Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für marine Mikrobiologie
Zufall oder Determinismus: Molekularökologische Studien zum Abbau von Algenbiomasse durch Meeresbakterien
Chance or determinism: molecular ecological studies of degradation processes of algal biomass by marine bacteria
Biogeochemische Stoffkreisläufe im Meer
Jedes zweite Sauerstoffmolekül, das wir atmen, stammt aus der Photosynthese von meist mikroskopisch kleinen, im Oberflächenwasser schwebenden Meeresalgen. Zu den charakteristischen Vertretern des Phytoplanktons gehören die Kieselalgen oder Diatomeen. In den gemäßigten und polaren Meeresgebieten der höheren Breitengrade wachsen Kieselalgen mit zunehmender Tageslänge jedes Frühjahr so massiv heran, dass sich das Wasser grünlich-braun färbt (Abb. 1a). Mittels Spektralanalyse lässt sich dieser natürliche Wachstumsprozess sehr gut von Satelliten aus verfolgen (Abb. 1b). Nach wenigen Wochen enden die Algenblüten aufgrund von Nährstofflimitationen oder durch den Fraßdruck von Zooplankton. Aufgrund der hohen Dichte einzelner Arten kann es auch zum schlagartigen Absterben von Kieselalgenblüten durch Virusinfektionen kommen. Als Konsequenz werden in der Zeit von Ende März bis Anfang Mai auch in der Deutschen Bucht viele Tausend Tonnen an Biomasse freigesetzt.
Ein Teil dieser Biomasse sinkt auf den Meeresboden ab, wo Sauerstoffmangel den Abbau verlangsamt, sodass es im Laufe von Jahrmillionen zur Bildung von Öl und Gas kommt (Abb. 2). Durch dieses Absinken von abgestorbenem Phytoplankton wird der Atmosphäre Kohlendioxid entzogen. Man spricht hier auch von einer biologischen Pumpe, die die durch Verbrennung von fossilen Energieträgern immer größer werdende Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre erniedrigt. Parallel dazu wird jedoch der Hauptanteil der gelösten und partikulären Algenbiomasse noch im Oberflächenwasser von Bakterien in einem Prozess abgebaut, der unserer Atmung entspricht: Es wird Sauerstoff verbraucht und Kohlendioxid freigesetzt.
Stoffliche und organismische Komplexität
Für die Bilanzierung des Kohlenstoffkreislaufs im Meer ist ein Verständnis des bakteriellen Abbaus von Algenbiomasse unabdingbar. Diese Biomasse besteht aus einem komplexen Gemisch organischer Moleküle. Die Hauptbestandteile sind Proteine, Lipide und verschiedene komplexe Zuckerketten, sogenannte Polysaccharide. Zucker kommen vor allem in den Zellwänden und als Speicherstoffe vor. In Kieselalgen stellen sie einen Anteil von bis zu 80%. Während die Bausteine der Proteine, die Aminosäuren, mit der immer gleichen Peptidbindung zu Ketten verknüpft sind, können die einzelnen Zuckermoleküle in den Algenpolysacchariden sehr verschieden verbunden und dazu oft noch verzweigt sein.
Aber auch die Vielfalt der Bakterien ist enorm. Ein Liter Meereswasser in der Deutschen Bucht enthält etwa eine Million Zellen an Phytoplankton und eine Milliarde Bakterien, die zu Tausenden verschiedenen Arten gehören. Viele dieser Bakterienarten sind noch unbekannt, da sie nicht in Reinkultur wachsen und somit nicht direkt im Labor untersucht werden können. Da Proteine, Lipide und Zucker theoretisch von vielen Bakterienarten abgebaut werden können, war bislang unklar, ob der Abbau der Phytoplanktonbiomasse festen Regeln folgt (Determinismus) oder ob zufällig diejenige Bakterienart profitiert, die als erste auf eine abgestorbene Kieselalge trifft.
Für die Beantwortung der Frage „Zufall oder Determinismus?“ arbeiten Wissenschaftler der Abteilung für Molekulare Ökologie des Instituts seit nunmehr sieben Jahren mit Kollegen der Biologischen Anstalt Helgoland und der Universität Greifswald zusammen. Zum Einsatz kommen dabei Methoden der Genomforschung und der Mikroskopie, mit denen sich komplexe Lebensgemeinschaften effizient und in bisher unerreichter Tiefe beschreiben lassen. So konnte gezeigt werden, dass sich durch das Absterben einer Kieselalgenblüte nicht nur die Gesamtzahl der Bakterien deutlich auf drei bis vier Milliarden pro Liter erhöht, sondern in rascher Abfolge Arten aufeinander folgen, die spezifische Anpassungen für den Abbau und die Aufnahme von bestimmten Zuckern entwickelt haben (Abb. 3).
