Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften

Sprachentwicklung im Gehirn – ein langer Weg bis zur vollen Blüte

Autoren
Skeide, Michael A.; Friederici, Angela D.
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig
Abteilung Neuropsychologie
Zusammenfassung
Der zeitliche Ablauf der menschlichen Sprachentwicklung ist paradox. Manche Meilensteine werden in rasender Geschwindigkeit erreicht. So können Embryos bereits im Mutterleib Vokale voneinander unterscheiden [1]. Andere Meilensteine hingegen, wie das Verstehen grammatisch komplexer Sätze, liegen selbst für Grundschulkinder noch in weiter Ferne. Woran liegt das? Aktuelle neurobiologische Erkenntnisse belegen, dass ein Netzwerk im Gehirn, das an der Verarbeitung grammatischer Information beteiligt ist, bis ins Erwachsenenalter hinein reifen muss, um voll funktionsfähig zu sein.

Einführung

Im Gegensatz zu Erwachsenen, die sich eine neue Fremdsprache meist nur mühsam aneignen, erlernen Kinder ihre Muttersprache in der Regel leicht und spielerisch. Im Alter von drei Jahren verfügen sie schon über ein umfangreiches Vokabular, das sie grammatischen Regeln gemäß zu einfachen Sätzen verknüpfen. „Der Fuchs jagt den Igel“ ist so ein einfacher Satz, den dreijährige Kinder verstehen. Möchte man dem Kind nun etwa beim Anschauen eines Bilderbuches verdeutlichen, dass es der Igel und nicht etwa der Vogel ist, den der Fuchs jagt, muss der Satz nicht nur anders betont, sondern auch syntaktisch umgestellt werden. Wählt man dabei die Form „Den Igel jagt der Fuchs“, kommt es schnell zu Missverständnissen. Junge Sprecher verlassen sich nämlich unbewusst auf die Annahme, dass das Subjekt im Satz vor dem Objekt steht. Andererseits registrieren sie ebenso unbewusst, dass der Artikel „den“ eigentlich nicht zum Subjekt, sondern zum Objekt gehört [2, 3]. Diese Diskrepanz verwirrt sie. Das Gehirn erwachsener Sprecher hingegen ist in der Lage, die veränderte Reihenfolge der Satzbausteine in Sekundenbruchteilen zu erfassen [4].

Sensitivität für komplexe grammatische Information reift langsam

Warum kann das erwachsene Gehirn veränderte Wortstellungen in komplexen Sätzen problemlos neu berechnen, während das Gehirn des Kindes mit dieser Aufgabe noch überfordert ist? Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sind dieser Frage im Rahmen einer groß angelegten Studie nachgegangen, an der insgesamt 60 Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren und 20 junge Erwachsene teilgenommen haben [5]. Im Magnetresonanztomographen (MRT) wurden dabei Nervenzellaktivierungsmuster aufgezeichnet, während die Studienteilnehmerinnen und - teilnehmer einfache Subjekt-vor-Objekt-Sätze und komplexe Objekt-vor-Subjekt-Sätze über Kopfhörer hörten. Ob sie die Sätze richtig verstanden hatten, mussten sie unter Beweis stellen, indem sie über einen Knopfdruck ein Bild auswählten, das den jeweils beschriebenen Sachverhalt korrekt darstellte.

Die Erwachsenen zeigten deutlich stärkere Aktivierungen bei der Verarbeitung komplexer Sätze als bei der Verarbeitung einfacher Sätze im Broca-Areal und im Gyrus temporalis superior, zwei Bereichen des Gehirns (Abb. 1A, 1B). Ein vergleichbarer Aktivierungsunterschied im Gyrus temporalis superior war auch bei den ältesten teilnehmenden Kindern (9 bis 10 Jahre) bereits ausgeprägt, nicht jedoch bei den jüngeren Kindern (Abb. 1A, 1B). Der Effekt grammatischer Komplexität im Broca-Areal konnte allerdings ausschließlich im erwachsenen Gehirn beobachtet werden. Diese Befunde spiegeln sich in der Beobachtung wider, dass die Kinder im Alter von 3 bis 4 und 6 bis 7 Jahren komplexe Sätze noch sehr viel häufiger missverstanden als einfache Sätze. Dieses Defizit war im Alter von 9 bis 10 Jahren verschwunden, vermutlich weil entsprechende Verarbeitungsressourcen im Gyrus temporalis superior inzwischen genutzt werden konnten. Verglichen mit den Erwachsenen unterliefen den 9- bis 10-jährigen Kindern jedoch noch immer deutlich mehr Satzverständnisfehler. Maximal effektives Verarbeiten grammatisch komplexer Sätze scheint also erst möglich, sobald das Broca-Areal spezifisch auf solche Informationen reagiert.

Die Entwicklung grammatischer Verarbeitungsfähigkeiten zeigt sich jedoch nicht nur in der zunehmenden funktionalen Spezialisierung des Broca-Areals. Auch das strukturelle Wachstum dieser Hirnregion scheint mit der Fähigkeit zusammenzuhängen, grammatisch komplexe Sätze mit fortschreitender Hirnreifung besser zu verstehen. Das legt eine kürzlich ebenfalls am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig durchgeführte Studie nahe, an der 59 Kinder im Alter von 5 bis 8 Jahren teilgenommen haben. In dieser Studie wurde beobachtet, dass die Kinder komplexe Sätze umso besser verstehen konnten, je mehr Nervenzellgewebe jeweils in ihrem Broca-Areal vorhanden war [6].

