Neue gesellschaftliche Vielfalt in Weltstädten

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von "Superdiversität" am Beispiel dreier Orte

Wie können Menschen mit immer vielfältigeren Eigenschaften in den weltweit schnell wachsenden Großstädten zusammenleben? Wie bilden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede in sozialen und räumlichen Mustern aus, wenn neue Vielfalt auf alte Vielfalt trifft? Ein Projekt am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften untersucht den Wandel gesellschaftlicher Vielfalt und ihrer Muster an drei Orten von Superdiversität: in New York, Singapur und Johannesburg.

Das durch einen Advanced Grant des European Research Council (ERC) geförderte Projekt erforscht die rasante gesellschaftliche Diversifizierung in drei Weltstädten, in Städten von Superdiversity: in New York, der klassischen Einwanderungsstadt, die mit neuen globalen Migrationsströmen konfrontiert ist, die auf ein migrationsunterstützendes politisches Umfeld treffen; in Singapur, das durch eine strikte ethnisch-kulturelle Bevölkerungspolitik gekennzeichnet ist und weitgehend von neuen, stark eingeschränkten Migranten abhängig ist; und in Johannesburg, das nach dem Ende der Apartheid von Spannungen durch neue, unregulierte panafrikanische Migrationsbewegungen geprägt wird. Zwölf Wissenschaftler, dazu lokale Experten aus der Anthropologie, der Soziologie und der Humangeografie schicken sich an, diese bislang kaum erforschten Prozesse der Diversifizierung und der sozialen Schichtung von alter und neuer Vielfalt zu untersuchen. Der methodische Zugang erfolgt in drei Schritten: Erkennen (wie werden alte und neue Vielfalt lokal verstanden?), Beobachten (Verfassen von ethnografischen Beschreibungen von Interaktionen) und Visualisierung (Fotos, Filme und innovative Datenaufbereitung).

Die Auswahl der Städte erfolgte nach einer Diverse-Case-Selektionsstrategie. Die Auswahl beachtet die differenzierten historischen und politisch-ökonomischen Bedingungen, die hinter den wechselnden Mustern und Strategien im Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt in Städten und Stadtvierteln stehen. Der Blick auf die Diversifizierung in bedeutenden Weltstädten ist vor allem deshalb wichtig, weil sich immer mehr Städte in wirtschaftlicher, demografischer und kultureller Hinsicht ähnlich entwickeln wie diese Global Cities.

In den Beispielstädten wurden lokale Kontexte ausgewählt, in denen die neue Superdiversity erkennbar wird, wo keine einzige Gruppe dominiert und wo sich räumlich, visuell und sozial Erscheinungsformen der alten und der neuen Vielfalt sichtbar treffen. Die öffentlichen Räume in den Vierteln bieten alltägliche Orte für flüchtige und dauerhaftere Begegnungen, die neben Konflikten auch Prozesse umfassen, in denen sich neue und produktive Formen der Interaktion manifestieren.

Ort der Forschung (1): New York

New York ist die klassische Einwanderungsstadt und hat in der Vergangenheit schon verschiedene Wellen von Neuankömmlingen aufgenommen. Von den knapp über acht Millionen Einwohnern sind 36 Prozent im Ausland geboren. Dieser Bevölkerungsanteil hat sich in den letzten dreißig Jahren verdoppelt. Anders als das Muster der aufeinanderfolgenden Einwanderungswellen ist das Markenzeichen der gegenwärtigen Einwanderung nach New York eine außergewöhnliche Vielfalt. Es wird oft gesagt, dass heute praktisch jedes Land der Welt durch neue Migranten in der Stadt vertreten ist. Diese verfügen über ganz heterogene Qualifikationen, Arbeits- und Klassenhintergründe, was auf unterschiedliche Migrationsprozesse und -kanäle, differierenden Rechtsstatus und transnationale Praktiken verweist. So gibt es zum Beispiel in nahezu allen im Ausland geborenen Gruppen mehr Frauen als Männer; allerdings gibt es Ausnahmen: Mexikaner und Bangladeschis etwa haben einen weit höheren Männeranteil.

Jeder Stadtbezirk (borough) von New York hat eine einzigartige Mischung aus alter und neuer Vielfalt. In Queens sind 46 Prozent der 2,2 Millionen Bewohner im Ausland geboren. Die Forschungen des Projekts konzentrieren sich auf öffentliche Räume im Stadtbezirk Astoria, dessen nicht in den USA geborene Einwohner vor allem aus Griechenland, Bangladesch, Ecuador, Mexiko, Kolumbien, Italien, der Dominikanischen Republik, Brasilien, China und Indien stammen. Orte der Feldforschung sind wichtige öffentliche Räume, Einkaufsstraßen wie die 23rd Street, der Athens Park und der Three Coves Community Garden.

