Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Struktur und chemische Zusammensetzung von inneren Grenzflächen in verschiedenen Materialien

Autoren
Rühle, Manfred
Abteilungen

Gefüge und Grenzflächen (Prof. Dr. Manfred Rühle)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Die meisten Materialien für technische Anwendungen sind polykristallin: Sie bestehen aus kleinen Kristalliten oder Körnern, die entlang von Korngrenzen aneinander stoßen. Diese flächenhaften Defekte (innere Grenzflächen) haben großen Einfluss auf viele, auch technisch relevante Materialeigenschaften. Es ist durch vielseitige Untersuchungen bewiesen, dass die makroskopischen Eigenschaften von Korngrenzen eindeutig mit ihrem mikroskopischen Aufbau zusammenhängen. Da für nanokristalline Materialien der Volumenanteil an Korngrenzen oft mehrere Prozent beträgt, kommt bei diesen neuartigen Materialien der Nanowelt den Korngrenzen ganz besonderes Gewicht zu. Im Folgenden sollen kurz die Ergebnisse von experimentellen und theoretischen Untersuchungen an Korngrenzen in α-Al2O3 (Korund) und an der Phasengrenze in Cu/α-Al2O3 berichtet werden. Für Korund erfolgten Untersuchungen an künstlich hergestellten Bikristallen. Bei diesen wurde sowohl die Grenzflächenebene als auch die Missorientierung zwischen den beiden aneinander stoßenden Kristallen vorher festgelegt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen können mit den Ergebnissen der theoretischen Analysen verglichen werden. Außerdem erfolgten Untersuchungen an "realen" Sinterkörpern aus polykristallinem α-Al2O3. Außerdem soll kurz auf die Ergebnisse der Untersuchungen zur Grenzfläche zwischen Cu und α-Al2O3 eingegangen werden.

Seit geraumer Zeit erfolgen am Max-Planck-Institut für Metallforschung Untersuchungen zur Struktur und Zusammensetzung von inneren Grenzflächen. Dies beinhaltet die experimentelle und theoretische Bestimmung der Position und Natur von Atomen (Ionen) nahe der Grenzfläche. Prinzipiell müssen zwei verschiedene Arten von inneren Grenzflächen unterschieden werden: Homophasige Grenzflächen (Korngrenzen, Zwillinge, Domänengrenzen, ...), das sind Grenzflächen bei denen das gleiche Material derselben Zusammensetzung und derselben Struktur aneinander stoßen. Bei heterophasigen Grenzflächen ist entweder die Struktur und/oder die Zusammensetzung der beiden an die Grenzfläche anstoßenden Materialien verschieden. Als Beispiel seien hier genannt: Metall/Keramik-Grenzflächen, Grenzflächen zwischen verschiedenen Metallen oder verschiedenen Keramiken.

Die atomistische Struktur spezifischer Grenzflächen kann mithilfe der höchstauflösenden Transmissionselektronenmikroskopie mit höchster Präzision ermittelt werden. Informationen über die dreidimensionale Anordnung der Atome erhält man aus einer Serie von Untersuchungen. Es müssen dabei unter verschiedenen Einstrahlrichtungen tomographische Untersuchungen vorgenommen werden, da mit der Transmissionselektronenmikroskopie die Projektion der Atome auf die Abbildungsebene erfasst wird.

Mithilfe der analytischen Elektronenmikroskopie (mit höchster lateraler Auflösung) können außerdem Informationen über Zusammensetzung und Bindungsverhältnisse an Grenzflächen gewonnen werden. Diese Informationen resultieren aus der Analyse der aus den inelastischen Streuprozessen herrührenden Signale. Zur Ermittlung dieser Größen findet in zunehmendem Maße die Elektronenenergieverlustspektroskopie ihre Anwendung. Mit dieser können die Zusammensetzung und Bindungsverhältnisse zwischen den Atomen (Ionen) der ausgewählten Probenstelle mit (nahezu) atomarer Auflösung erfasst werden. Die Bindungsverhältnisse lassen sich aus der Feinstruktur der Energieverlustkanten ermitteln [1].

Neben den experimentellen Untersuchungen erfolgen auch theoretische Untersuchungen zur Struktur und zu den Bindungsverhältnissen an Grenzflächen. Hierbei wird durch einen Algorithmus die Struktur der kleinsten Energie ermittelt. Auch Berechnungen zum Segregationsverhalten können mithilfe von theoretischen Simulationen erfolgen. Allerdings müssen für den Fall verschiedenartiger Atome meist Ab-initio-Rechnungen durchgeführt werden. Mit dieser Methode können nur eine begrenzte Anzahl von Atomen erfasst werden (≤ 100) [2].

Innere Grenzflächen in Korund (Saphir)

Korund (α-Al2O3) ist eine technische Keramik, die in vielen Bereichen der Technik und Wissenschaft zum Einsatz kommt. Diese Keramik besitzt eine hohe Festigkeit und einen hohen elektrischen Widerstand. Einkristallines α-Al2O3 wird als Saphir bezeichnet.

