Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Wissen im Anthropozän

Autoren
Renn, Jürgen; Omodeo, Pietro D.; Rosol, Christoph; Schemmel, Matthias; Valleriani, Matteo
Abteilungen
Strukturwandel von Wissenssystemen
Zusammenfassung
Ein Projekt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte entwickelt einen umfassenden Ansatz zur Erforschung der Geschichte menschlichen Wissens. Darin werden die kognitiven, sozialen und materiellen Entwicklungsdimensionen in ihrer Wechselwirkung berücksichtigt. Die gewonnenen Erkenntnisse sollen als Grundlage für die bewusste Gestaltung des Anthropozäns dienen.

Die Erdgeschichte ist in ein neues Zeitalter eingetreten

Die empirischen Hinweise mehren sich, dass die Erdgeschichte in ein neues Zeitalter eingetreten ist und die relativ stabilen Parameter des Holozäns verlassen hat. Dieses neue Erdzeitalter wird als Anthropozän bezeichnet, weil menschliche Eingriffe nicht mehr nur lokale Auswirkungen auf die unmittelbare Umwelt haben, sondern globale Auswirkungen auf planetare Stoffwechselprozesse und Energieströme zeitigen. Die Frage, wann genau das Anthropozän eingesetzt hat, mit der neolithischen Revolution, mit der industriellen Revolution oder mit der „großen Beschleunigung“ in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, ist noch umstritten. Fest steht jedoch, dass diese menschlichen Eingriffe einem Paradox unterliegen, das immer noch durch das Marxʼsche Diktum bezeichnet werden kann: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Zu diesen vorgefundenen Umständen gehören heute insbesondere die Technologien und Infrastrukturen, die die planetaren Auswirkungen menschlichen Handelns erst möglich machen und den unfreiwilligen Eintritt in das Anthropozän bewirkt und beschleunigt haben. In den Diskussionen über das Anthropozän wird ihrer Entwicklungsdynamik ein hoher Grad an Autonomie gegenüber menschlichen Steuerungsmöglichkeiten zugeschrieben. In diesem Zusammenhang wurde der an den geologischen und biologischen Sprachgebrauch angelehnte Begriff der Technosphäre für die akkumulierte materielle Kultur geprägt.

Damit aber ergibt sich ein zweites Paradox, das an die Seite, wenn nicht an die Stelle des Marxʼschen Paradoxes einer von den Menschen gemachten, aber ihnen entfremdeten Geschichte tritt. Denn obwohl sich die Technosphäre ebenso wie die Geschichte insgesamt den Möglichkeiten bewusster menschlicher Steuerung weitgehend entzieht, ist sie doch ebenso offensichtlich das Ergebnis nicht nur menschlichen Handelns, sondern auch menschlichen Wissens. Die Menschen schaffen also unter vorgefundenen und überlieferten Umständen ein Wissen, das ihnen globale Handlungsmöglichkeiten eröffnet, deren Konsequenzen sie dennoch nicht beherrschen. Dieses zweite Paradox mag sich leichter lösen lassen als das erste, denn es scheint eher möglich zu sein, sich das in der Technosphäre verkörperte „entfremdete“ Wissen wieder anzueignen als „die Geschichte“. Während Versuche, Letzteres zu erreichen, fast zwangsläufig auf gewaltsame Steuerungsversuche hinauslaufen, verlangt Ersteres eine Reflexion auf die Geschichte des Wissens und auf das Wissen, das wir benötigen, um als Gattung die Herausforderungen des Anthropozäns zu bestehen.

Wissensevolution ist pfadabhängig

Eine solche Reflexion auf die historische Entwicklung des Menschheitswissens verlangt auch eine neue Auffassung der Wissenschaftsgeschichte. Sie kann nicht mehr als Perlenschnur großer Entdeckungen betrachtet werden, aber auch nicht nur als eine episodenhafte Kulturgeschichte der Wechselwirkungen zwischen der Wissenschaft und ihren Kontexten. Beides würde den beschriebenen Herausforderungen nicht gerecht. Wissenschaftliches Wissen ist offensichtlich ein bestimmter Teil eines umfassenderen Wissens, das sich über lange Zeiträume entwickelt. Diese Wissensentwicklung umfasst kognitive, soziale und materielle Dimensionen, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Die materielle Dimension, zu der auch die Technosphäre gehört, bestimmt wesentlich die langfristige Tradierbarkeit von Wissen – von den Werkzeugen des Paläolithikums bis zu den Schriften Einsteins. Letztere weisen darüber hinaus auf die Doppelrolle materieller Repräsentationen hin, da in ihnen etwa die mathematische Notation nicht nur zur Tradierung des Wissens dient, sondern gleichzeitig – als Werkzeug des Denkens – zu seiner Umformung. Innerhalb von Gesellschaften wird die Weitergabe von Wissen durch Institutionen organisiert, die ihre Wissensökonomie ausmachen. Die kognitive Organisation von Wissen variiert von einfachen mentalen Modellen des intuitiven Wissens bis zu den hochkomplexen Wissenssystemen der modernen Wissenschaft.

