Zeitreisen mit der molekularen Uhr

Migration ist kein neues Phänomen. Doch dass die modernen Europäer gleich dreierlei Vorfahren von anderen Kontinenten haben – diese Erkenntnis veröffentlichte Johannes Krause prominent auf dem Titel von Nature. Der Paläogenetiker betreibt als Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte Zeitreisen von Jena aus. Dabei ist selbst der Blick in die jahrtausendealte Vergangenheit kein Problem.

Per Anhalter über den Atlantik

Zähne sind übrigens die besten Quellen alter DNA. Sie sind eine Art „Zeitkapsel in der Zeitkapsel“, enthalten oft noch getrocknetes Blut und Nervenzellen. Und daran haftet mit etwas Glück sogar noch der genetische Fingerabdruck eines fiesen Keims. Erreger von Lepra und Pest etwa kletten sich gern an Nervenenden. Neben alter DNA und Humanevolution sind auch historische Krankheitserreger und deren Koevolution mit dem Menschen Krauses Schwerpunkte. Aus einigen Zähnen, die auf einem Londoner Friedhof gefunden wurden, rekonstruierte er vor ein paar Jahren das Genom von Yersinia pestis: jenem Erreger des Schwarzen Todes, der im Mittelalter beinahe die Hälfte der Europäer dahinraffte.

Welche Spuren hat der Kontakt mit Pathogenen in den menschlichen Genen hinterlassen? Auf welchen Routen und mit welchen Wirten reisten Pest- oder Tuberkelbazillus um den Erdball? „Tuberkulose gab es auf dem amerikanischen Kontinent bereits, bevor Kolumbus dort ankam“, berichtet Krause. „An 1000 Jahre alten peruanischen Skelettproben konnten wir zeigen, dass der dortige Erreger eng verwandt mit dem Erreger der Tuberkulose in heutigen Seelöwen ist, erst vor etwa 5000 Jahren in Afrika entstand und anschließend zu den Indianern nach Südamerika gelangte.“ Wie war das möglich? „Der Erreger schwamm sozusagen ,per Anhalter’ mit den Seelöwen über den Atlantik. Die Indios erkrankten wohl durch infiziertes Robbenfleisch.“

Wie der Mensch veränderten sich auch seine Keime. Über den Vergleich alter Pathogen-Genome mit heutigen lässt sich die Mutationsrate der Erreger bestimmen. „Lepra zum Beispiel veränderte sich extrem langsam, Tuberkulose viel schneller. Wenn wir das wissen, können wir auf bestimmte Erreger besser achten. Denn was sich schnell verändert, entwickelt auch rascher Antibiotikaresistenzen.“ Mediziner und Mikrobiologen haben historische Pathogene gar nicht auf dem Schirm. Warum nicht? „Sie haben keine Vorstellungen von Zeit“, meint Krause lächelnd, „und können deshalb die ‚molekulare Uhr‘ nicht lesen.“ Alte Mutationen geben zudem Hinweise auf Angriffsziele für neue Medikamente. Dass Paläogenetiker wie Krause über historische Erreger von Pest, Syphilis, Lepra und Tuberkulose wesentlich mehr wissen als Mikrobiologen und Ärzte über deren heutige „Nachkommen“, das ist schon bitter. Ein Grund mehr für Krause, dieses Gebiet in Jena zu vertiefen.

Rückkehr in die private Vergangenheit

Der Neubeginn in Thüringen ist für ihn zugleich Rückkehr in die Heimat. Johannes Krause wuchs in Leinefelde auf, in der thüringischen Region Eichsfeld. Inmitten einer hügeligen Landschaft unter Menschen, die sich mit ihrer Heimat stark verbunden fühlen. „Ich vergleiche es immer gern mit dem Dorf, aus dem Asterix und Obelix stammen“, sagt er schmunzelnd. Die katholische Enklave im ansonsten evangelischen Thüringen war zu religiös für den Geschmack des DDR-Staats, der in den 1960er-Jahren mit der Errichtung einer sozialistischen Planstadt samt 4000 Arbeitsplätzen versuchte dagegenzuhalten. Mit mäßigem Erfolg – „50 Prozent der Menschen sind inzwischen weggezogen, denn eine Baumwollspinnerei in Mitteleuropa macht wenig Sinn“.

