Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Wie das soziale Netzwerk das Sprachverstehen beeinflusst

Autoren
Lev-Ari, Shiri; Meyer, Antje Susanne
Abteilungen
Psychologie der Sprache
Zusammenfassung
Menschen haben unterschiedlich viele soziale Kontakte. Da wir Sprache von unserer Umgebung lernen, würde man erwarten, dass die Größe dieses sozialen Netzwerks unsere Sprachverarbeitung beeinflusst. Das ist tatsächlich der Fall. In einem Projekt am MPI für Psycholinguistik wird untersucht, welche Aspekte der Sprachverarbeitung im Erwachsenenalter mit Merkmalen des sozialen Netzes in Zusammenhang gebracht werden können und welche psychologischen Mechanismen für Beziehungen verantwortlich sind. Das Projekt zeigt, dass unsere Lebensweise unsere Kommunikationsfertigkeiten beeinflusst.

Menschen verfügen über unterschiedlich viele soziale Kontakte. Das sieht man etwa daran, dass manche von uns kaum ein Dutzend Weihnachtskarten schreiben und andere mehrere Hundert auf den Weg bringen [1]. Manche von uns sprechen im Laufe einer Woche mit vielen anderen Menschen, während andere nur mit wenigen Kontakt haben. Shiri Lev-Ari und Antje Susanne Meyer vom MPI für Psycholinguistik untersuchen, wie die Größe des sozialen Netzwerks eines Menschen die Sprachverarbeitung beeinflusst.

Wir lernen Sprache von unserem sozialen Umfeld

Wir entwickeln unser Sprachvermögen im Kontakt mit unserer Umgebung. Dies gilt natürlich für Kinder, aber – vielleicht weniger offensichtlich – auch für Erwachsene. Kinder wie Erwachsene lernen täglich neue Wörter und Redensweisen. Daher haben ältere Menschen in der Regel einen größeren Wortschatz als jüngere Menschen. Außerdem können wir uns an neue Dialekte und Akzente gewöhnen, die uns zunächst kaum verständlich  erscheinen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn wir in eine neue Umgebung umziehen oder ausländische Mitmenschen kennenlernen. Auch diese Anpassung ist eine Form des Lernens.

Unterschiede im sozialen Umfeld gehen naturgemäß mit Unterschieden in der Spracherfahrung einher. Je mehr Menschen man trifft, desto variabler ist die Spracherfahrung, denn jeder Mensch hat seinen eigenen Sprachstil. Wir sprechen alltägliche Phrasen und Wörter (etwa “guten Morgen!”) ganz unterschiedlich aus, wir benennen dasselbe Objekt mit verschiedenen Ausdrücken (etwa “Sofa” oder “Couch”, “Möhre” oder “Karotte”), und wir unterscheiden uns darin, ob wir Ereignisse eher zurückhaltend (“ganz in Ordnung”, “nicht sehr erfolgreich”) oder übertrieben (“wunderbar”, “katastrophal”) beschreiben. Wer ein größeres soziales Netz hat, erlebt daher zwangsläufig mehr unterschiedliche Sprachstile und Ausdrucksweisen als jemand mit einem kleineren Netzwerk.

Erfahrung mit unterschiedlichen Sprechern verbessert das Lernen

Was bedeutet die Variabilität des Sprachangebots für die Sprachverarbeitung? Allgemein lernt man besser, wenn das Lernangebot variabel ist. So ist es, wie oben schon angesprochen, zum Beispiel zunächst nicht einfach, Mitmenschen mit einem starken Akzent zu verstehen, aber nach einiger Zeit gewöhnen wir uns an die ungewohnte Aussprache. Dies geht schneller, wenn wir mehrere Sprecher oder Sprecherinnen mit ähnlichem Akzent hören, als wenn wir in derselben Zeit nur einen Sprecher mit einem bestimmten Akzent hören [2]. Auch lernen Kinder schneller, neue Wörter voneinander zu unterscheiden, wenn sie verschiedene Sprecher hören, als wenn sie nur einen hören [3]. Variabilität im Sprachangebot führt also zu schnellerem sprachlichen Lernen.

