Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht

Polizei und Jugendliche in multiethnischen Gesellschaften: Konflikthafte Interaktionen und ihre Ursachen in Deutschland und Frankreich

Autoren
Oberwittler, Dietrich
Abteilungen
Kriminologische Abteilung (Hans-Jörg Albrecht)
Zusammenfassung
Das Forschungsprojekt POLIS untersuchte auf breiter empirischer Basis die alltäglichen Interaktionen und wechselseitigen Wahrnehmungen von Polizei und Jugendlichen in je zwei deutschen und französischen Großstädten, in denen die Hälfte der jugendlichen Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat. Das Verhältnis zwischen Polizei und Jugendlichen ist in Deutschland erheblich entspannter als in Frankreich, was auch auf eine bürgernahe und kommunikativ ausgerichtete Polizeistrategie zurückzuführen ist.

Hintergrund: Prekärer gesellschaftlicher Zusammenhalt

Der gesellschaftliche Zusammenhalt scheint in den europäischen Ländern zunehmend unter Druck zu geraten. Als Grund werden die Wirtschaftskrise und die Folgen von Globalisierung und Migrationswellen angenommen. Dieser Eindruck wird jedenfalls durch Berichte über wachsende soziale Ungleichheiten, eine prekäre Integration von Migranten und gleichzeitige rechtspopulistische und fremdenfeindliche Strömungen genährt. Ein weiteres markantes Symptom sozialer Spannungen sind gewaltsame Proteste gegen die Polizei. In den letzten Jahren erlebten verschiedene europäische Länder ebenso wie die USA solche Ausschreitungen. Wochenlange Gewaltausbrüche erschütterten 2005 die Vorstädte von Lyon und Paris, 2011 kam es zu den „London Riots“, 2013 wurde Stockholm von gewaltsamen Unruhen in Migrantenvierteln überrascht, und zuletzt setzte sich 2014 und 2015 in verschiedenen Orten wie Ferguson und Baltimore eine längere Tradition von Rassenunruhen in den USA fort. Das Muster und der Auslöser dieser kollektiven Gewaltausbrüche waren in allen Fällen gleich. Vorwiegend männliche Jugendliche und junge Männer in sozial benachteiligten Wohnvierteln mit einer hohen Konzentration ethnischer Minderheiten wandten sich gewaltsam gegen die Polizei. Stets vorangegangen war die Verletzung oder Tötung eines oder mehrerer Bürger – meist selbst Angehörige ethnischer Minderheiten – bei einer polizeilichen Maßnahme. Der Eindruck von Polizeiwillkür wirkt dabei explosiv.

Solche Unruhen in anderen europäischen Ländern führen regelmäßig zu der Frage, ob derartige Krawalle auch in Deutschland zu befürchten sind. Von dieser Frage ausgehend sucht man sofort nach den Ursachen kollektiver Jugendgewalt, wobei Defizite der gesellschaftlichen Integration ethnischer Minderheiten im Allgemeinen und Konfliktpotenziale im Verhältnis von jungen männlichen Migranten und der Polizei im Besonderen im Fokus stehen. Vergleicht man verschiedene Länder, sind Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Problemlagen und dem Ausmaß des Gewaltpotenzials und der Existenz kollektiver Gewalt besser zu identifizieren.

Das vergleichende Forschungsprojekt POLIS

Damit ist die Ausgangslage des vergleichenden deutsch-französischen Forschungsprojekts „Polizei und Jugendliche in multiethnischen Gesellschaften (POLIS)“ skizziert. Der Gegenstand dieses Projekts waren keine kollektiven Gewaltereignisse, sondern die alltäglichen Beziehungen zwischen Polizei und Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, wie sie sich begegnen und gegenseitig wahrnehmen. Einerseits wurden dabei Einstellungen und Verhaltensmuster von Polizeibeamten untersucht, andererseits sollte aber auch betrachtet werden, welche sozialen Bedingungen die Verhaltensorientierungen und Erfahrungen der Jugendlichen prägen und wie Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund Kontakte mit Polizeibeamten erleben.

Das Projekt wurde vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg im Breisgau gemeinsam mit der CNRS/PACTE-Science Po an der Université Pierre-Mendès-France in Grenoble unter der Leitung von Hans-Jörg Albrecht, Dietrich Oberwittler und Sebastian Roché durchgeführt. Es wurde von 2009 bis 2011 aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Agence Nationale de la Recherche getragenen Förderprogramms in den Geistes- und Sozialwissenschaften finanziert.

