Trend zum musikalischen Allesfresser

Musikgeschmack ändert sich und verliert die soziale Zuordnung

14. September 2015

Traditionell gilt der Musikgeschmack als schichtabhängig: Die Elite besucht Klassikkonzerte, die Mittelschicht bevorzugt gehobene Unterhaltungsmusik, die Unterschicht hört Schlager und Volksmusik. Doch diese Kategorisierung scheint sich zunehmend aufzulösen. Aus Untersuchungen in den USA ist bekannt, dass besonders die Oberschicht zunehmend Musikstile in ihren Geschmack aufnimmt, die bisher der Mittel- oder Unterschicht zugeordnet werden. Eine Studie am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik belegt erstmals auch hier eine Trendwende. Zugleich zeigt die Umfrage unter Studenten, dass der Geschmack vor allem durch intensive Auseinandersetzung mit Musik unabhängiger vom Herkunftsmilieu werden kann.

Man nennt sie „Omnivores“, Allesfresser: einen neuen Typus von Hörern, die – mit einem Schwerpunkt auf anspruchsvoller Musik wie Klassik und Jazz – viele verschiedene Stile in ihrem Musikgeschmack vereinen. Fanden bisherige Studien Omnivores fast ausschließlich unter Angehörigen der oberen sozialen Schichten, hat eine aktuelle Studie diese Geschmacksausprägung auch unter Personen gefunden, die sich durch besondere musikalische Expertise auszeichnen. Besonders häufig finden sich Omnivores unter Musikwissenschaftsstudenten, etwa jeder zweite von ihnen gehört zu diesem Typus. Aber auch jeder vierte Studierende anderer Fächer wechselt den Musikstil je nach Stimmung und Gelegenheit. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung, die Paul Elvers, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, gemeinsam mit zwei weiteren Institutskollegen und einem Musikwissenschaftler von der Universität Wien publiziert hat.

Für den soeben in der Zeitschrift „Frontiers in Psychology“ erschienenen Artikel werteten die Forscher den Musikgeschmack von sogenannten Expertenhörern und durchschnittlichen Hörern aus. Expertenhörer wie Musikwissenschaftsstudenten sind für die Erforschung des Musikgeschmacks von besonderem Interesse, vor allem für die Frage, ob ihr musikalisches Wissen und ihre Ausbildung dazu führen, dass sie ein anderes musikalisches Repertoire bevorzugen als die übrige Bevölkerung.

Mittels Online-Umfrage erhob Paul Elvers Daten von rund 1000 deutschen und österreichischen Studierenden, ein Viertel davon Musikwissenschaftsstudenten im Haupt- oder Nebenfach. Unter anderem sollten die Teilnehmer angeben, wie oft sie Stücke verschiedener Musikstile hören. Die Häufigkeit reichte in fünf Stufen von „nie“ bis „täglich“. Zur Auswahl standen 22 Musikrichtungen von Rock, Pop und Klassik, über Punk, Heavy Metal und Emo/Screamo bis zu Gospel, Reggae und Weltmusik. Zudem wurden der soziale Status, der musikalische Background sowie Persönlichkeitsmerkmale abgefragt. In der Auswertung konnte Elvers zunächst über eine Faktorenanalyse die Vielzahl der Stile in fünf Ober-Kategorien zusammenfassen: Klassik, Jazz, House, Folk und Rock. Dabei untersuchte er nicht einfach, wie häufig diese Kategorien von den Experten und Nicht-Experten gehört werden. Stattdessen bildete er aus den Ergebnissen – unabhängig von welcher der beiden Gruppen sie stammten – drei hinreichend homogene Cluster: engagierte Hörer, konventionelle Hörer und Rockhörer.