Entscheidend sind die Zusammenhänge zwischen diesen Dimensionen: Neues Wissen entsteht wesentlich aus der Exploration der Handlungs- und Denkmöglichkeiten, die durch die materiellen Ressourcen gegeben sind. Im Vergleich mit der biologischen Evolution entspricht sie der Exploration der durch ökologische Nischen bestimmten Entwicklungspotenziale, nur dass im Falle der Wissensevolution diese Nischen – insbesondere im Zeitalter des Anthropozäns – in noch höherem Maße wiederum das Ergebnis historischer Prozesse sind. Auch die Exploration selbst wird zum einen durch gesellschaftliche Institutionen und zum anderen durch die jeweils schon vorhandenen kognitiven Strukturen des Wissens gesteuert.

Insgesamt zeichnet sich die Wissensevolution daher durch eine hohe Pfadabhängigkeit aus. Diese führt zum Beispiel dazu, dass aus zunächst kontingenten Randbedingungen Strukturmerkmale späterer Entwicklungsschritte werden können. Sie macht sich aber auch in Kanalisierungsprozessen bemerkbar, die sich darin äußern, dass einmal geschaffene, grundlegende „Baupläne“ von Wissen sich historisch als ebenso resistent gegenüber Veränderungen erweisen, wie es in der Biologie für wesentliche Körperbaustrukturen der Fall ist. Drittens lässt sich diese Pfadabhängigkeit an der Schichtenstruktur und der Modularität von Wissen ablesen, denn frühere Entwicklungsstufen werden oft nicht einfach obsolet, sondern wirken als Teilstrukturen höher organisierter Wissenssysteme weiter.

Quer- und Längsschnittstudien decken Wissensentwicklungen und Wissenstransfers auf

Ebenso wie in der Biologie lässt sich ein solches Gesamtbild nur anhand detaillierter Studien prüfen und konkretisieren, in denen naturgemäß auch neue Konzepte eingeführt werden, die den theoretischen Rahmen ergänzen und erweitern. Vor allem Längsschnittstudien langfristiger Wissensentwicklungen und Querschnittstudien, die Wissenstransferprozesse zwischen verschiedenen Kulturen in den Blick nehmen, haben sich in der Arbeit der Abteilung 1 des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte als erkenntnisfördernd erwiesen.

Einen ersten Schwerpunkt bildeten dabei Untersuchungen zur Entstehung der Schrift und des Rechnens in den Kulturen des Alten Orients. Hier zeigte sich, dass die Schrift in der Tat aus einem Symbolsystem der Administration mesopotamischer Großreiche hervorgegangen ist. Sie entstand durch die langfristige Exploration der mit diesem Symbolsystem gegebenen Denk- und Handlungsmöglichkeiten durch die frühen Verwaltungsexperten. Parallele Entwicklungen sowie Überlieferungs- und Globalisierungsprozesse führten schließlich dazu, dass die kontingente Entstehung dieses neuen Kommunikationsmediums zu einem Strukturmerkmal fast aller späteren Epochen wurde. Inzwischen haben analoge Überlegungen im Austausch mit Stephen Levinson und seinen Mitarbeitern am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik zu vergleichbaren Hypothesen über die Entstehung der Sprache geführt [1].

