Genvariante fördert unkontrollierte Zellteilung

Eine häufig auftretende Mutation legt eine Bindungsstelle an einem Rezeptor für Wachstumsfaktoren frei und beschleunigt so das Tumorwachstum

16. Dezember 2015

Die Augen von der Mutter und der Tumor vom Vater? Krebs beruht auf genetischen Defekten, von denen manche vererbt werden können. Die Genvariante rs351855 etwa findet sich bei jedem zweiten Krebspatienten. Sie fördert das Wachstum von vielen verschiedenen Tumoren, die aggressiv und schlecht therapierbar sind. Ein Team um Axel Ullrich vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried konnte die Genvariante vor gut zehn Jahren identifizieren. Demselben Labor gelang nun erstmals der Nachweis, dass der Defekt eine sonst verborgene Bindestelle am FGFR4-Rezeptor freilegt. In bislang unbekannter Interaktion dockt dort der Wachstumsfaktor STAT3 an, was bei Krebspatienten die Erkrankung beschleunigt. Die STAT3-Signalkaskade lässt sich effizient blockieren. Ein Ansatz, der vielen Krebspatienten erstmals einen Erfolg versprechenden Therapieansatz bieten könnte - als wichtiger Schritt hin zur personalisierten Medizin.

Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch: Zu 99,9 Prozent sind wir alle genetisch identisch. Das verbleibende 0,1 Prozent aber sorgt für die individuellen Eigenheiten eines jeden Einzelnen, ob er etwa groß oder eher kurzgewachsen, allergisch oder anfällig für Autoimmunerkrankungen ist. In diesen rund drei Millionen unserer insgesamt 3,2 Milliarden genetischen Bausteine kann auch die Antwort auf die Frage verborgen liegen, ob wir im Laufe unseres Lebens an Krebs erkranken werden.

Krebs ist eine genetische Erkrankung, beruht also auf Defekten im Erbmaterial, der DNA. Diese schädlichen Mutationen können im Lauf des Lebens erworben werden, durch intensive Sonnenstrahlung auf exponierte Hautzellen beispielsweise oder Toxine aus dem Zigarettenrauch in der Lunge. Manche Defekte aber werden als vererbbare genetische Varianten an die Nachkommen weitergegeben, die sie dann in jeder Zelle ihres Körpers tragen.

Eine solche mit Krebs assoziierte Keimbahn-Mutation trägt den Namen rs351855. Sie wurde vor gut einem Jahrzehnt von einem Team um Axel Ullrich, Leiter der Forschungsgruppe „Molekularbiologie", bei Patientinnen mit Brustkrebs entdeckt. Diese spezielle genetische Variante kann auch zum Wachstum von bösartigen Tumoren in Knochen, Dickdarm, Prostata, Haut, Lunge, Kopf und Hals beitragen wie auch zum Wachstum von Weichteilsarkomen und zum Nicht-Hodgkin-Lymphom.

Etwa die Hälfte aller Krebspatienten trägt diese Genvariante in sich. Verbunden damit ist eine schlechte Prognose: Die Keimbahn-Mutation rs351855 fördert aggressive und schnell wachsende Tumore, die schlecht auf Behandlungen ansprechen. Eine effiziente Therapie müsste maßgeschneidert sein, passend zur Mutation und ihren biologischen Auswirkungen.

Nachfolgende Studien zeigten, dass rs351855 zum Austausch eines einzelnen Proteinbausteins in einem Rezeptor für Wachstumsfaktoren führt. Der „Fibroblast Growth Factor Receptor 4" (FGFR4) liegt dann in der FGFR4 p.Arg388-Variante vor. Weltweit wollten Wissenschaftler entschlüsseln, warum nur diese eine von mittlerweile mehr als 400 bekannten Genvarianten des Moleküls so verheerende Auswirkungen haben kann. Zudem ist die Mutation sehr häufig: Rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung trägt sie in sich, ohne deshalb zwangsläufig an Krebs zu erkranken.

Ullrich und seinen Mitarbeitern gelang nun erstmals der Nachweis, dass der Defekt eine neuartige biologische Funktion in lebenden Zellen bewirkt. Im Tiermodell zeigte sich, dass dabei nahe der Innenseite der Zellmembran eine Bindestelle am Rezeptormolekül freigelegt wird, die normalerweise verborgen ist. Dort dockt der Wachstumsfaktor STAT3 an, der die Zellteilung und das Tumorwachstum fördert.

Zellen wuchern normalerweise nicht außer Kontrolle, weil sie sich nur auf ein entsprechendes Signal hin teilen, das sie von außen erhalten. Diese molekulare Botschaft wird von Rezeptoren wie FGFR4 aufgegriffen und durch die Zellmembran ins Zellinnere weitergeleitet. So wird unter anderem über Moleküle wie STAT3 eine Kaskade molekularer Interaktionen in Gang gesetzt, die in den Zellkern führt. Dort werden Gene aktiviert, die den eigentlichen Prozess der Zellteilung dirigieren.

Bei Krebs ist dieser hierarchische Prozess oft ausgehebelt. Die Zellen teilen sich ohne externen Befehl. So auch in diesem Fall, wo STAT3 über die anomale Bindung an den defekten Rezeptor aktiviert wird. Eine derartige Interaktion von STAT3 nahe der inneren Zellmembran war bislang unbekannt - und höchst unerwartet. „Ich war erst überzeugt, als verschiedene experimentelle Ansätze übereinstimmende Ergebnisse lieferten", sagt Vijay K. Ulaganathan, der Erstautor der Studie.

Die Wissenschaftler konnten zudem zeigen, dass sich das Wachstum von Zellen mit dieser Genvariante über die Blockade von STAT3 inhibieren lässt. „Krebspatienten mit der entsprechenden Anlage könnten nun erstmals eine sehr gute Chance auf eine effektive Behandlungsoption haben", sagt Ullrich. Betroffen sind vielleicht auch andere: Es gibt weitere Keimbahn-Mutationen, die STAT3 zur inneren Zellmembran rekrutieren und vielleicht ebenfalls zu Tumorerkrankungen beitragen.

Die Arbeit ist ein wichtiger Schritt hin zu einer personalisierten Medizin, die individuelle genetische Grundlagen von Krebspatienten berücksichtigt. „Wie wir hier zeigen, muss der Fokus auch auf Keimbahn-Mutationen liegen", sagt Ullrich. „Die Forschung darf sich nicht auf umweltbedingte genetische Defekte beschränken." Ullrich gehört zu den Wegbereitern der personalisierten Medizin. Er hat unter anderem mit Kollegen das Medikament Herceptin entwickelt, das maßgeschneidert ist für Tumoren der Brust, die auf spezifischen Mutationen beruhen.

CM/HR

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