Ort der Forschung (2): Singapur

Seit der Kolonialzeit ist Singapur eine stark regulierte multiethnische Stadt. Politik und öffentliche Kampagnen basieren auf dem offiziellen multiethnischen CMIO-Modell (Chinesen, Malaien, Inder und „Others“); hierzu gehört die Festlegung der vier offiziellen Sprachen (Malaiisch, Mandarin, Tamil und Englisch). Allerdings ist Singapur für seine anhaltende wirtschaftliche Entwicklung extrem von Arbeitsmigranten abhängig. Die Migration wird durch ein restriktives Arbeitserlaubnissystem für gering qualifizierte Arbeitnehmer gesteuert, daneben gibt es zahlreiche hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte und Studenten. Zuletzt stieg die Zahl der in Singapur nicht ansässigen Arbeitskräfte um 170 Prozent von 248.000 (1990) auf 670.000 (2006). UN-Schätzungen legen nahe, dass internationale Migranten mehr als 1,9 Millionen (40,7 Prozent) der Gesamtbevölkerung Singapurs von 4,8 Millionen stellen. Die meisten kommen auf der Basis bilateraler Abkommen aus Indien, Bangladesch, Sri Lanka, den Philippinen, Myanmar und Thailand. Alte, durch die Kolonialpolitik bedingte Migrationsströme, vor allem aus China und Malaysia, sind neben den Neuankömmlingen aus anderen Ländern weiterhin wichtig. Eine große Sorge der Regierung in Singapur ist, dass die ausländischen Arbeitnehmer nur vorübergehend im Land bleiben. Gesellschaftliche Vielfalt wird durch mehrdeutige Kategorien wie Bürger/Nichtbürger, ansässig/nicht ansässig eingeschränkt, während staatliche Maßnahmen nach dem Motto „use and discard“ („nutzen und verstoßen“) verhindern, dass die Einwanderer in der Gesellschaft Singapurs Fuß fassen.

In Singapur konzentriert sich das Forschungsprojekt auf Jurong West (264.000 Einwohner im Jahr 2009). Mit geschätzt 1000 Fabriken und Werften ist das Stadtviertel für seine gemischte Einwandererbevölkerung bekannt. Zehntausende von ausländischen, überwiegend männlichen Arbeitern leben in besonderen Wohnheimen. Wichtige öffentliche Räume für die Forschung sind das Jurong Point Shopping Centre, die öffentliche Bibliothek und die zahlreichen umliegenden Hawker Center mit Imbissständen aus ganz Asien.

Ort der Forschung (3): Johannesburg

Nach dem Zusammenbruch der Apartheid hat sich die Zuwanderung aus der Region, aus Afrika und dem Rest der Welt nach Südafrika und insbesondere Johannesburg dramatisch erhöht. Aktuelle Daten zur Einwanderung nach Südafrika sind außerordentlich schwer zu erhalten, außerdem sind sie durch heftige politische Debatten im Land belastet und daher nicht unbedingt aussagekräftig. Eine begründete Schätzung von Ausländern aus ganz Afrika – legalen und illegalen – liegt zwischen einer und drei Millionen, allerdings können die Zahlen aufgrund der anhaltenden Krise in Simbabwe noch steigen. Zu den Herkunftsländern der Migranten in Johannesburg gehören Simbabwe, die Demokratische Republik Kongo, Mosambik, Namibia, Lesotho, Somalia, Nigeria und andere Regionen Südafrikas. Der prekäre rechtliche Status der Migranten bestimmt ihre soziale, wirtschaftliche und räumliche Stellung in der Gesellschaft. Dies hat Konsequenzen für die Gestaltung des öffentlichen Diskurses, von öffentlichen Räumen und der Stadt als Ganzes. Johannesburg ist durch extrem hohe Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit gekennzeichnet, was 2008 zu schrecklichen Ausschreitungen führte.

In bestimmten Stadtvierteln von Johannesburg stellen Ausländer die Mehrheit. Das Forschungsfeld ist der Stadtteil Hillbrow (geschätzte Bevölkerung 97.000). Früher ein den Weißen vorbehaltenes Viertel wurde Hillbrow zum Hauptziel der Migration aus den Townships, dem ländlichen Südafrika und ganz Afrika. Wichtige öffentliche Räume für das Projekt sind der Hillbrow Market, die Pretoria Street und der Berea Park.

Erste Ergebnisse des Globaldivercities-Projekt präsentiert die Konfrerenz "Urban Super-Diversity", die das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften von 8. bis 10. April in Berlin präsentiert. Einige Ergebnisse liegen jedoch schon vor und es lassen sich vergleichende Aussagen  treffen.