Ein großes soziales Netzwerk unterstützt das Sprachverstehen

In dem hier beschriebenen Projekt wird der Einfluss der Größe des sozialen Netzes auf die Sprachverarbeitung untersucht. Die Größe des sozialen Netzes wird dabei als die Anzahl der Menschen definiert, mit der eine Person regelmäßig spricht, unabhängig von der sozialen Beziehung zu diesen Menschen (z. B. als Familienmitglied, Freund oder Schüler). In einigen Untersuchungen werden Probanden gebeten zu schätzen, mit wieviel verschiedenen Menschen sie im Laufe einer Woche sprechen. In anderen Untersuchungen führen sie ein Tagebuch, in dem sie eine Woche lang notieren, mit wem sie gesprochen haben.

In einer dieser Untersuchungen wurden Probanden gebeten, Restaurantkritiken, wie man sie im Internet findet, zu lesen. Die Texte enthielten bewertende Adjektive wie “hervorragend” oder “mittelmäßig”. Die Probanden sollten raten, wie viele Sterne die Kritiker den Restaurants zuweisen würden. Probanden mit einem größeren Netzwerk konnten dies besser als Probanden mit einem kleineren Netzwerk. Wenn man ein großes soziales Netzwerk hat, kann man offenbar besser verstehen, wie bewertende Äußerungen gemeint sind.

In einer anderen Studie wurde untersucht, wie gut Probanden Äußerungen vorhersagen konnten. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, dass wir beim Lesen und Zuhören oft Teile einer Äußerung vorhersagen können. Zum Beispiel kann man beim Lesen des Satzes “Da die Frau sehr müde war, ging sie früh zu ...” das letzte Wort leicht erraten. Wörter werden im Allgemeinen schneller gelesen werden, wenn sie gut vorhersagbar sind, als wenn sie unerwartet sind. Aber Leser und Hörer unterscheiden sich darin, wie gut sie den Satzzusammenhang bei der Vorhersage von Wörtern ausnutzen. Dies könnte mit der Größe des sozialen Netzwerks zusammenhängen: Je mehr sprachliche Erfahrung ein Mensch hat, desto besser kann er vorhersagen, was andere vermutlich sagen werden.

Um diese Vorhersage zu prüfen, wurde zunächst eine Gruppe von Probanden gebeten, unvollständige Sätze zu vervollständigen. Dabei wählten die meisten Probanden für den Satzanfang “Few nations are now ruled by a … “ (Nur wenige Nationen werden heute regiert durch eine/n ...) zum Beispiel eher die Fortsetzung “king” (König), als “dictator” (Diktator), “president” (Präsident) oder “woman” (Frau). Für den Satzanfang “She calls her husband at his …” (Sie rief ihren Mann an in seinem/r ...) wählten sie eher “office” (Büro) als “job” (Anstellung), “work” (Arbeit) oder “workplace” (Arbeitsplatz). Hier wurde also festgestellt, welche Wörter die meisten Menschen tatsächlich wählten. Anschließend wurde eine zweite Gruppe von Probanden gebeten, zu erraten, welche Wörter von der ersten Gruppe gewählt wurden. Diese Aufgabe erfasst also, wie gut die Probanden einschätzen können, was andere vermutlich sagen werden. Wir fanden, dass Menschen mit größerem sozialen Netzwerk in dieser Aufgabe besser abschnitten als Menschen mit einem kleineren sozialen Netzwerk. Dies galt allerdings nur, wenn die Antwortmöglichkeiten sich begrifflich unterschieden (wie im “Few nations ...”-Beispiel), aber nicht, wenn sie sich nur im Wortlaut unterschieden (wie im “She called her husband”-Beispiel). Die Fähigkeit zur Vorhersage auf der begrifflichen Ebene scheint also stärker mit der Größe des sozialen Netzes zusammenzuhängen als die Fähigkeit zur Vorhersage spezifischer Wörter. Warum dies so ist, muss weiter untersucht werden.

