Drei Stunden Leben pro Euro

Effekt des Mauerfalls: Mehr an Rente und KV-Leistung verhilft Ostdeutschen zu längerem Leben

15. Oktober 2014

Öffentliche Gelder haben spürbar dazu beigetragen, dass die Lebenserwartung in den neuen Bundesländern angestiegen ist und zu der des Westens aufgeschlossen hat. Einen solchen bisher strittigen Effekt auf die Lebenslänge haben Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDR) in Rostock nun erstmals quantifiziert: Mit jedem Euro, um den die Renten und die Leistungen der Krankenversicherungen in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung stiegen, wuchs die Lebenserwartung dort jährlich um durchschnittlich drei Stunden pro Kopf.

Männer und Frauen in Ostdeutschland leben länger als zu Zeiten des Mauerfalls. Wie viel genau, das ergeben nun Berechnungen, die mit neuartigen, altersspezifischen Daten zu öffentlichen Ausgaben bis ins Jahr 2000 möglich waren. MPIDR-Demograf Tobias Vogt veröffentlichte die Ergebnisse jetzt im Wissenschaftsjournal „Journal of the Economics of Ageing“.

Vom Mauerfall bis zur Jahrtausendwende war die Lebenserwartung in den neuen Bundesländern mit einem Plus von fast vier Jahren stark gestiegen. Noch 1989 war im Osten mit durchschnittlich 73,5 Jahren ein deutlich kürzeres Leben zu erwarten als im Westen mit 76,0. Schon zur Jahrtausendwende war diese Ost-West-Differenz von zweieinhalb Jahren auf weniger als ein Jahr geschrumpft. Gleichzeitig legten die öffentlichen Ausgaben für die Sozialversicherung der Ostdeutschen durchschnittlich von rund 2100 Euro pro Person und Jahr auf knapp 5100 Euro zu.

Gesundheitsausgaben wichtiger als Rente

„Dem oft als Explosion bezeichneten Anstieg der Sozialausgaben im Zuge der Wiedervereinigung steht ein erfreulicher Sprung in der Lebenserwartung gegenüber“, sagt Tobias Vogt. Wenn Geld in die Angleichung der Lebensstandards fließe, könne sich dadurch auch das Sterberisiko angleichen. „Wenn über die gesellschaftliche Alterung geredet wird, werden Ausgabenerhöhungen fast immer als deren Konsequenz gesehen“, sagt der Rostocker Forscher. „Unsere Analyse zeigt, dass sie andersherum aber auch eine Investition in ein längeres Leben sein können.”

Zusätzliche Ausgaben im Gesundheitssystem wirken dabei offenbar stärker als Erhöhungen der Rente: Jeder Euro, den die gesetzlichen Krankenversicherungen im Osten mehr ausgaben, trug zweieinhalb Mal so viel zur Senkung der Sterblichkeit bei als jeder zusätzliche Euro für das Rentensystem. „Eine bessere gesundheitliche Versorgung ist am wichtigsten für ein längeres Leben“, sagt Demograf Vogt. Schließlich bedeuteten steigende Kosten in der Krankenversicherung auch mehr und hochwertigere ärztliche Behandlung sowie eine bessere Versorgung mit Medikamenten und anderen Gesundheitsleistungen. „Ohne die Angleichung der Rentenzahlungen hätte die Schere zwischen den Lebenserwartungen in Ost und West aber nicht geschlossen werden können“, sagt Tobias Vogt. Denn bei gleicher medizinischer Versorgung sei der Lebensstandard entscheidend. Und den bestimme maßgeblich die Rente.

Wiedervereinigung als großes Sozialexperiment

Bisher war unklar, welchen Einfluss öffentliche Sozialausgaben auf die anhaltende Verlängerung unseres Lebens haben. Das wiedervereinigte Deutschland bezeichnet MPIDR-Forscher Vogt als ideales „Sozialexperiment“, um diese Frage zu klären. Es liefert den historischen Ausnahmefall von zwei Bevölkerungen mit unterschiedlichen Sozialsystemen und Lebenserwartungen, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte angleichen. Der MPIDR-Vergleich von Ost und West wurde möglich, da mit dem neuen Forschungsdatensatz „National Transfer Accounts“ erstmals Daten sowohl zu Renten- als auch zu Gesundheitsausgaben für einzelne Altersgruppen vorlagen. Dadurch konnten die MPIDR-Wissenschaftler ihre Analyse auf Menschen ab 65 Jahren eingrenzen. So schlossen sie weitere wichtige Einflüsse auf die Lebenserwartung wie Bildung und Migration aus, da diese Faktoren vor allem die Jüngeren betreffen.

SB

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