In einem weiteren Experiment mit 46 Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren und 19 jungen Erwachsenen wurde die weiße Substanz des Gehirns hochauflösend rekonstruiert [5]. In der weißen Substanz befinden sich Nervenfasern, die die Nervenzellen miteinander verbinden und somit den Informationsaustausch zwischen ihnen ermöglichen. Das Hauptaugenmerk des Experiments galt dem Fasciculus arcuatus. Der Fasciculus arcuatus ist ein Nervenfaserbündel, das die bereits beschriebenen Regionen miteinander verbindet, die an der Verarbeitung von Grammatik beteiligt sind (Abb. 2A). Mithilfe eines speziellen Bildgebungsverfahrens wurde nun für die einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bestimmt, wie stark die Nervenfasern des Fasciculus arcuatus mit einer Myelinschicht ummantelt waren. Myelin ist eine Substanz, die die gleiche isolierende Wirkung wie Kunststoff hat, der den Kupferdraht eines Stromkabels abschirmt. Je mehr Myelin die Nervenfaser umgibt, desto verlustärmer ist die elektrische Übertragung und desto schneller können Nervenzellen Informationen austauschen. In Abbildung 2B sieht man, dass die Myelinschicht des Fasciculus arcuatus im Kindesalter noch nicht ausgereift ist und bis ins Erwachsenenalter hinein wächst. Darüber hinaus konnte erstmals gezeigt werden, dass der Grad der Myelinisierung des Fasciculus arcuatus systematisch mit der Fähigkeit zusammenhängt, grammatisch komplexe Sätze zu verarbeiten. Je stärker der Fasciculus arcuatus der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer myelinisiert war, desto weniger Fehler machten sie und desto weniger Zeit benötigten sie in dem oben beschriebenen Satzverständnistest (Abb. 2C).

Wie konzeptuelles Wissen Kindern hilft, schwierige Sätze zu verstehen

Sind Kinder überhaupt in der Lage, die Bedeutung eines grammatisch komplexen Satzes zu entschlüsseln, auch wenn sie sich nicht darauf verlassen können, dass das Subjekt vor dem Objekt steht? Immer mehr Befunde sprechen dafür, dass selbst dreijährige Kinder diese Fähigkeit haben. Junge Sprecher nutzen dafür wahrscheinlich ihr bereits erworbenes konzeptuelles Wissen über die Welt. In einem Experiment hat man sich zunutze gemacht, dass Kinder sehr früh einfache Handlungen dahingehend beurteilen können, ob sie plausibel sind oder nicht. So wissen Dreijährige bereits, dass ein Bär einen Igel tragen kann, der Igel dagegen viel zu klein ist, um einen Bären zu tragen. Hörten die Kinder nun einen Satz mit veränderter Wortstellung, der zwar grammatisch komplex, aber semantisch plausibel war, musste ihr Gyrus temporalis superior weniger Ressourcen zur Verarbeitung bereitstellen, als wenn der Satz semantisch nicht plausibel war. Dieser Effekt zeigte sich im MRT bei 20 Kindern im Alter von 3 bis 4 Jahren und auch bei 20 Kindern im Alter von 6 bis 7 Jahren. Bei einem plausiblen Satz wie „Wo ist der kleine Igel, den der große Bär trägt?“ benötigten die Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer deutlich weniger Zeit für die korrekte Interpretation im Vergleich zu einem unplausiblen Satz wie „Wo ist der große Bär, den der kleine Igel trägt?“ [7].

Fazit

Die hier vorgestellten Studien verdeutlichen, dass die menschliche Sprachentwicklung eng mit neurobiologischen Entwicklungsverläufen zusammenhängt. Die Befunde untermauern die Vorstellung, dass Sprachfähigkeiten in Hirnreifungsphasen erworben werden, die zu einem gewissen Grad biologisch getaktet sind [8].

Literaturhinweise

Mahmoudzadeh, M.; Dehaene-Lambertz, G.; Fournier, M.; Kongolo, G.; Goudjil, S; Dubois, J.; Grebe, R.; Wallois, F.

Syllabic discrimination in premature human infants prior to complete formation of cortical layers

Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 110, 4846–4851 (2013)

Schipke, C. S.; Friederici, A. D.; Oberecker, R.

Brain responses to case-marking violations in German preschool children

Neuroreport 22, 850–854 (2011)

Schipke, C. S.; Knoll, L. J.; Friederici, A. D.; Oberecker, R.

Preschool children's interpretation of object-initial sentences: neural correlates of their behavioral performance

Developmental Science 15, 762–774 (2012)

Friederici, A. D.

The cortical language circuit: from auditory perception to sentence comprehension

Trends in Cognitive Sciences 16, 262–268 (2012)

Skeide, M. A.; Brauer, J.; Friederici, A. D.

Brain functional and structural predictors of language performance

Cerebral Cortex 26 (5), 2127–2139 (2016) (ePub ahead of print)

Fengler, A.; Meyer, L.; Friederici, A. D.

Brain structural correlates of complex sentence comprehension in children

Developmental Cognitive Neuroscience 15, 48–57 (2015)

Skeide, M. A.; Brauer, J.; Friederici, A. D.

Syntax gradually segregates from semantics in the developing brain

NeuroImage 100, 106–111 (2014)

Peña, M.; Werker, J. F.; Dehaene-Lambertz, G.

Earlier speech exposure does not accelerate speech acquisition

The Journal of Neuroscience 32, 11159–11163 (2012)

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