Historische Entwicklungslinien im Denken über Differenz

New York verkörpert eine seit langem bestehende Einwanderergesellschaft. Politik und Institutionen begrüßen Neuankömmlinge (wenn auch mitunter recht kritisch gegenüber jeder Welle), aber mit einem starken Assimilationsmodell. Singapur, eine koloniale Handelsgesellschaft, die sich zu einer wirtschaftlichen Großmacht entwickelte, ist  von der Erhaltung der Harmonie innerhalb einer nach Ethnien gegliederten Bevölkerung besessen. Und in Johannesburg sind soziale Beziehungen, trotz der Post-Apartheid-Rhetorik über die Regenbogennation, rassisch, ethnisch und sprachlich tief gespalten, während eine relativ neue, leidenschaftliche Fremdenfeindlichkeit gegenüber Neuankömmlingen aus ganz Afrika sichtbar wird.

Die wohl wichtigste Kategorie ist "Race“. Doch was genau "Race" ist, wie sie bewertet wird, zum Ausdruck kommt und in sozialen Beziehungen Einfluss gewinnt, ist je nach Ort sehr unterschiedlich. Mit Bezug auf die neue, migrationsgetriebene Diversifizierung haben Max-Planck-Wissenschaftler festgestellt, wie Neudefinition und Neuausrichtung der sozialen Kategorien in einer Art unausgesprochenem Bezug von der schwarz-weiß Rassentrennung in New York, dem CMIO-System in Singapur und den Kategorien der Apartheid-Ära in Johannesburg bestimmt werden. Angesichts der unterschiedlichen Systeme der Kategorisierung und der sozialen Schichtung entspricht "Race" in New York nicht "Race" in Singapur oder in Johannesburg. Jede dieser Bedeutung hat ihre eigenen historischen Konnotationen, kollektiven Erinnerungen und Usancen.

Die Veränderung der Migrationsströme und der sie begleitende öffentliche Diskurs

In allen Fällen haben die Öffentlichkeit - und die meisten Politiker - keine Ahnung vom tatsächlichen Umfang der Diversifizierung, zu der die neue Migration in jedem Land und jeder Stadt führt. Stattdessen konzentriert sich viel öffentliche Erregung auf wenige neue Gruppen und Themen: In New York werden neue Gruppen von muslimischen Einwanderern terroristischer Verbindungen verdächtigt, gelten als unveränderbare Ausländer und werden durch die Behörden, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, streng überwacht. Die in anderen Teilen der USA weit verbreitete Angst vor mexikanischen Einwanderern, die die amerikanische Gesellschaft „überschwemmen“, ist in New York seltener anzutreffen. In Singapur gibt es eine umfangreiche Debatte über Leiharbeiter aus Südasien und chinesische Migranten aus der Volksrepublik China, deren angeblich ungehobeltes Verhalten als eine Gefahr für das lokale Benehmen gesehen wird. In Johannesburg betreffen viele Befürchtungen die Nigerianer (ein Sammelbegriff für Westafrikaner) und die Verbrechen, die sie angeblich begehen.

Diese Unterschiede sind nicht überraschend; in der Tat waren sie erwartet worden. Was überraschend war, ist das Ausmaß der Gemeinsamkeiten im Prozess der Super-Diversifizierung. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten betreffen drei allgemeine Muster, die sich auf soziale Räume beziehen: "Route-ines", "Räume ohne Wände" und "Korridore der Dissoziation". Wir beobachten, wie solche Muster in Städten sowie beim Verhandeln oder sozialen Ordnen des urbanen Zusammengeworfenseins auftreten. Außerdem zeigt das Projekt, wie solche Muster als Filter für die öffentliche Verarbeitung von Diversifizierung dienen. Durch soziale Begegnung im öffentlichen Raum, kategorisieren, interagieren oder vermeiden die bereits etablierten Einwohner insbesondere aus früheren Einwanderungswellen, die neuen Migranten, die sehr unterschiedliche soziale und kulturelle Eigenschaften personifizieren können. Umgekehrt arrangieren sich Neuankömmlinge mit den Bewohnern, sie erwerben Ortskenntnisse, Kategorien und soziale Codes, die in diesen öffentlichen, sozialen und räumlichen Mustern erkennbar sind. Daraus folgt, dass vor allem durch solche räumlichen sozialen Mechanismen die vor Ort konstruierte "alte", bereits vorhandene soziale Organisation der Vielfalt - zumindest teilweise, wenn nicht vollständig - in eine "neue" gewandelt wird.

Die Städte der Welt sind dazu bestimmt, zu wachsen und sich auf vielfältige Art zu diversifizieren. Das GlobaldiverCities-Projekt ermöglicht einen vergleichenden Blick auf migrationsgetriebene Diversifizierungsprozesse, wie sie sich in der Öffentlichkeit abspielen, und erklärt, wie sich soziale Beziehungen bilden oder wandeln. "Die hier identifizierten Muster sind sicherlich nicht die einzig möglichen, die aus diesen Prozessen hervorgehen, aber sie sind vielleicht bezeichnend für die wichtigsten Wege auf denen Vielfalt, alt und neu, erkennbar, geformt und erfahren wird", sagt Steven Vertovec.

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