Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Emotionsgeschichte transnational

Autoren
Pernau, Margrit
Abteilungen
Forschungsbereich Geschichte der Gefühle
Zusammenfassung
Ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung widmet sich der Geschichte der Gefühle. Dabei werden nicht nur Regionen verglichen, sondern es wird versucht, den normativen Eurozentrismus zu überwinden, hin zu dem, was als „Provinzialisierung Europas“ bezeichnet wird: die Überwindung der Wahrnehmung Europas als universellem normativem Zentrum, von dem alle anderen Regionen bloß mehr oder weniger abweichen.

Gefühle sind nicht bei allen Menschen, zu allen Zeiten und überall dieselben: Sie haben eine Geschichte. Unterschiedliche Gesellschaften und unterschiedliche Gruppen innerhalb einer Gesellschaft setzen vielfältige Normen darüber, was, wer, wo, wann fühlen darf oder soll. Zugleich kennen sie mannigfaltige Formen, diese Emotionen auszudrücken, zu praktizieren oder auch zu unterdrücken. Dies alles beeinflusst wiederum die Art und Weise, wie Gefühle wahrgenommen und mit Bedeutung versehen werden.

Aus diesem Grund beschränkte die Forschungsgruppe zur Geschichte der Gefühle am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ihre Perspektive von Beginn an ganz gezielt nicht auf Europa. So haben sich Forscher zur Geschichte Europas und (Nord-)Amerikas mit solchen zusammengefunden, deren Arbeitsschwerpunkt in der indischen Geschichte liegt, punktuell ergänzt durch Projekte zum Osmanischen Reich/der Türkei, zu Ägypten und zu Persien/dem Iran.

Dieses Forschungsdesign zielt nicht nur auf einen Vergleich zwischen den Regionen, sondern darüber hinaus auf das, was der in Chicago lehrende Historiker Dipesh Chakrabarty [1] die Provinzialisierung Europas genannt hat: die Wahrnehmung zu überwinden, dass Europa die universelle Norm darstellt, von der alle übrigen Regionen mehr oder weniger abweichen. Diese Umorientierung hinterfragt bislang vorherrschende Ansätze auf inhaltlicher Ebene, fast noch bedeutender aber ist sie auf der theoretischen und methodischen Ebene. Was sind die – oft unausgesprochenen – Prämissen und Ausgangspunkte der Forschung? Sind sie universalisierbar oder wo müssen sie modifiziert werden?

Zugleich ist es wichtig, die Differenzen zwischen den Kulturen nicht absolut zu setzen. Kulturen sind nicht homogen. Sie haben sich auch nicht unabhängig voneinander entwickelt, sondern blicken auf eine lange transnationale und transkulturelle Geschichte zurück, in der sie sich sowohl angenähert als auch voneinander abgegrenzt haben; in jedem Fall sind sie nur in ihrer Interaktion verständlich. Dies gilt für die Emotionen nicht weniger als für andere gesellschaftliche Bereiche.

Dieser Prozess der Provinzialisierung kann durch die Begegnung von Historikern aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern angestoßen werden; erfolgreich ist er nur, wenn er sich sowohl in europäischen als auch nicht europäischen Studien niederschlägt. Eine Reihe von Forschungsschwerpunkten mögen wegweisend zeigen, wie die empirische Forschung und die Theoriebildung gemeinsam vorangetrieben werden kann.

Gefühle im Kinderbuch

Wenn Gefühle sozial gelernt sind, dann beginnt dieser Lernprozess bereits in einem frühen Alter. Kinder- und Jugendbücher sind eines der Medien, die junge Menschen mit Gefühlen konfrontieren. Beim Lesen und Vorlesen von Geschichten begegnen sie Emotionen, lernen sie zu erkennen, zu benennen und können in der Identifikation mit den Helden der Erzählung ausprobieren, wie sich Furcht oder Mut, Liebe oder Eifersucht anfühlen und wie man mit ihnen umgehen kann. 

In einem Projekt, dessen Ergebnisse 2014 als gemeinsame Monografie veröffentlicht wurden [2], untersuchte der Forschungsbereich wie in den vergangenen 150 Jahren Gefühle im Rahmen von Geschichten verhandelt wurden und welches Repertoire an möglichen und zulässigen beziehungsweise verwerflichen und unerwünschten Gefühlen sie Kindern und Jugendlichen vor Augen führten. Als Quellen dienten Kinder- und Jugendbücher sowie Ratgeberliteratur aus Deutschland, Großbritannien, den USA, Russland und Indien.

