Bausteine für ein neues Leben

7. Oktober 2010

„Sexualstraftäter gehören doch für immer weggesperrt!“ So lautet eine ebenso verbreitete wie dem Rechtsstaat unangemessene Meinung. Ein Team um Gunda Wößner vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg arbeitet an einer Studie über Rückfallkriminalität  und durchleuchtet sozialtherapeutische Maßnahmen.

Text: Klaus Wilhelm

Vier sorgsam gepflegte Pflanzen in sehr speziellen Übertöpfen – Margarine-Bechern – führen ihren ganz eigenen Kampf gegen die Monotonie des Raumes. Das Zimmer ist klein, nicht einmal 15 Quadratmeter. Ein Stuhl, ein Bett, ein kleiner Fernseher. Vorn neben der Tür das Klo. Zwei Regale. Alles pieksauber. Die Dinge sind geordnet: zwei, drei Bücher, ein paar Aktenordner. Und ein stattliches Modell der „Admiral Graf Spee“, eines Kriegsschiffes der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg. „Ich bastle gerne“, sagt Frank S. Mit seinen 35 Jahren wirkt er äußerlich wie ein 25-Jähriger. Er sitzt aufrecht auf dem Stuhl und redet ruhig.

Frank S. hat Kinder missbraucht, meist Jungen, manchmal Mädchen. Mehr als 100-mal, über Jahre. Der Raum ist eine Zelle in der Justizvollzugsanstalt Waldheim, eine knappe Autostunde westlich von Dresden. Im Gespräch wirkt Frank S. entspannt, aufgeweckt, zuweilen wie befreit. Nur manchmal wandern die Augen unruhig umher, wenn er über die Vergangenheit redet. „Mein ganz großes Thema war das Selbstbewusstsein“, sagt er. Es gab keins. Fast jeder fremde Erwachsene unnahbar. „Wie sollte ich eine Frau kennenlernen?“ S. war so scheu und ängstlich, wie sich andere das nicht einmal vorstellen können.

„Da ist eine große Verbindung zu dem, was ich getan habe“, sagt er, „ich habe mich nach Geborgenheit und Liebe gesehnt.“ Die emotionalen Pole haben ihn zerrissen. Es blieben: Kinder, ungleich freundlicher und problemloser als jeder Erwachsene. Und der Kontrollverlust. Das komplett fehlende Verständnis dafür, dass er kleine Seelen zerstört. Und was er Eltern und Angehörigen antut.

Sozialtherapie soll Resozialisierung fördern

Er nimmt psychologische Fachbegriffe wie „kognitive Verzerrung“ so selbstverständlich in den Mund wie andere „Auto“ oder „Handtasche“. Gelernt hat er das in der Sozialtherapie im Waldheimer Knast. Also jener Behandlung aus diversen therapeutischen Mitteln und sozialen Hilfen, die die Resozialisierung der Gefangenen fördern soll. Sie soll ihm klarmachen, wie und warum es zu seinen Taten gekommen ist; wie er sein Verhalten ändern, nach der Entlassung draußen Fuß fassen, arbeits- und leistungsfähig sein kann.

Die Therapie fügt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen: Training sozialer Kompetenzen mit Gruppenleben, Ausbildung von Mitgefühl und Konfliktbewältigung, Selbstsicherheitstraining, Bearbeitung der gestörten Denk- und Interpretationsmuster und Rückfallprävention speziell für Sexualstraftäter.

Aus diversen Gründen – politischen, emotionalen, populistischen – hat der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1. Januar 2003 festgelegt, dass Sexualstraftäter mit einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren in einer sozialtherapeutischen Anstalt behandelt werden müssen, sofern eine solche Behandlung angezeigt ist. Durch den Nachsatz bleibt immer ein gewisser Ermessensspielraum für die Verantwortlichen, die das Gesetz realisieren, die Bundesländer und die einzelnen Anstalten. Sinnvoll erscheint die Therapie aber vor allem bei Tätern, bei denen gefährliche Straftaten wegen einer erheblichen Störung ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung zu befürchten sind. Die Behandlung dauert anderthalb bis drei, in Ausnahmefällen auch vier bis fünf Jahre.