So ist die erste Phase durch die Verwertung des leicht löslichen, aus 20-40 Glukosemolekülen bestehenden Laminarins gekennzeichnet. In diesem Hauptspeicherstoff der Kieselalgen sind die Glukoseeinheiten beta-1,3 und beta-1,6 verknüpft, und in der Tat wachsen sehr rasch Bakterien heran, die diese Strukturen mithilfe sogenannter Laminarinasen spalten können. Diese Spezialisten aus der Klasse Flavobacteriia des Phylums Bacteroidetes erreichen dabei hohe Dichten, werden aber schon nach wenigen Tagen von Gammaproteobacteria abgelöst, die niedermolekulare Reste des Laminarinabbaus verwerten. Danach folgen andere Arten der Flavobacteriia, die die schwerer verwertbaren Zellwände der abgestorbenen Kieselalgen abbauen. Dieser dynamische Prozess lässt sich am plausibelsten als Substrat-getriebene Sukzession verstehen, in der nach dem Abbau der biochemisch leichter verfügbaren Polysaccharide Schritt für Schritt immer schwieriger verwertbare Zucker als Nahrung für jeweils andere Bakterienarten dienen [1].
Genome, Metagenome und Metaproteome
Den Wissenschaftler des Instituts ist es gelungen, einige der am Abbau beteiligten Bakterienarten in Reinkultur zu isolieren [2]. In den Genomen dieser Meeresbakterien aus der Klasse Flavobacteriia fanden sich diskrete Genabfolgen, die die Information für die Bindung, den Abbau und die Aufnahme von bestimmten Polysacchariden speichern. Man spricht hier von sogenannten Polysaccharide Utilization Loci [3] oder kurz PULs (Abb. 4). Sie enthalten die Anleitung für einen ganzen Satz molekularer Werkzeuge für das Zerschneiden und Verwerten eines definierten Polysaccharids. Für den Abbau des einfach gebauten und somit leicht verdaulichen Laminarins benötigt ein Bakterium nur wenige Werkzeuge und damit ein relativ kleines PUL, wohingegen die Verwertung komplexerer Polysaccharide größere PULs erfordert, die sich mitunter über Dutzende von Genen erstrecken können [4]. Je nachdem, auf welches Polysaccharid das Bakterium trifft, wird das passende PUL in Enzyme für deren Abbau und in spezifische Transporter der äußeren Zellmembran übersetzt [5].
Die Summe der Erbinformation aller Organismen in einer Umweltprobe bezeichnet man als Metagenom, die Summe der Proteine als Metaproteom. Während des Abbaus einer Kieselalgenblüte in der Deutschen Bucht konnte durch eine wöchentliche Beprobung der Metagenome und Metaproteome gezeigt werden, dass die rasche Abfolge verschiedener Bakterienarten wie erwartet einhergeht mit einer Veränderung der PULs, der Zuckerabbauenzyme und der Zuckertransporter [1]. Es scheint also so zu sein, dass die spezifische Zusammensetzung der Polysaccharide bestimmte Bakterienarten selektiert, also deterministische Effekte bei der Mineralisierung von Algenbiomasse durch Bakterien dominieren.
Variation des Themas
Polysaccharide sind auch ein wichtiger Bestandteil der menschlichen Nahrung und damit Substrate für unsere Darmflora. Aus evolutionärer Sicht überrascht es daher nicht, dass auch im Darm Polysaccharid-abbauende Bakterien des Phylums Bacteroidetes sehr zahlreich vorkommen [3], die ebenfalls über viele, sehr spezifische Polysaccharide Utilization Loci verfügen. Während Alginate für Mitteleuropäer unverdauliche Ballaststoffe sind, verfügt ein Großteil der japanischen Bevölkerung über Darmbakterien, die genau dieses Algenpolysacharid verwerten können und so über ihre Stoffwechselprodukte zum menschlichen Energiehaushalt betragen. Es konnte gezeigt werden, dass es sich bei diesem sogenannten Sushi-Faktor um eine Gen-Insel für den Alginatabbau handelt, die vermutlich ursprünglich aus einem Meeresbakterium stammt [6].
Ausblick
Aktuell untersuchen die Wissenschaftler, wie sich die Abfolge von Bakterienarten nach Algenblüten in der Deutschen Bucht von Jahr zu Jahr unterscheidet und ob Substrat-getriebene Sukzessionen auch in anderen Meeresgebieten wie dem Süd- und Nordatlantik auftreten.
Literaturhinweise
Science 336, 608-611 (2012)
DOI: 10.1126/science.1218344
Environmental Microbiology, Epub ahead of print (2014)
DOI: 10.1111/1462-2920.12479
Cell 141, 1241-1251 (2010)
DOI: 10.1016/j.cell.2010.05.005
ISME Journal, Early online (2014)
DOI: 10.1038/ismej.2014.225
ISME Journal 8,1492-1502 (2014)
DOI: 10.1038/ismej.2014.4
Nature 464, 908-912 (2010)
DOI:10.1038/nature08937