikoverhalten in Bezug auf Ernährung, physische Aktivität und Genussmittelkonsum verantwortlich. Außerdem tragen weitere, verhaltensunabhängige Faktoren wesentlich zu dieser Kluft bei. Schlechtere Arbeitsbedingungen, höhere Schadstoffbelastung am Arbeitsplatz und nicht zuletzt psychosozialer Stress beeinflussen ebenfalls die beschriebenen Sterblichkeitsdifferenzen. Hinzu kommt, dass selbst in vielen Wohlfahrtsstaaten ärmere Menschen einen schlechteren Zugang zu medizinischen Spezialisten haben [10].

Ausblick

Das Wissen darüber, wie diese Einflussfaktoren zusammenwirken, ist immer noch unzureichend. Wichtig ist, zu erforschen, inwieweit sich die Einflussfaktoren gegenseitig verstärken oder abschwächen. Außerdem gilt es zu berücksichtigen – und dieser Aspekt kommt erschwerend hinzu –, dass zu Beginn des Lebens bestehende Unterschiede im Gesundheitszustand die spätere soziale Stellung eines Menschen beeinflussen können. Gesündere Individuen haben oft die besseren Karrierechancen und weisen deshalb auch einen höheren Lebensstandard auf. Ein gewisser Teil der ungleich verteilten Lebenserwartung geht demnach nicht nur ursächlich auf bessere Lebensbedingungen zurück, sondern die besseren Lebensbedingungen und höhere Lebenserwartung können auch das Resultat einer besseren Gesundheit sein. Nur wenn es gelingt, das Zusammenspiel der Einflussfaktoren zu verstehen und die Ursachen zu identifizieren, werden sich wirksame Maßnahmen gegen die ungleich verteilte Lebenserwartung einleiten lassen.

Literaturhinweise

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