„Wir nehmen zunächst erst mal jeden, zumindest für eine dreimonatige Probezeit“, sagt Michael Brinkmann, Leiter der Sozialtherapie in Waldheim und stellvertretender Leiter der JVA – auch Täter, die anfangs keineswegs motiviert sind. Aus gutem Grund: In einer vorläufigen Zwischenauswertung einer in Waldheim laufenden Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts für Strafrecht, des Sächsischen Justizministeriums und des Instituts für Kriminologie und Wirtschaftsrecht der Universität Freiburg zeigt sich: Auch wenn manche Gefangene anfangs partout nicht wollen, nehmen einige doch etwas von der Therapie mit. Mehr noch: „Gerade diese zu Beginn unwilligen Vergewaltigungstäter werden im Laufe der Therapie seltener zurück in den Regelvollzug geschickt als Missbrauchstäter, die man gerne nimmt, weil sie sich sehr sozial verhalten“, wie es Projektleiterin Gunda Wößner ausdrückt.

Die Psychologin von der kriminologischen Abteilung des Freiburger Max-Planck-Instituts weiß, wie gesellschaftlich brisant Kindesmissbrauch und Vergewaltigung sind. „Das kocht an Stammtischen und TV-Talks immer wieder hoch“, sagt sie. Besonders wenn ein Täter nach der Entlassung erneut missbraucht oder vergewaltigt – erst recht, wenn er im Gefängnis an der Sozialtherapie teilgenommen hat.

Dann kommen schon mal Forderungen wie jüngst die des FDP-Rechtspolitikers Christian Ahrendt, dass „bei jeder Verurteilung wegen eines Sexualdelikts oder Besitzes von Kinderpornografie dem Täter eine sexualmedizinische Therapie“ auferlegt werden müsse. Das heißt: eine Behandlung mit Medikamenten, die den Sexualtrieb hemmen. Oder dass man alle einmal Verurteilten dauerhaft „wegschließen“ solle, wie es 2001 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder formulierte.

Persönliche Befragung als Grundlage der Studie

Aus Sicht der Opfer und ihrer Angehörigen ist das mehr als verständlich – sie treibt die pure Angst, womöglich auch der Wunsch nach Vergeltung. „Ich will auch nicht, dass meinen Kindern etwas zustößt“, sagt Gunda Wößner. Dennoch zeugen derlei Radikalthesen für die Freiburger Forscherin von Ignoranz und wenig Detailkenntnis. Zum einen „widersprechen sie dem Credo eines freiheitlichen Rechtsstaats“; zum zweiten „bleibt die Wirklichkeit komplexer als jeder Populismus“. Ja, sicher profitieren einige wenige Sexualstraftäter von der medikamentösen Behandlung. Ja, die Sozialtherapie kann die Zahl der einschlägigen Rückfälle, je nach Studie, um zwölf bis 20 Prozent senken.

Doch jenseits dessen türmen sich die aktuellen Fragen der kriminologischen Forschung hinsichtlich der Sozialtherapie: Wie erfolgreich ist diese Behandlung wirklich? Was genau sind die  effektiven Maßnahmen? Welche Tätertypen profitieren vor allem von der Sozialtherapie? Welche nicht? Was bedingt einen Rückfall und wie kann man seine Wahrscheinlichkeit beeinflussen? Lässt sich die Rückfallrate weiter reduzieren, indem man die Sozialtherapie besser individualisiert und spezifiziert? Ist der Fokus auf Sexualstraftäter überhaupt gerechtfertigt?

Die Frage, ob jedem Sexualstraftäter eine Sozialtherapie auferlegt werden sollte, bleibt zumindest aus psychologischer Sicht einstweilen offen. „Die Behandlung wirkt irgendwie“, sagt Wößner, „aber wir haben noch nicht richtig durchschaut, was genau wie für wen.“ Die ehrgeizige, über 15 Jahre angelegte Studie der Freiburger Max-Planck-Forscher und der sozialtherapeutischen Abteilungen des Freistaats Sachsen  will neue Antworten geben – um das Dickicht der Spekulation zumindest etwas zu lichten.

