Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Quantenoptik

Ein neuer Weg zu ungewöhnlichen Quantenerscheinungen in Gittersystemen

Autoren
Nielsen, Anne
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Quantenoptik, Garching
Zusammenfassung
An komplexen Quantensystemen lassen sich viele überraschende Phänomene wie z. B. der fraktionierte Quanten-Hall-Effekt (FQH) beobachten. Das große fundamentale und auch technologische Interesse an diesem Effekt motiviert die Frage: „Gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Effekt zu realisieren?” Forscher am MPI für Quantenoptik und der Universidad Autónoma de Madrid haben einen neuen Weg vorgeschlagen, FQH-Physik in Gittersystemen zu erhalten und sogar ein Rezept entwickelt, ein Modell für den FQH-Effekt mit ultrakalten Atomen in optischen Gittern experimentell umzusetzen.

Der fraktionierte Quanten-Hall-Effekt

Die Bewegung von Elektronen in einem starken Magnetfeld führt zu interessanten Effekten. So schickte der amerikanische Physiker Edwin Hall im Jahr 1879 einen Strom (I) durch ein dünnes Goldblatt, das sich in einem Magnetfeld befand. Dabei beobachtete er, dass sich senkrecht zur Richtung des Stroms eine Spannung (VH) aufbaute [1] (Abb. 1). Er bestimmte den Hall-Widerstand RH = VH/I bei verschiedenen Magnetfeldstärken B und fand, dass sich RH proportional mit B ändert. Dieser Effekt ist heute als der Hall-Effekt bekannt.

Etwa hundert Jahre später entdeckte der deutsche Physiker Klaus von Klitzing in einem sogenannten Metall-Oxid-Halbleiter-Feldeffekttransistor (MOSFET) [2] den integralen Quanten-Hall-Effekt. In einem MOSFET sind die stromleitenden Elektronen in einer Ebene zwischen dem Halbleiter und der isolierenden Oxidschicht gefangen. Sie können sich also nur parallel zu der Ebene, in zwei Dimensionen, bewegen. Bei extrem tiefen Temperaturen und extrem hohen Magnetfeldern sandte von Klitzing einen Strom durch den Transistor. Messungen der Hall-Spannung für verschiedene Magnetfeldstärken ergaben, dass es zwischen dem Widerstand RH (senkrecht zur Stromrichtung) und B keinen linearen Zusammenhang gibt. Stattdessen steigt der Hall-Widerstand mit wachsendem Magnetfeld stufenweise an. Der Wert RH nimmt auf jeder Stufe innerhalb eines Intervalls, unabhängig von B, mit sehr großer Präzision den Wert h/(qe2) an, wobei h und e Naturkonstanten sind, und q eine positive, ganze Zahl ist. Die Messergebnisse zeigten darüber hinaus, dass innerhalb eines Plateaus der Widerstand in Richtung des Stroms sehr niedrig war. Aus der Erklärung dieses Phänomens folgt, dass der Strom nicht durch die Mitte der Elektronenschicht, sondern am Rand fließt. Der Strom ist außerdem „chiral”: das bedeutet, dass sich die Elektronen nur in einer Richtung bewegen dürfen und auch beim Treffen auf Störstellen nicht zurück gestreut werden.

Im Jahr 1981 entdeckten Daniel Tsui und Horst Störmer, dass Hall-Widerstand-Plateaus unter Umständen auch entstehen, wenn der Wert von q bestimmten Bruchteilen entspricht. Dies wird als fraktionierter Quanten-Hall-Effekt [3, 4] (FQH) bezeichnet. In den von Tsui und Störmer benutzten Proben, die von Arthur Gossard und Paul Wiegmann hergestellt wurden, sind die Elektronen zwischen zwei Halbleiterschichten gefangen. Die Messergebnisse waren völlig unerwartet, doch Robert Laughlin formulierte 1983 eine Theorie, welche die besonders auffälligen Plateaus erklären konnte. Zwar haben der integrale und der fraktionierte Quanten-Hall-Effekt eine große Ähnlichkeit. Doch im Gegensatz zum integralen Quanten-Hall-Effekt spielen beim FQH Wechselwirkungen zwischen den Elektronen eine wichtige Rolle. Die Untersuchung des fraktionierten Quanten-Hall-Effekts ist deshalb so wichtig, weil die Materiezustände, die hier realisiert werden, ganz andere Eigenschaften als normale Zustände haben. Das bedeutet, dass für die Beschreibung der Zustände neue Werkzeuge entwickelt werden müssen. Außerdem gibt es interessante Perspektiven für die Nutzung der Eigenschaften der FQH-Zustände in technologischen Komponenten, zum Beispiel bei der Realisierung eines Quantencomputers.