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des praktischen Wissens. Auch hier wird die Geschichte zum Teil bis in die frühesten Menschheitsepochen zurückverfolgt. In Kooperation mit der Bibliotheca Hertziana (Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom) wurde ein dreibändiges Werk zu einer Wissensgeschichte der Architektur publiziert, das sich mit dem Wissen beschäftigt, das den großen Bauvorhaben vom Neolithikum bis zur Renaissance zugrunde lag [2]. Dabei erwies sich nicht nur, dass eine solche systematische Wissensgeschichte möglich ist, sondern auch, dass sie sich in das skizzierte Gesamtbild einfügt und es wesentlich bereichert. Während jede Gesellschaft mehr oder weniger unabhängig von anderen ihre eigenen Strukturen aufbaut, um Bauvorhaben zu realisieren, zeigt sich dennoch, dass es auch epochen- und kulturübergreifende Lerneffekte in der Entwicklung des Bauwissens gab. Wiederum erwies sich die materielle Kultur des Bauens als der entscheidende Träger solcher langfristigen Lerneffekte. Denn nicht nur die Bauten selbst, sondern auch ihre Verbindungen zu Infrastrukturen und Ressourcen, die zu ihrer Realisierung geschaffen wurden, wirkten nach der Realisierung als „Plateaus“ weiter. Diese stellten das Handeln und Denken über Bauen auf eine neue Grundlage.

Plateaus vernetzen sich

Die Rolle solcher Plateaus ist auch in anderen Bereichen des praktischen Wissens erkennbar, etwa als Resultate der sogenannten neolithischen Revolution, in der Menschen lernten, ihre eigene Nahrung zu erzeugen, und zugleich ihre Umwelt nachhaltig veränderten. Auch hier lässt sich gut beobachten, wie aus mehr oder weniger zufälligen ökologischen Randbedingungen – wie der Existenz zur Domestikation geeigneter Pflanzen und Tiere – schließlich strukturelle Merkmale der gesamten späteren Menschheitsentwicklung wurden. Die durch die frühen Bauern und Viehzüchter veränderte Umwelt bot ebenfalls Plateaus, auf deren Grundlage sich neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten ergaben. Zugleich fällt ein anderer Faktor ins Auge, der wesentlich dazu beitrug, dieser Entwicklung Nachhaltigkeit und langfristige Wirksamkeit zu verleihen: die zunehmende Vernetzung solcher Plateaus untereinander.

Die Untersuchung von Netzwerken ist deshalb ein weiterer Fokus der Wissensgeschichte. Ein Beispiel ist die zunehmende Vernetzung von Zentren der Wissensproduktion im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, die mit einer steigenden Mobilität von Gelehrten einherging. Sie lässt sich an der Entstehung neuer Gattungen wissenschaftlicher Literatur ablesen und steht in engem Zusammenhang mit ebenfalls enger werdenden Verbindungen zwischen theoretischem und praktischem Wissen. In den Städten der Frühen Neuzeit entstand schließlich auch das Potenzial, diese Verbindungen zur Entwicklung neuer Produktionsweisen zu nutzen, die in mancher Hinsicht die spätere industrielle Revolution vorwegnahmen. Auch hier lässt sich also ein Plateau erkennen, auf das die Pioniere dieser Revolution dann zurückgreifen konnten wie auf eine vorgeprägte Matrix, die sich unter geeigneten Umständen aktivieren ließ. So wurde die Verbindung von praktischem und wissenschaftlichem Wissen schließlich zu einem entscheidenden Motor der ökonomischen Produktion.

Eine genauere Untersuchung dieser Zusammenhänge verspricht auch Einsichten in die Entstehung und die Dynamik, die dem Anthropozän zugrunde liegen, und die uns helfen könnten, dieses bewusst zu gestalten.

Literaturhinweise

Renn, J.

From the History of Science to the History of Knowledge – and Back

Centaurus 57, 37–53 (2015)

Renn, J.; Osthues, W.; Schlimme, H. (Eds.)

Wissensgeschichte der Architektur, 3 Bände
Edition Open Access, Berlin (2014)

Steffen, W.; Broadgate, W.; Deutsch, L.; Gaffney, O.; Ludwig, C.

The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration
The Anthropocene Review 2 (1), 81–98 (2015)

Klingan, K.; Sepahvand, A.;  Rosol, Ch.; Scherer, B. M. (Eds.)

Textures of the Anthropocene. Grain Vapor Ray, 4 volumes
Revolver Publishing, Berlin; MIT Press, Cambridge, MA (2015)

Renn, Jürgen (Ed.)

The Genesis of General Relativity, 4 volumes
Springer, Dordrecht (2007)

Renn, J. (Ed.)

The Globalization of Knowledge in History
Edition Open Access, Berlin (2012)

Renn, J.; Laubichler, M. D.; Wendt, H.

Energietransformationen zwischen Kaffee und Koevolution

In: Willkommen im Anthropozän! Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde. Katalog zur Sonderausstellung am Deutschen Museum, 81–84 (Hrsg. Möllers, N.; Schwägerl, Ch.; Trischler, H.)

Deutsches Museum, München (2014)
Zur Redakteursansicht