So reist Gunda Wößner seit 2006 regelmäßig aus dem Breisgau ins Sächsische, um sich zu informieren und die Studie ständig an aktuelle Entwicklungen anzupassen. Dann trifft sie ihre örtlichen Mitarbeiterinnen wie Elke Wienhausen, die die Gefangenen in der Sozialtherapie für die Studie anheuern und die Interviews mit den Häftlingen führen. „Die sind hier meist freundlich und froh, dass ihnen jemand zuhört“, sagt die Soziologin, „keine Probleme bisher.“

106 Sexual- und 55 Gewaltstraftäter vor Beginn ihrer Sozialtherapie in der JVA Waldheim hat das Team um Gunda Wößner bislang eingehend befragt – nach allen möglichen Persönlichkeits-, biografischen, emotionalen, sozioökonomischen Merkmalen. Mit gängigen psychologischen Tests, aber auch mit eigens entworfenen Erhebungsinstrumenten. 69 der Studienteilnehmer wurden bereits zum zweiten Mal beleuchtet – direkt vor Ende der Therapie. Dazu kommen noch 150 bisher befragte Gefangene aus dem Regelvollzug ohne Sozialtherapie.

Im humanen Knast herrscht gutes soziales Klima

Ein Jahr nach ihrer Entlassung werden die Probanden, so sie wollen und auffindbar sind, ein drittes Mal untersucht. Dazu werten die Forscher ihre Personalakten aus und holen die Bewertung der Therapeuten über jeden einzelnen Gefangenen ein. Fünf Jahre nach der Entlassung ziehen die Freiburger Forscher die Daten der Probanden aus dem Bundeszentralregister. Dann wird sich zeigen, ob sie in irgendeiner Weise rückfällig geworden sind. Frank S. darf derzeit von der Entlassung allenfalls träumen. Frühestens 2012 könnte er bei guter Führung auf Bewährung raus. Seine Zelle liegt im renovierten Haus 1 der JVA. Wenn er durch die Gitter blickt, sieht er eine von Hängen eingekesselte Kleinstadt, die an diesem Sommertag bravourös den Werbeslogan „Perle des Zschopautales“ bestätigt.

Der Knast fügt sich nahtlos in dieses Bild, fast verwachsen mit der Stadt. Wären da nicht die dezent gehaltenen, gewundenen Stacheldrähte auf den weißen Mauern, würde man ihn zunächst kaum als solchen erkennen. Ein Lindenbaum und eine Kirche geben dem Terrain die Aura eines Dorfangers, die schlichten langgestreckten Häuser erinnern eher an ein altes Pensionat als an ein Gefängnis. Seit seiner Gründung vor fast drei Jahrhunderten gilt das Gefängnis als Modellanstalt, wie ein Zeitzeuge schon 1791 bemerkte. Haus 1 erscheint innen wie ein Abbild des modernen humanen Knasts. „Hier gibt’s keine Relings mehr mit Gängen vor den Zellen, wie früher, als die Stockwerke noch nicht durch Deckenwände getrennt waren“, sagt der Sicherheitsbedienstete Steffen Rost, „das hören Sie.“

Tatsächlich herrscht nahezu Ruhe. Auch nachmittags um fünf Uhr, wenn die Gefangenen den Trakt komplett bewohnen. Sie versammeln sich in Lichthöfen. Sie kochen zusammen. „Der Umgang ist wenig rau“, erklärt Rost. Obwohl fast alle der etwa 300  Gefangenen langjährige Haftstrafen verbüßen, nach schweren Gewaltdelikten oder Sexualstraftaten.

Michael Brinkmann führt das nicht zuletzt auf die Sozialtherapie zurück. „Im Alltag sehen wir in der Anstalt positive Effekte“, sagt er, „das soziale Klima bessert sich deutlich.“ Seit 15 Jahren betreut der Psychologe gefährliche Straftäter, „weil ich hier wirklich was bewegen kann“, wie er erklärt, „für wirklich Bedürftige“. Er ist ein engagierter Verfechter der Sozialtherapie. „Ich glaube an dieses Konzept“, sagt er resolut, „gar nichts zu machen kann nicht die Alternative sein.“

In der Hierarchie ganz unten

Frank S. wurde zu insgesamt acht Jahren Gefängnis verurteilt und wollte „so schnell wie möglich“ aus dem Regelvollzug in Dresden in die Sozialtherapie in Waldheim. Vielleicht, weil er es als echte Chance sah, etwas gegen sein Leiden zu tun. Vielleicht, weil er sich erhoffte, schneller wieder rauszukommen. Vielleicht, weil er als Missbrauchstäter in der Hierarchie der Strafgefangenen „ganz unten“ war und das Leben so zur Hölle werden kann. Doch es war zunächst kein Platz in Waldheim frei. Alles zusammen, die Schuldgefühle und die verzweifelte Situation, kulminierten 2007 in einem Selbstmordversuch. „Da mussten sie schnell was machen“, sagt er lakonisch. Anfang 2008 wurde er nach Waldheim verlegt und begann die Sozialtherapie.