Können fraktionierte Quanten-Hall-Zustände auch unter anderen Voraussetzungen entstehen?

Der fraktionierte Quanten-Hall-Effekt ist im Moment anspruchsvoll zu realisieren, weil dafür sorgfältig angefertigte Materialien, ein hohes Magnetfeld und niedrige Temperaturen notwendig sind. Um den Effekt in technologischen Bauteilen zu nutzen, wäre es aber viel besser, er könnte schon bei Raumtemperatur und ohne hohe Magnetfelder erzeugt werden. Der erste Schritt in diese Richtung ist, herauszufinden unter welchen Voraussetzungen der FQH-Effekt entstehen kann. Viele Forscher beschäftigen sich mit dieser Frage. Ist es zum Beispiel möglich den FQH-Effekt in Gittersystemen zu realisieren? Ein Gittersystem ist ein System, in dem sich die Teilchen (z. B. die Elektronen) nicht überall, sondern nur auf bestimmten Gitterpunkten befinden dürfen (Abb. 2). Gittersysteme sind unter anderem interessant, weil hier die Wirkung von Magnetfeldern gewissermaßen künstlich nachgeahmt werden kann, sodass starke, physikalische Magnetfelder umgangen werden können. Durch eine geeignete Wahl der Gitterparameter lassen sich möglicherweise FQH-Zustände erzeugen, die besonders robust gegenüber höheren Temperaturen sind. Und schließlich erwecken Gittersysteme Aufmerksamkeit, weil ein großes Interesse daran besteht, den fraktionierten Quanten-Hall-Effekt in Systemen aus ultrakalten Atomen in optischen Gittern zu simulieren.

Ultrakalte Atome in optischen Gittern

Wenn zwei Laserstrahlen gegeneinander laufen, entsteht ein Interferenzmuster, in dem Gebiete mit höherer und niedrigerer Lichtintensität aufeinander folgen. Ist die Frequenz passend gewählt, dann „spüren” die Atome das Licht: sie haben niedrigere bzw. höhere Energie, je nachdem ob sie sich in Gebieten mit niedrigerer oder höherer Lichtintensität befinden. Bei ausreichend starker Kühlung werden deshalb Atome, die sich in den Strahlen befinden, in den Minima der Lichtintensität festgehalten. Über die Wahl der Laserkonfiguration ist es möglich unterschiedliche optische Gitter zu erzeugen, wie zum Beispiel das zweidimensionale, quadratische Gitter in Abbildung 3.

Ultrakalte Atome in optischen Gittern sind besonders vielseitige und gut kontrollierbare Systeme mit wenigen Defekten und es ist deshalb interessant unterschiedliche Quantenmodelle mit diesen Systemen zu simulieren. Für einige Modelle ist es schon gelungen, für andere ist es schwieriger.

Fraktionierte Quanten-Hall-Modelle in Gittern

Vor einigen Jahren zeigten Computerrechnungen, dass Gittermodelle existieren, die den FQH-Effekt aufweisen. Dabei werden die Modelle so entworfen, dass sie die Bedingungen in festen Stoffen so genau wie möglich nachbilden. Wie kann man zum Beispiel den Effekt des Magnetfelds auf Elektronen für ein System aus ultrakalten Atomen simulieren?

In der Quantenmechanik werden Teilchen auch als Wellen beschrieben. Wenn Teilchen mit einer elektrischen Ladung (wie zum Beispiel Elektronen in Festkörpern) sich in einem Magnetfeld bewegen, ändert sich die Phase der Welle. Das gilt aber nicht für neutrale Teilchen und deshalb können die Phasenänderungen hier nicht mit einem echten Magnetfeld bewirkt werden. Es besteht aber die Möglichkeit, die Phase der Teilchenwelle durch sogenanntes „laserassistiertes Springen” zu ändern [5]. Dabei werden die Atome mit Laserlicht beleuchtet. Nur dann, wenn ein Atom ein Lichtquant absorbiert und wieder emittiert hat, kann es von einem Gitterpunkt zu einem Nachbargitterpunkt springen (Abb. 2). Bei diesem Verfahren werden die Phasen der Laserstrahlen auf den Zustand des Atoms geprägt und dadurch ist die Phasenänderung erzielt.

Mithilfe solcher Techniken sind bereits Quantensysteme realisiert worden, an denen sich Eigenschaften, die eng mit dem integralen Quanten-Hall-Effekt verwandt sind, beobachten lassen [6]. FQH-Zustände sind aber weit schwieriger zu verwirklichen und zu detektieren, weil sie viel fragiler sind.