Teile der Familie wohnten direkt im Grenzgebiet. Besuche waren nur auf Antrag möglich und führten vorbei an Zäunen und Wachhunden. Zehn Jahre alt war Johannes Krause, als die Mauer fiel und der sozialistische Staat, in dem er geboren worden war, als umstrittenes Kapitel in den Geschichtsbüchern verschwand – „ein gutes Beispiel für ein soziales Experiment, das massiv fehlgeschlagen ist“, sagt Krause und macht sich heute keine Illusionen mehr. „Wenn es selbst in Zentraleuropa nicht gelingt, wie soll es in anderen Regionen der Erde klappen?“

Lebhaft noch seine Erinnerungen an den ersten Besuch im nahen Göttingen. An die Gerüche im Supermarkt, an das Joghurtregal mit den unendlich vielen Sorten. Mit offenem Mund hat er bei Karstadt wie angewurzelt vor den Spielzeugregalen gestanden. „Manchmal denke ich an die DDR zurück wie an Nordkorea.“ Nicht allein wegen des eintönigen Warenangebots – auch wegen des Drills in Kindergarten und Schule.

Seine Eltern hatten ihre Berufswünsche wegen systemkritischer Äußerungen nicht verwirklichen können. Demnach war auch unwahrscheinlich, dass Johannes Krause hätte studieren dürfen. Dass er im Sozialismus groß geworden ist, bedauert er aber nicht. „Ich bin eher linksliberal eingestellt. Wäre ich im Westen aufgewachsen, wäre ich in meinen linken Ansichten sicher weit extremer. So habe ich erfahren: Der reale Sozialismus und der Faktor Mensch – das passt einfach nicht zusammen.“

Doch auch ein Kind in der DDR war zuallererst Kind. Wie alle kleinen Jungs durchlebte Johannes die „Dino-Phase“, hütete eines der raren Bücher zum Thema, das damals in Prag aufgelegt worden war. „Das war meine Bibel“, schwärmt er noch heute. „Ich habe meinen Vater dazu angestiftet, Fossilien sammeln zu gehen. Wir haben alle möglichen Steinbrüche in Thüringen aufgesucht und Steine geklopft.“ Dinosaurier fand er nicht, aber Hunderte Ammoniten, die im Garten der Familie ein neues Habitat fanden. Kurz nach der Wende wurden Burgen und Ruinen im Grenzgebiet zum Ziel. „Überwucherte, verwunschene Dornröschenschlösser, seit Jahrzehnten unbetreten – wie bei Indiana Jones!“

Was wäre aus ihm geworden, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? „Das habe ich mich oft gefragt. Handwerker wie mein Vater vielleicht? Oder Förster?“ Den Zivildienst absolvierte er im Naturpark Eichsfeld-Hainich-Werratal. Die Arbeit mitten im Wald gefiel ihm sehr. Aber deshalb den Rest des Lebens dort verbringen? Nein. Archäologie und Anthropologie geisterten schon so lange durch seinen Kopf, doch die Berufsaussichten waren düster. Es kam zunächst anders.

Um das Jahr 2000 – Johannes Krause war 20 Jahre alt – überrollte die Entschlüsselung des Humangenoms alles und jeden mit der Vision, die Menschheit bald von allen Leiden heilen zu können. Die Biotech-Branche boomte, und Technologieentwicklungen überschlugen sich. „Naturwissenschaften haben mich immer interessiert – warum also nicht Biochemie? Im Grunde wusste ich gar nicht recht, was das ist“, sagt er heute. Die viele Chemie dabei habe ihm bald Sorgen bereitet, und er war kurz davor, das Studium in Leipzig hinzuschmeißen. Doch dann ging er für ein Jahr ins irische Cork. Die Vorlesungen seines enthusiastischen Genetikprofessors fesselten ihn, und Krause entschied, der Biochemie „noch eine Chance zu geben“.

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