Wer Rock mag, hört kaum andere Musik

Wie die Benennung nahelegt, zeichnen sich Rockhörer dadurch aus, dass sie weit überdurchschnittlich oft Musik aus den Kategorien Rock und Folk hören, dagegen kaum andere Musik, besonders wenig Klassik und Jazz. Konventionelle Hörer geben insgesamt an, nur mäßig oft Musik zu hören, am ehesten Klassik, House und Pop. Engagierte Hörer konsumieren dagegen deutlich öfter Musik als die anderen beiden Gruppierungen, mit einer Präferenz für Klassik und Jazz, sie hören aber ebenfalls häufig Folk und Rock. Damit lassen sich die engagierten Hörer dem Typus der Omnivores vergleichen, wobei die insgesamt größere Intensität des Musikhörens als neuer Aspekt hinzukommt.

Die zentrale Frage für Paul Elvers lautete nun: Wie sind diese Hörergruppen bei den Expertenhörern und in der Kontrollgruppe, den Durchschnittshörern, vertreten? Die Musikwissenschaftsstudenten konnte er zur Hälfte den engagierten Hörern zuordnen. Er fand aber auch 36 Prozent konventionelle Hörer und 13 Prozent Rockhörer. In der Kontrollgruppe bildet sich dagegen eine klassische Normalverteilung ab: ein Viertel engagierte Hörer, rund die Hälfte konventionelle und ein weiteres Viertel Rockhörer. Dass nicht noch mehr Musikwissenschaftsstudenten bevorzugt Klassik hören, erklärt Elvers mit einem Wandel, den das Fach in den vergangenen Jahren durchlaufen hat. Gerade an der Humboldt-Universität Berlin, wo der Großteil der Befragten rekrutiert wurde, sind Pop- und Rockmusik fest im musikwissenschaftlichen Curriculum verankert.

Weit aufschlussreicher sind für die Forscher andere Aspekte der Studie: etwa die Tatsache, dass Rockhörer einen eigenen Cluster bilden, wohingegen Klassikliebhaber die größte Offenheit für andere Stile zeigen. „Das ist der größte Unterschied zu zwei früheren Studien zu Musikwissenschaftlern, dass wir diese Tendenz zum ‚Allesfresser‘ entdeckt haben“, hebt Paul Elvers hervor. „Dass Leute, die Musikwissenschaft studieren, eine Präferenz für klassische Musik haben, hat man vorher schon festgestellt. Aber dass es jetzt auch eine Tendenz gibt, sich in anderen Stilen zu engagieren – das ist eine echte Neuerung.“

Zu denken gibt den Wissenschaftlern auch, dass sich in der Untersuchung im Gegensatz zu fast allen bisherigen Studien kein signifikanter Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Musikgeschmack nachweisen ließ. Von den befragten Studenten stammte etwa ein Drittel aus der Unter- und unteren Mittelschicht, gut die Hälfte aus der Mittelschicht und zehn Prozent aus der oberen Mittelschicht. Damit war ein breiter Bevölkerungsquerschnitt in der Untersuchung vertreten. Es zeigt sich, dass weniger die soziale Herkunft als vielmehr das musikalisches Wissen und die Ausbildung dazu führen, dass die Befragten ein breites musikalisches Repertoire rezipieren. „Die Befragten waren ja gerade junge Leute“, betont Melanie Wald-Fuhrmann, Direktorin der Abteilung Musik am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, hervor. „Daher könnten ihre Angaben einen Trend markieren. Und das wäre eine wirklich interessante Entwicklung, wenn der Musikgeschmack die soziale Identifikation verliert – jedenfalls bei denjenigen, die sich eigenständig und intensiv mit Musik auseinandersetzen.“

Die Forscher sind sich bewusst, dass die Studie ihre Grenzen hat: Studierende sind allein schon wegen ihres Alters und ihres Bildungsstandes nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Um die Ergebnisse auf eine breitere Basis zu stellen und detailliertere Angaben zu erhalten, haben die Forscher am MPI für empirische Ästhetik bereits eine neue Umfrage gestartet.

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