Susann Gebhardt ist eine junge Sozialarbeiterin der Waldheimer Sozialtherapie, klein gewachsen, so entschieden wie empathisch im Ton. Sie braucht beides, wenn sie wie jetzt mit einem Dutzend Gefangenen arbeitet. Manche wirken hoch interessiert, andere nervös, andere gestresst. Heute wie jede Woche auf dem Programm: das Training sozialer Kompetenzen.

Gebhardt steht vor einer Tafel und fragt in die Runde: „Wie kann ich einer fremden Person sympathisch werden? Und sie ansprechen?“ Sie fragt nach Gedanken, die dem im Weg stehen könnten. Und nach Gefühlen, die einen dabei sicher oder unsicher machen. Gefühle! Manche drehen ratlos den Kopf weg. Es ist ein Grundkurs elementar(st)er Dinge, die man normalerweise als Kind und junger Erwachsener lernt. Die Grundfesten der Freundlichkeit.

In Sitzungen wie dieser hat Frank S. zum ersten Mal über sein gestörtes Verhältnis zur Empathie gehört und in Rollenspielen erfahren, was Mitgefühl bedeutet. Zum ersten Mal begriffen, wie es zu seinen Taten kommen konnte. Da vernahm er zum ersten Mal jenen Begriff der kognitiven Verzerrung – der inneren Verharmlosung und Rechtfertigung seiner Taten: „Die Kinder waren doch bereit, ich hab denen noch was beigebracht.“ Derlei Fehlschlüsse von Grund auf zu beseitigen zählt zu den zentralen Themen der Psychotherapie in der sozialtherapeutischen Behandlung: Die Schuld soll nicht bei anderen gesucht werden.

Die Therapeuten entwickeln ein individuelles Störungsbild mit dem Gefangenen, ohne aber zu sehr in die Analyse zu gehen. „Die eigene Tatdynamik zu verstehen ist wichtig“, sagt Max-Planck-Forscherin Gunda Wößner, „aber die Täter brauchen vor allem auf ihre Situation bezogene, konkrete Fertigkeiten, um ihre Störungen zu bekämpfen.“ Im Sinne einer kognitiven Verhaltenstherapie.

Selbstkontrolle üben, auch in stressigen Situationen. Verantwortung für die Taten übernehmen. Ein harter Weg, den nicht alle bis zu Ende gehen. Zehn bis 15 Prozent brechen die Sozialtherapie ab. Dabei völlig rätselhaft: Abbrecher werden durchschnittlich häufiger rückfällig als Täter, die gar nicht erst anfangen. „Wir wissen nicht, warum“, sagt Wößner, „auch das wollen wir ergründen.“ Wurden die Bedürfnisse dieser Gruppe bislang gar nicht berücksichtigt?

Frank S. will es schaffen. „Mir wurden die Augen geöffnet“, sagt er. Seine Erziehung war streng, Vater und Mutter tranken. Schon in der Schule wurde er gehänselt ob seines Übergewichts. Als  Erwachsener lebte er lange Zeit bei seiner Mutter. Extrem kleiner Freundeskreis, keine sexuellen Beziehungen. Das psychologische Gutachten weist ihn als angepassten, höflichen und hilfsbereiten, aggressionsgehemmten jungen Menschen aus – voller Selbstzweifel und Ängste, die ihn in die „delinquenten Ersatz-Handlungen“ trieben, wie es im Psychologenjargon heißt: Kriminalität als eine extreme Art, mit negativen Gefühlen umzugehen. Eine extreme Art, die sich im besten Falle verändern lässt.