Neuer Weg zu fraktionierten Quanten-Hall-Modellen in Gittern

Wissenschaftler am MPI für Quantenoptik und der Universidad Autónoma de Madrid haben eine neue Methode vorgeschlagen, Gittermodelle zu entwickeln, die den FQH-Effekt aufweisen [7, 8]. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass FQH-Zustände in festen Stoffen bestimmte mathematische Eigenschaften haben. Die Idee ist es, Gittermodelle zu entwerfen, deren Wellenfunktion die gleichen mathematischen Eigenschaften wie die FQH-Zustände hat. Für solche Modelle können die Forscher sowohl die hier auftretenden Gitterzustände als auch die Bedingungen, unter denen diese zustande kommen, ableiten.

Die resultierenden Modelle beinhalten grundsätzlich auch Wechselwirkungen mit langer Reichweite zwischen weit voneinander entfernten Teilchen. Solche Wechselwirkungen sind im Experiment schwer zu realisieren. Bei einem spezifischen Modell, mit dem sich die Forscher intensiv beschäftigt haben, konnten sie jedoch nachweisen, dass die weitreichenden Wechselwirkungen hier nicht benötigt werden. Sie verfügen damit über ein Modell, das den FQH zeigt, obwohl es nur Wechselwirkungen mit kurzer Reichweite beinhaltet.

Rezept für eine experimentelle Umsetzung

Die Forscher haben auch ein Rezept für die experimentelle Umsetzung des Modells mit kurzreichenden Wechselwirkungen zwischen ultrakalten Atomen in optischen Gittern vorgeschlagen. Der experimentelle Aufbau ist in Abbildung 4 skizziert. Die acht orangefarbenen Laserstrahlen erzeugen zwei optische Gitter, die in blau und rot gezeichnet sind. Beide Gitter überlagern sich an derselben Stelle im Raum und die Intensitätsminima der zwei Gitter ergeben ein Schachbrettmuster. Die Atome können verschiedene innere Zustände annehmen. Abhängig davon, in welchem Zustand sie sich befinden, spüren sie entweder das blaue oder das rote Gitter, sie sind also entweder in einem roten oder einem blauen Minimum gefangen.

Die zwei blauen und vier roten Laserstrahlen sorgen dafür, dass die Atome sich nur innerhalb der Ebene, aber nicht senkrecht dazu, bewegen können. Und sie schaffen auch die Voraussetzung dafür, dass die Atome auf ein benachbartes Minimum einer anderen Farbe springen können. Bei diesem „Farbwechsel” müssen die Atome gleichzeitig ihren inneren Zustand ändern und diese Änderung ist durch die Wechselwirkung mit dem Laserlicht gesichert. Auf diese Weise erzielen die Forscher mit dem Springverfahren eine hohe Kontrolle über die Gitterzustände. Wenn sie die Phasen, Frequenzen und weiteren Eigenschaften der Laserstrahlen korrekt wählen, können sie so das theoretische Gittermodell realisieren.

Aussichten

Es gibt viele unterschiedliche FQH-Zustände. Deshalb möchten die Forscher mit der neuen Methode in Zukunft noch weitere FQH-Gittermodelle ableiten. Sie hoffen dadurch ihr Wissen über wann und wie dieses exotische Phänomen entsteht zu vertiefen.

Literaturhinweise

Hall, E. H
On a New Action of the Magnet on Electric Currents
American Journal of Mathematics 2, 287-292 (1879)
von Klitzing, K.
The quantized Hall effect
Reviews of Modern Physics 58, 519-531 (1986)
Tsui, D. C.; Stormer, H. L.; Gossard, A. C.
Two-Dimensional Magnetotransport in the Extreme Quantum Limit
Physical Review Letters 48, 1559-1562 (1982)
Stormer, H. L.
Nobel Lecture: The fractional quantum Hall effect
Reviews of Modern Physics 71, 875-889 (1999)
Jaksch, D.; Zoller, P.
Creation of effective magnetic fields in optical lattices: the Hofstadter butterfly for cold neutral atoms
New Journal of Physics 5, 56.1-56.11 (2003)
Aidelsburger, M.; Lohse, M.; Schweizer, C.; Atala, M.; Barreiro, J. T.; Nascimbène, S.; Cooper, N. R.; Bloch, I.; Goldman, N.
Measuring the Chern number of Hofstadter bands with ultracold bosonic atoms
Nature Physics 11, 162-166 (2015)
Nielsen, A. E. B.; Cirac, J. I.; Sierra, G.
Laughlin Spin-Liquid States on Lattices Obtained from Conformal Field Theory
Physical Review Letters 108, 257206 (2012)
Nielsen, A. E. B.; Sierra, G.; Cirac, J. I.
Local models of fractional quantum Hall states in lattices and physical implementation
Nature Communications 4, 2864 (2013)
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