Ost-West-Kluft in der Lebenserwartung fast überwunden

Wirtschaftliche Entwicklung vor Ort immer wichtiger für die Lebenslänge

22. September 2015

25 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich die ehemals großen Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Ost- und Westdeutschland bei den Frauen fast angeglichen. Die ostdeutschen Männer haben ebenfalls stark profitiert, liegen gegenüber dem Westen aber weiterhin zurück. Insgesamt hat sich in der Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung nun ein Süd-Nord-Gefälle entwickelt, das vielfach die wirtschaftliche Entwicklung widerspiegelt. Einzelne Regionen wie das Ruhrgebiet und das Saarland fallen deutlich zurück. Das sind die Ergebnisse einer Studie, in der Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock regionale Trends in der Lebenserwartung analysiert haben.

„Die Lebenserwartung hat überall zugelegt und steigt überall weiter - momentan durch Gewinne von Jahren in der zweiten Lebenshälfte“, sagt Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Zusammen mit seinem Institutskollegen Rembrandt Scholz und Eva Kibele von der Universität Groningen hat er die Studie erstellt. „Die Regionen profitieren extrem unterschiedlich“, sagt Klüsener. Von 1996 bis 2010 reichten die Zugewinne bei den Frauen von einem halben Jahr bis zu mehr als sechs Jahren. „Den größten Anstieg sehen wir im Osten“, hebt Rembrandt Scholz hervor. Die Frauen hätten ihren Rückstand seit der Wiedervereinigung quasi aufgeholt: 1996 lebten Frauen in den alten Bundesländern im Mittel noch über ein Jahr länger als in den neuen. Dieser Vorsprung ist auf wenige Monate geschmolzen.

Westdeutsche Männer leben zwar nach wie vor über ein Jahr länger als ostdeutsche (Lebenserwartung 2010: West: 78,0 Jahre, Ost: 76,6 Jahre), dennoch haben die neuen Bundesländer stark aufgeholt. Große Gewinner sind die Gebiete im Nordosten, vor allem der Ostteil Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs mit Zuwächsen von etwa neun Prozent. Den Spitzenplatz nimmt der Landkreis Rostock ein mit einem Plus von sechseinhalb Jahren zwischen 1996 und 2010. Auch die männlichen Bewohner von Dahme-Spreewald und der Uckermark in Brandenburg haben mehr als sechs Jahre dazu gewonnen.

Flickenteppich mit Süd-Nord-Gefälle

Am längsten leben die Süddeutschen: Top-Bundesland bei der Lebenserwartung der Frauen ist Baden-Württemberg mit 83,6 Jahren, gefolgt von Sachsen, Bayern und Hessen. „Ob eine Region abgehängt wird, ist aber immer weniger eine Frage der Himmelsrichtung“, sagt Sebastian Klüsener. Vielmehr gleiche der Atlas der Lebenserwartungen immer mehr einem Flickenteppich mit bundesweit einzelnen starken und schwachen Regionen, da auch im Westen Gebiete mit strukturellen ökonomischen Problemen zurückfallen.

Lagen die Kreise mit der kürzesten Lebensspanne der Frauen 1996 noch im Osten, häufen sie sich jetzt in Nordrhein-Westfalen. „Diese Teile des Ruhrgebiets sehen zwar auf der Karte klein aus, haben aber ähnlich viel Bevölkerung wie ein ostdeutsches Bundesland“, sagt Demograf Rembrandt Scholz. Das Schlusslicht unter den Bundesländern bei der Lebenserwartung der Frauen, das Saarland, liegt ebenfalls im Westen.

Wirtschaftliche Entwicklung bestimmt Lebenslänge immer stärker

Zu der großen Ost-West-Kluft war es während der DDR-Zeit gekommen, weil das dortige Gesundheitssystem hinter dem der Bundesrepublik zurück blieb. Mit der Angleichung der medizinischen Versorgung und der Renten verschwanden seit der Wende auch die Differenzen bei der Lebenserwartung mehr und mehr. „Heute liegen deutschlandweit vor allem hoch entwickelte Regionen vorne“, sagt Rembrandt Scholz. Das hänge auch mit Wanderungsströmen zusammen. „Hoch entwickelte Regionen ziehen Menschen mit hohem Bildungsgrad an, die deutlich länger leben.“

„Viele Studien belegen, dass der wirtschaftliche Entwicklungsstand für Trends in der regionalen Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden ist“, ergänzt Sebastian Klüsener. Dies sei das Ergebnis eines Jahrhunderttrends, in dem Umweltfaktoren und kulturelle Traditionen an Einfluss verloren haben. Früher reduzierten Umweltbelastungen und unhygienische Bedingungen in hoch entwickelten Großstädten und Industrieregionen stark die Lebenserwartung. Beides spielt dank technischem Fortschritt heute kaum mehr eine Rolle. Das gilt auch für regionale Unterschiede im Stillverhalten: Um 1910 war es besonders in Bayern weit verbreitet, Babys mit Mehlbrei zu füttern, statt sie zu stillen. Da das Wasser häufig mit Keimen kontaminiert war, starben viele Säuglinge an Durchfall, was wesentlich zum früheren Nord-Süd-Gefälle der Lebenserwartung beitrug.

Allerdings gab es für die Vorreiterstellung des Nordens schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ökonomische Gründe: Die nördlichen Regionen waren reicher, denn dort gab es mehr florierende Industrie und Überseehäfen, die einen guten Zugang zu den Weltmärkten sicherten. So konnte der Norden früher von der Globalisierung profitieren als der Süden.

Für ihre Analyse nutzten die Demografen unter anderem historische Daten des Statistischen Reichsamtes und die Geburtenstatistiken der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder bis zum Jahr 2010. Um die Regionen trotz Gebietsreformen vergleichen zu können, fassten die Forscher einige Kreise in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zu größeren Gebieten zusammen. Daher untergliedern sich die Regionalergebnisse in 396 Gebiete anstatt der momentan existierenden 402 Stadt- und Landkreise. Die Lebenserwartungen gelten jeweils zum Zeitpunkt der Geburt und über einen Zeitraum von drei Jahren bzw. näherungsweise für das mittlere Jahr (Bezeichnung „für 2010“ statt „für 2009/2011“).

BS/MEZ

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