Jeder Tätertyp braucht eine individuelle Behandlung

Gunda Wößner sieht S. als „fast typischen Fall eines Missbrauchs-Täters“. Die Typisierung von Sexual- und Gewaltstraftätern ist einer ihrer wissenschaftlichen Schwerpunkte – unter therapeutischen Gesichtspunkten. „Alle nach dem Gießkannenprinzip zu behandeln ist kontraproduktiv“, sagt die Psychologin. „Selbst in der Forschung wird nur selten differenziert.“

Schon in ihrer Doktorarbeit hat sie Sexualstraftäter nach Merkmalen unterschieden, die für eine individuellere Therapie wichtig sein könnten:

  • Überangepasste Missbrauchstäter wie Frank S.
  • Dissoziale Typen, die allgemein zu hoher Kriminalität, Gewaltbereitschaft, Körperverletzung, Drogen- und Alkoholmissbrauch neigen. Sie haben in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren und setzen sich über alle Normen hinweg nach dem Credo: „Die Welt ist böse, deshalb nehme ich mir alles, was ich will.“
  • Krankhaft Paraphile – also Menschen mit sexueller Perversion –, die durch hoch abnormes Verhalten bei der Tat auffallen, bis zur Ermordung des Opfers.
  • Minder begabte Täter, die wegen mangelnder Intelligenz nicht wissen: Wie geht man auf jemanden zu? Wie lebe ich Intimität?
  • Täter, die vordergründig sozial unauffällig sind, aber in Krisensituationen zu Übergriffen neigen: entweder Inzesttaten bei eigenen Kindern oder Kindern, die die Partnerin in die Beziehung mitbringt; oder Vergewaltigung der (Ex-)Partnerin.

Ersten Auswertungen zufolge bestätigt sich die Typisierung auch in der laufenden Waldheim-Studie – ergänzt durch einen ebenfalls dissozialen Typus, der fast ausschließlich in der Familie Sexualstraftaten begeht. „Diese Gruppe erkennen wir erst jetzt so richtig, weil die Opfer in jüngster Zeit verstärkt den Mut zur Anzeige haben“, betont Gunda Wößner.

Ganz wichtig für die individuellere Therapie sind dabei die sogenannten Coping-Mechanismen – die inneren Mittel eines Menschen, um mit negativen Gefühlen umzugehen. „An diesem Punkt gilt es je nach Typ zu intervenieren“, sagt sie. Die Waldheim-Studie deutet auch an, dass man allgemein bei Gewalt-Straftätern unterscheiden kann, „was in der Literatur oft untergeht“. Da gibt es etwa jenen unauffälligen Typ mit Familie, der in der Krise auffällig wird – dann aber mit schweren Gewaltstraftaten und Tötung. Oder eine Art professioneller, hoch dissozialer Straftäter, der sich vor allem auf Raubdelikte spezialisiert hat.

Arbeit für zehn Euro am Tag

Gerade für die aggressiven, dissozialen Typen ist die vorgeschriebene Arbeit im Knast elementar – was damit zusammenhängt, dass die meisten dieser Häftlinge nicht an komplette Arbeitstage gewöhnt sind. „Die wissen häufig nicht, wie man einen Tag strukturiert“, sagt Wößner. Arbeit erleichtert das immens, und Angebot und Produktionshallen in Waldheim sind groß. Überall hantieren Männer in blauen Hosen und gestreiften Hemden. Manche scheinen eher unwillig, andere konzentriert. Sie bauen Gitter, binden Bücher, machen Holzbriketts, bohren, sägen, drehen, fräsen. Gegen gutes Geld – rund zehn Euro am Tag – fertigen sie Kabelbäume für Mercedes. Andere machen wertvolle Schweißscheine.

„Wer sich anstrengt“, sagt Steffen Rost, „kann hier richtig was lernen.“ Nicht minder wichtig, gerade für die „dissoziale Klientel“, ist die Freizeitgestaltung. Sport steht bei vielen ganz oben. Andere malen, wieder andere kochen. „Wer seine freie Zeit nicht sinnvoll zu nutzen lernt, ist mit einem halben Bein schon wieder im kriminellen Milieu oder bei der Peergroup, die irgendwo rumhängt und krumme Dinger dreht“, sagt Rost. Dann ist der Rückfall so gut wie programmiert.

Für Michael Brinkmann zählt „jedes Prozent“, um das die Rückfallrate durch die Sozialtherapie sinkt. Was das menschliche Leid angeht. Was die Kosten im Vollzug angeht. Doch wie häufig  Sexualstraftäter ohne Therapie rückfällig werden, „lässt sich nicht einfach beantworten“, betont Gunda Wößner. In der Forschungsliteratur kursieren viele Zahlen, abhängig vom jeweiligen Studiendesign. Je nachdem, was man als Behandlungserfolg definiert, welcher Zeitraum zwischen Behandlung und Erfolgsmessung liegt und welche Tätertypen man untersucht, weichen die Ergebnisse teilweise erheblich voneinander ab.