Der Zuschnitt des Projekts zeigt, wie die Provinzialisierung Europas in der Praxis aussehen kann. Kaum eine der Kategorien, die man einem rein europäischen Projekt hätte zugrunde legen können, funktionierte in der transnationalen Erweiterung: Die Grenzen von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter müssen neu durchdacht werden, wenn die zwölf- oder dreizehnjährigen Mädchen aus dem Zielpublikum bereits verheiratet sind; die Lesepraktiken funktionieren anders, wenn das Lesen nicht ein privates Vergnügen ist, zu dem man sich zurückzieht, sondern im Kreis der Familie oder der Freunde vorgelesen wird; schließlich ist das mimetische Einfühlen vermutlich weit weniger universell als ursprünglich angenommen.

Dennoch, so der überraschende Befund, funktioniert gerade Kinder- und Jugendliteratur häufig über historische und kulturelle Grenzen hinweg. Möglicherweise liegt dies darin begründet, dass die Konfrontation mit unvertrauten Emotionen eine Alltagserfahrung ist, die Kinder bereits in frühem Alter machen und die ihnen erlaubt, derart Gelerntes auf andere Situationen zu übertragen. Ein weiteres Forschungsprojekt, das im Herbst 2014 gestartet wurde, vertieft diese Untersuchung der Begegnung von und mit Emotionen zwischen verschiedenen Gruppen und Kulturen.

Raum und Emotion

Die Auseinandersetzung mit Räumen findet in der Forschung zur Geschichte der Emotionen auf zwei Ebenen statt. Auf der theoretischen Ebene ist es für einen transnationalen Ansatz wichtig, Raum nicht als absolute, sondern als relationale Größe zu verstehen. Dies können Kleinsträume sein, die jeweils einen anderen Emotionsstil nahelegen: Auf der Tanzfläche etwa gelten andere Gefühlsregeln und es werden andere Gefühle hervorgerufen als auf einer politischen Demonstration oder am Arbeitsplatz. Es gilt aber auch, Räume großen Maßstabs zu untersuchen, etwa bei der Migration oder Flucht zwischen Kontinenten. Die Kolonialgeschichte der letzten Jahre hat gezeigt, wie sehr diese Räume und Raumerfahrungen miteinander verflochten sind. Dies ist das Ende des klassischen Narrativs einer europäischen Expansion, in der der Westen aus sich selbst heraus verstanden werden kann und der „Rest“ auf europäische Einflüsse reagiert. An die Stelle dieses Ansatzes tritt die Erkenntnis, dass auch europäische Entwicklungen nur aus einer globalen Perspektive erklärbar sind, in der Kausalitäten in beide Richtungen wirken.

Emotionen werden also von den Räumen beeinflusst, zugleich tragen sie zur Raumwahrnehmung und zur Identifikation eines spezifischen Raumes bei. Akteure bewegen sich durch diese verschiedenen Räume und stellen sich mit ihren Gefühlen auf die besonderen Anforderungen des jeweiligen Raumes ein. Dies kann zu einer Anpassung an dort vorherrschende Emotionen führen, es kann aber auch zu Gegenbewegungen kommen, weil diese Emotionen abgelehnt werden oder dem einzelnen Akteur nicht unmittelbar zugänglich sind.

Auf der empirischen Ebene gilt es Strategien zu entwickeln, mit denen die Gefühle der Akteure in spezifischen Räumen identifiziert werden können. Vor allem die Affektforschung betont, dass die Materialität des Raumes bereits bestimmte Empfindungen auszulösen vermag: Die Atmosphäre enger, dunkler Gassen ist eine andere als die breiter und offener Boulevards und führt damit zu einem anderen Spektrum möglicher Emotionen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die gleichen Räume je nach Geschlecht, Alter und sozialer oder kultureller Herkunft unter Umständen ganz andere Gefühle auslösen können – ob die Gasse heimatliche Geborgenheit auslöst oder zum Angstraum gerät, hängt auch, aber nicht nur, von ihrer materiellen Struktur ab. Insofern ist die Verwobenheit von Materialität und kultureller Zuschreibung ein Aspekt, der gerade in der Forschung zu Raum und Emotion zukünftig noch intensiv zu untersuchen sein wird.