Die empirischen Erhebungen in zwei deutschen (Köln und Mannheim) und französischen Städten (Lyon und Grenoble) haben die beiden Forscherteams weitgehend identisch durchgeführt. Eine standardisierte Befragung von Jugendlichen im Alter von 13 bis 16 Jahren an Schulen mit sehr großen Stichproben (n = 7.300 in Deutschland, n = 14.000 in Frankreich) ist Grundlage für statistische Analysen. Teilnehmende Beobachtungen bei der Polizei in ausgewählten Bezirken im Umfang von jeweils 250 bis 350 Stunden sowie über 100 qualitative Leitfadeninterviews mit Polizeibeamten in allen vier Städten bilden das Rückgrat für qualitative Auswertungen. In Deutschland wurden zusätzlich vier Gruppendiskussionen mit Jugendlichen in Jugendzentren durchgeführt.

Den theoretischen Rahmen für die Analysen bildete das „Modell der prozeduralen Gerechtigkeit“ des amerikanischen Rechtspsychologen Tom Tyler. Demnach sind Vertrauen und Freiwilligkeit Voraussetzungen für eine erfolgreiche polizeiliche Arbeit. Wenn die Polizei sie fair und respektvoll behandelt, erkennen die Bürger deren Arbeit freiwillig an. Jede Erfahrung einer unfairen, respektlosen oder gar brutalen Behandlung durch Polizisten wird die Legitimität der Polizei zwangsläufig untergraben – nicht nur bei den Betroffenen selbst, sondern auch bei allen, die davon hören. Bei Migranten und Angehörigen ethnischer Minderheiten ist dieser Effekt aufgrund von Gruppenidentitäten besonders ausgeprägt: Eine unfaire Behandlung wird von ihnen dahingehend interpretiert, dass sie von der Polizei – und damit von der Mehrheitsgesellschaft insgesamt – geringer geschätzt werden als einheimische Bürger.

Häufigkeit und Qualität von Polizeikontakten

In der standardisierten Jugendbefragung wurde nach Häufigkeit, Art und Qualität von Kontakten mit Polizeibeamten während des letzten Jahres gefragt. Besonders wichtig sind hier durch die Polizei initiierte Personenkontrollen, da sie in vielen Ländern im Verdacht der diskriminierenden Anwendung stehen (Stichwort „ethnic profiling“ – das heißt, die Polizisten ziehen bei der Entscheidung, wen sie kontrollieren, äußere Zeichen ethnischer Zugehörigkeit heran und verbinden einen Verdacht damit). Abbildung 1 vergleicht die Häufigkeiten dieser Kontrollen für männliche Jugendliche in den deutschen und französischen Städten. Es fällt auf, dass in Frankreich Jugendliche mit einem afrikanischen Migrationshintergrund deutlich häufiger – und auch häufiger vielfach – kontrolliert wurden als französischstämmige, aber auch als sonstige Jugendliche mit Migrationshintergrund. Eine entsprechende diskriminierende Anwendung von Polizeikontrollen bei türkischstämmigen Jugendlichen war in Deutschland nicht festzustellen. Diese Ergebnisse bestätigten sich auch in multivariaten Analysen, in denen weitere Einflussfaktoren – wie das delinquente Verhalten der Jugendlichen – berücksichtigt wurden.

Aber nicht nur in der Quantität, sondern auch in der Qualität unterschieden sich die Erfahrungen der befragten Jugendlichen mit der Polizei in Deutschland und Frankreich erheblich. Wiederum war in Frankreich die familiäre Herkunft aus einem afrikanischen Land das entscheidende Merkmal dafür, dass Polizisten während eines Kontaktes Gewalt anwendeten (Abb. 2). In den beiden deutschen Städten lagen die Anteile mit 5 Prozent bei einheimischen und 10 Prozent bei türkischstämmigen Jungen wesentlich niedriger. Bei den qualitativen Beobachtungen und Interviews mit Polizeibeamten kam erneut heraus, dass das Verhältnis von Polizei und Jugendlichen in Frankreich spannungsgeladener ist. Auch die Jugendlichen zeigten eine hohe Gewaltbereitschaft – sie warfen etwa Gegenstände oder Steine nach Polizeiautos und Polizisten.