Experimentelle Überprüfung der Hypothesen

In den beschriebenen Untersuchungen wurden korrelative Zusammenhänge zwischen der Größe des sozialen Netzwerks der Probanden und ihrer Leistung in verschiedenen Aufgaben gefunden. Die Ergebnisse legen nahe, dass die Größe des sozialen Netzwerks und die damit einhergehende Variabilität des Sprachangebots die Sprachverarbeitung beeinflusst. Allerdings kann man aus den Ergebnissen nicht mit Sicherheit ableiten, dass Unterschiede in der Größe des sozialen Netzes tatsächlich zu Unterschieden im Sprachverstehen führen. Man könnte auch annehmen, dass Unterschiede in linguistischen oder allgemeinen intellektuellen Fähigkeiten, die nicht gemessen wurden, sowohl zu Unterschieden in der Größe des sozialen Netzes als auch zu Unterschieden im Sprachverstehen führen. Um einen Kausalzusammenhang zwischen der Größe des sozialen Netzwerks und dem Sprachverstehen nachzuweisen, müsste man die Größe des sozialen Netzwerks im Experiment variieren, was natürlich ebensowenig möglich ist, wie etwa das Alter oder den Bildungsstand der Probanden zu variieren. Eine zentrale Hypothese in diesem Projekt ist allerdings, dass nicht die Größe des sozialen Netzes als solche zu den Unterschieden im Sprachverstehen führt, sondern die mit der Netzgröße einhergehende Variabilität des Sprachangebots. Den Grad der Variabilität im Sprachangebot kann man durchaus in psycholinguistischen Experimenten variieren. Dies geschieht in einer Reihe laufender Untersuchungen.

Menschen mit kleinem sozialen Netzwerk passen sprachliche Kategorien schneller an

Wie oben bereits angesprochen, findet Spracherwerb nicht nur im Kindesalter, sondern auch im Erwachsenenalter statt: Wir lernen neue Wörter und passen uns an neue Sprecher an. In einem weiteren Projekt wird untersucht, wie die Größe des sozialen Netzwerks das phonologische Lernen (das Lernen von Lauten) beeinflusst. In diesen Experimenten hörten Probanden Sätze, in denen bestimmte Laute auf etwas ungewöhnliche Weise ausgesprochen wurden. So klang in einer Versuchspersonengruppe der Laut /f/ eher wie ein /s/, und in einer anderen Gruppe klang der Laut /s/ eher wie ein /f/. Aus dem Satzzusammenhang (etwa "Auf dem Blatt saß eine große Lau(s/f)." oder "Die Krankheit nahm ihren Lau(s/f)") konnten die Probanden entnehmen, ob /f/ oder /s/ gemeint war. Später hörten sie eine Reihe von Silben und sollten jeweils angeben, ob sie ein /s/ oder /f/ enthielten. Wie in vielen vorhergehenden Untersuchungen beeinflusste das Hören der atypischen /f/- oder /s/-Laute die nachfolgende Beurteilung der Silben. Diese Effekte waren umso stärker, je kleiner das soziale Netzwerk der Probanden war. Dieses Ergebnis entsprach der Erwartung: Je kleiner das Netzwerk, desto eingeschränkter sollte die Erfahrung mit verschiedenen Varianten von /f/- und /s/-Lauten sein, und desto größer sollte der Effekt der neuen Information sein.

Zusammenfassung

In diesem Projekt wird der Einfluss der Größe des sozialen Netzes auf die Sprachverarbeitung untersucht. Die vorliegenden Befunde zeigen, dass Menschen mit einem größeren sozialen Netzwerk die Bedeutung des Gesagten besser verstehen und dass sie besser vorhersagen können, wie Äußerungen fortgesetzt werden. Außerdem wurde gefunden, dass Menschen mit einem größeren sozialen Netzwerk stabilere Lautkategorien haben und von atypischer Information weniger beeinflusst werden als Menschen mit einem kleineren sozialen Netzwerk. Die Anzahl der Menschen, mit denen wir regelmäßig sprechen, beeinflusst also unser Sprachverstehen und die Art und Weise, wie wir auf neue sprachliche Information reagieren.

Literaturhinweise

Hill, R. A.; Dunbar, R. I.
Social network size in humans
Human nature 14(1), 53-72 (2003)
Bradlow, A. R.; Bent, T.
Perceptual adaptation to non-native speech
Cognition 106, 707-729 (2008)
Rost, G. C.; McMurray, B.
Speaker variability augments phonological processing in early word learning
Developmental Science 12(2), 339- 349 (2009)

Weitere interessante Beiträge

Zur Redakteursansicht