Vorzeichen Er­kennen, die zum Missbrauch führen

Ermittelt man nur den einschlägigen Rückfall – also ein erneutes Sexualdelikt –, liegt die Rate zwischen sechs und 33 Prozent. Der Rückfall mit jedem anderen Delikt erreicht Raten bis zu 70 Prozent. Jutta Elz von der Kriminologischen Forschungsstelle des Bundes fand für sexuellen Kindesmissbrauch eine Häufigkeit von rund 22 Prozent und für sexuelle Gewaltdelikte von rund 19 Prozent. Die in verschiedenen nationalen und internationalen Studien ermittelten Rückfallraten liegen für Vergewaltigungstäter zwischen 15 bis 20 Prozent, für unterschiedliche Formen des sexuellen Missbrauchs zwischen sechs und 24 Prozent.

In den wenigen Studien aus dem deutschsprachigen Raum liegen die Rückfallraten für schweren sexuellen Kindesmissbrauch bei rund zwölf Prozent. Nach Sozialtherapie heutigen Zuschnitts sind laut bisherigen Studien acht bis 20 Prozent weniger einschlägige Rückfälle zu verzeichnen wie im Vergleich zu Tätern ohne Sozialtherapie.

„Die Therapie bringt was“, betont Wößner. Die vorläufigen Zwischenergebnisse aus der laufenden Studie sind allerdings unterschiedlich. Manchen bringt es nach eigenem Bekunden wenig bis nichts; andere sagen, sie hätten sehr profitiert. Die Psychologin will sich in der Auswertung nicht nur auf die Rückfallrate konzentrieren. „Rückfall ist ein sehr hartes Kriterium, das in keinem anderen medizinisch-psychologischen Bereich wie etwa der Depressionstherapie darüber entscheidet, ob eine Behandlung Sinn hat oder nicht.“  Für sie auch wichtig: Ist ein Rückfall weniger schwerwiegend als das ursprüngliche Delikt? Zögert er sich sehr lange hinaus? Oder kann der ehemalige Gefangene ein Arbeitsverhältnis aufrechterhalten?

Die Psychologin weiß, dass derlei Ansichten der Bevölkerung nur schwer zu vermitteln sind, und sagt, dass „einige so stark rückfallgefährdet sind, dass man sie nicht mehr freilassen kann“. Doch es werde auch unter den nicht offenkundig Rückfallgefährdeten immer Wiederholungstäter geben. Die einzig hundertprozentig sichere Alternative ist es, alle einmal Straffälligen lebenslang in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Aber: „Wollen wir das in einem Rechtsstaat wie dem unserem?“

Frank S., gelernter Metallbauer, hat sich in Waldheim zum Zerspaner weiter- gebildet. Jetzt hat er noch eine Ausbildung zum Technischen Zeichner begonnen. Beruflich sollte er wieder Tritt fassen. Aber das ist für ihn ohnehin nicht das Problem. Er hofft, dass er dank der Therapie seine Störung überwinden kann. Dass er einen „wildfremden Menschen, einen Journalisten“ zu sich einlädt, bestätigt ihn in seiner Zuversicht: „Das war vor der Therapie undenkbar.“

So hofft S., dass die Präventionsstrategien funktionieren, die er gelernt hat. Dass er sich stets bewusst ist, „was damals war“. Dass er die Gedanken und Vorzeichen erkennt, die zum Missbrauch führen. Dass er dann die Mittel der Selbstkontrolle nutzen kann. Und dass er Freunde findet, die ihm helfen, „ein neues Leben aufzubauen“.

 

GLOSSAR

Kognitive Verhaltenstherapie
Eine Form der Psychotherapie, die Kog­nitionen – also Einstellungen, Gedanken, Bewertungen und Überzeugungen – durch bestimmte Gesprächstechniken verändern will. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Art des Denkens bestimmt, wie wir uns fühlen und verhalten und wie wir körperlich reagieren.

Sicherungsverwahrung
Eine freiheitsentziehende Maßnahme, die dazu dienen soll, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen, nachdem diese ihre normale Haft verbüßt haben. Die Gefährlichkeit muss in einem Gutachten festgestellt werden.  Die Sicherungsverwahrung findet bis jetzt in Haftanstalten statt, wobei den Betroffenen mehr Hafterleichterungen eingeräumt werden. Die Bundesregierung will ein neues Gesetz zur Sicherungsverwahrung verabschieden.

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