Die polizeiliche Legitimität wurde durch eine Skala zum Vertrauen der Jugendlichen in die Polizei gemessen (Abb. 3). Der Skalenwert der polizeilichen Legitimität bei Jugendlichen in Deutschland lag deutlich im positiven Bereich, und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich eher als Deutsche fühlen, hatten ein ebenso hohes Vertrauen zur Polizei wie einheimische Jugendliche. Je geringer das Zugehörigkeitsgefühl zum Aufnahmeland und je höher die Identität als Angehöriger des Herkunftslandes, desto niedriger fiel die Legitimität der Polizei aus. Jedoch hatten in den deutschen Städten auch Jugendliche mit Migrationshintergrund und einer starke Bindung an das Herkunftsland noch eine insgesamt positive Einstellung zur deutschen Polizei. In den beiden französischen Städten lag die Legitimität der Polizei unter Jugendlichen mit stärkerer Verbundenheit zu den Herkunftsländern im negativen Bereich der Skala.

Die Befunde verweisen also auf ein wesentlich stärker belastetes Verhältnis zwischen Polizei und speziell den Jugendlichen mit afrikanischem Migrationshintergrund.

Befunde der qualitativen Erhebungen

Weil verschiedene Methoden eingesetzt wurden, konnten Ergebnisse der standardisierten Befragung mit den Befunden der teilnehmenden Beobachtungen und der Interviews mit Polizeibeamten in Beziehung gesetzt werden. Dadurch traten mögliche Ursachen der Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich zutage. Betrachtet man die vielfältigen qualitativen Daten, erscheint das Verhältnis von Polizei und Jugendlichen auch in Deutschland nicht konfliktfrei. Das wechselseitige Misstrauen findet sich jedoch vor allem in den problematischen Stadtvierteln. Der französischen Polizei gelingt es nicht, einen Teufelskreis gegenseitiger Ablehnung und Gewalt aufzubrechen. Dass das Verhältnis der deutschen Polizei zu ihrer „Problemklientel“ deutlich besser ist, liegt nicht nur am geringeren Ausmaß sozialer und städtebaulicher Segregation, sondern auch an einer erfolgreichen kommunikativen Strategie, die meist ältere, speziell für Bürgerkontakte in einzelnen Stadtvierteln eingesetzte Polizeibeamte anwenden. Zu ihren Aufgaben gehören etwa Vorträge in Schulen und Fußstreifen in Wohngebieten. Französische Polizeibeamte verstehen sich dagegen in erster Linie als Verbrechensbekämpfer und vernachlässigen die in alltäglichen Kontakten hilfreiche kommunikative Ebene. Deutsche Polizisten reflektieren ihre Rolle in der Interaktion mit Jugendlichen stärker und tragen durch flexibles Verhalten in Konfliktsituationen eher zur Deeskalation bei. Für diese Unterschiede im Rollenverständnis und in den sozialen Kompetenzen von deutschen und französischen Polizisten scheinen auch Organisationsstruktur und Ausbildung verantwortlich zu sein. Aus den Ergebnissen des ländervergleichenden Forschungsprojekts lassen sich demnach sinnvolle Reformansätze für die polizeiliche Ausbildung und Arbeit ableiten.

Literaturhinweise

Hunold, D.

Gewalt durch die Polizei gegenüber Jugendlichen – Innenperspektiven zur Anwendung polizeilichen Zwangs
Kriminologisches Journal 43 (3), 167–184 (2011)

Lukas, T.; Gauthier, J.

Warum kontrolliert die Polizei (nicht)? – Unterschiede im Handlungsrepertoire deutscher und französischer Polizisten

In: Polizei und Polizieren in multiethnischen Gesellschaften (Hrsg. Oberwittler, D.; Behr, R.), Themenheft der Zeitschrift „Soziale Probleme“ 23 (2). Centaurus, Pfaffenweiler, 174–206 (2011)

Oberwittler, D.; Schwarzenbach, A.

Polizei und Jugendliche in multiethnischen Gesellschaften – Ergebnisse einer vergleichenden Jugendbefragung in deutschen und französischen Großstädten

SIAK Journal, Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis 4/14, 54–66 (2014)

Oberwittler, D.; Schwarzenbach, A.; Gerstner, D.

Polizei und Jugendliche in multiethnischen Gesellschaften. Ergebnisse der Schulbefragung 2011 „Lebenslagen und Risiken von Jugendlichen“ in Köln und Mannheim

research in brief – forschung aktuell / 47, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg (2014)

Tyler, T. R. 

Why People Obey the Law
Yale University Press, New Haven (1990)
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