Multisensorische Emotionen

Emotionen werden durch Sinneseindrücke ausgelöst. Menschen reagieren mit Gefühlen auf das, was sie sehen, hören, ertasten, schmecken oder riechen. Dabei sind diese Sinneseindrücke jedoch kein konstantes biologisches „Rohmaterial“, sondern haben ihrerseits eine Geschichte; weiterhin werden die Eindrücke nach sozial gelernten Mustern verarbeitet. Welche Musik ein Gemeinschaftsgefühl evoziert und zu Solidarität führt und welche im Gegenteil zu Aggression und Abgrenzung führt; wie Menschen auf den Geschmack von Chili oder Knoblauch reagieren; welche Gerüche Wohlbefinden, welche Ekel hervorrufen: All dies ist ganz unterschiedlich und verändert sich im Laufe der Zeit.

Diese multisensorischen Empfindungen werden nicht nur in Sprache und Texten verarbeitet, dem Quellenmaterial, mit dem die meisten Historiker vertraut sind, sondern auch in Bildern und Tönen, in Bewegungen wie Tänzen und Märschen, in Ritualen oder sogar in symbolträchtigen kulinarischen Produktionen. Diese Quellen auf ihren Emotionsgehalt zu interpretieren ist eine theoretische und methodische Herausforderung. So darf sich die Historikerin nicht von ihren eigenen Empfindungen leiten lassen; das heißt, sie muss sich bewusst sein, dass die Emotionen, die eine Filmszene bei ihr auslöst, nicht unbedingt die gleichen sind, die Zuschauer in einem anderen Land fühlen oder vor einer Generation gefühlt haben. Und es wird auch nicht immer eine schriftliche Quelle geben, die darüber Auskunft zu geben vermag, sei es, weil niemand darüber geschrieben hat, sei es, weil sich musikalisch oder kulinarisch ausgedrückte Emotionen nicht vollständig sprachlich wiedergeben lassen. Hier bietet eine Erweiterung der Begriffsgeschichte über Sprache hinaus erste Ansätze, die noch weiterverfolgt werden müssen.

Literaturhinweise

Chakrabarty, D.

Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung
Campus, Frankfurt am Main (2010)
Frevert, U.; Eitler, P.; Olsen, S.; Jensen, U.; Pernau, M.; Brückenhaus, D.; Beljan, M.; Gammerl, B.; Laukötter, A.; Hitzer, B.; Plamper, J.; Brauer, J.; Häberlen, J. C.
Learning how to feel: Children’s literature and the history of emotional socialization, 1870– 1970
Oxford University Press, Oxford (2014)

Plamper, J.

Geschichte und Gefühl: Grundlagen der Emotionsgeschichte
Siedler, München (2012)

Gammerl, B.

Emotional styles: Concepts and challenges

Rethinking History 16 (2), 161–175 (2012)

Kia, M.
Imagining Iran before nationalism: Geocultural meanings of land in Azar’s Atashkadah

In: Rethinking Iranian nationalism and modernity (Eds. Aghaie, K. S.; Marashi, A.)
University of Texas Press, Austin (2014)

Pernau, M.

Space and emotion: Building to feel

History Compass 12 (7), 541–549 (2014)

Pernau, M.; Jordheim, H.

全球史视阈中的概念史 (Quanqiushi shiyu zhong de gainianshi)
Global History of Concepts, Lishi yanjiu (forthcoming)

Nielsen, P.

Building Bonn: Democracy and the architecture of humility

History of emotions – Insights into research; Max Planck Institute for Human Development, Berlin (2014)

Rajamani, I.

Pictures, emotions, conceptual change: Anger in popular Hindi cinema

Contributions to the History of Concepts, 7 (2), 52–77 (2012)

Garcia, L.M.

Crowd solidarity on the dancefloor in Paris and Berlin

In: Musical Performance and the Changing City. Postindustrial Contexts in Europe and the United States, 227–255 (Eds. Wergin, C.; Holt, F.)

Routledge, London (2013)

Zur Redakteursansicht