Aufgrund der sehr dichten Kristallstruktur von Saphir (s. Abb. 1) und aufgrund der äußerst geringen Löslichkeit der meisten Elemente in α-Al2O3 werden sehr viele Eigenschaften von polykristallinem α-Al2O3 durch die Korngrenzen bestimmt. Ein systematischer Zugang zu den mit den Korngrenzeneigenschaften verbundenen mikroskopischen Eigenschaften wurde am Institut über die vergangenen Jahre hinweg unternommen. Untersuchungen erfolgten an Modellgrenzflächen, die durch Verschweißung von einkristallinen Proben mit wohldefinierten Grenzflächenebenen und Missorientierungen unter Ultrahochvakuumbedingungen hergestellt worden sind. Um die so gewonnenen Ergebnisse nach Möglichkeit auf eine reale Korngrenze verallgemeinern zu können, mussten verschiedene Grenzflächen untersucht und für dieselben Grenzflächen dann atomistische Simulationen durchgeführt werden. Parallel dazu erfolgten Beobachtungen an dichten polykristallinen Keramiken, die durch Sintern hergestellt worden waren. Voraussetzung waren allerdings ultrareine Herstellungs- und Sinterbedingungen in einem speziell dafür angefertigten Sinterofen. Durch die kontaminationsfreien Sinterprozesse konnte vermieden werden, dass sich die sonst in Keramiken üblichen Verunreinigungen in das Material einschleichen.

Abbildung 1 zeigt beispielhaft die Struktur einer bestimmten künstlich hergestellten Korngrenze für zwei verschiedene Einstrahlrichtungen. In Abbildung 1a sind zunächst schematisch die ausgewählten geometrischen Parameter dargestellt. Abbildung 1b zeigt das mithilfe der hochauflösenden Elektronenmikroskopie gewonnene Bild in der Orientierung I. Das atomistische Modell, das auch durch Simulationen bestimmt werden konnte, ist in Abbildung 1b eingefügt. Das dargestellte Modell diente als Grundlage für die Kontrastsimulation. Abbildung 1c zeigt dieselben Korngrenzen für die Orientierung II. Die Auswertung der experimentell gewonnenen Ergebnisse umfasste folgende Schritte: Nachdem zunächst eine atomare Struktur der ausgesuchten Korngrenze eingeführt wurde, erfolgt für die am Mikroskop eingestellten Abbildungsbedingungen eine Kontrastsimulation. Das simulierte Bild wird daraufhin mit dem experimentell gewonnenen verglichen und alle Bereiche identifiziert, bei denen keine befriedigende Übereinstimmung zwischen den beiden Bildern vorliegt. Für diese Bereiche müssen dann die Positionen der Säulen der Sauerstoff- und Aluminiumionen im Strukturmodell so lange variiert werden, bis die beste Übereinstimmung zwischen simuliertem und experimentellem Bild erreicht ist. Die so erhaltene atomare Konfiguration stimmt mit sehr guter Präzision (atomare Position von Aluminium-Säulen ± 0,1 Å, von Sauerstoffsäulen ± 0,3 Å) mit den mithilfe von theoretischen Simulationen gewonnenen Strukturen überein. In dieser Grenzfläche konnten keinerlei Verunreinigungen festgestellt werden. (Die Nachweisgrenze liegt bei 0,1 Atome pro nm2 der Grenzfläche). Die Sauerstoff-K-Kante der Energieverlustspektren wurde untersucht und hierbei wiederum die experimentell gewonnenen Ergebnisse mit der theoretisch gewonnenen Feinstruktur der Kanten verglichen. Die hervorragende Übereinstimmung zeigt [3], dass so ein konsistentes Bild der atomaren Struktur der Korngrenze mit höchster Präzision erreichbar ist. Die experimentellen und theoretischen Untersuchungen an den künstlich hergestellten reinen Bikristallen wurden auf Korngrenzen erweitert, auf denen kleine Mengen von Y-Zusätzen segregiert waren. Zwar konnte mit den vorhandenen Geräten die mittlere Belegung mit Verunreinigungen ermittelt werden, doch die genaue Position der Verunreinigungsatome noch nicht bestimmt werden [4].

Das Sintern von ultrareinen Al2O3-Pulvern wurde untersucht. Neben dem hochreinen Material wurden Werkstoffe gesintert, bei denen bestimmte kleine Mengen von Yttriumoxid (Y2O3 = Yttria) zugefügt wurden. Die Verdichtung und das Kornwachstum wurden in den verschiedenen reinen bzw. mit Yttrium dotierten Materialien untersucht. Es zeigte sich, dass sich ein normales Kornwachstum ausbildet, bei dem sich die Verteilung der Korngröße normal verbreitert, ohne dass dabei einige bestimmte Körner besonders stark wachsen, was dem anormalen Kornwachstum entspräche [5]. An den verschiedenen Materialien wurde die Segregation der zugefügten Verunreinigungen an den Korngrenzen ermittelt. Die Segregation von Yttrium ist - für ein bestimmtes Material - an allen Korngrenzen ungefähr gleich groß [5]. Mit zunehmendem Dotierungsgehalt nimmt die Segregation von Yttrium an den Korngrenzen zu. Dies gilt bis zu einer Yttriumsegregation von 8 Y-Ionen/nm2 Grenzfläche. Bei zunehmender Dotierung von Y2O3 bilden sich an den Korngrenzen (meistens Trippelpunkte) neue Kristalle, die aus Yttriumgarnet (YAG) bestehen. Diese Y-haltigen Ausscheidungen sind mit der segregierten Korngrenze im thermodynamischen Gleichgewicht.

Diffundieren zusätzlich kleinste Mengen von SiO2 in das Material ein, was durch Glühen in einer SiO2-haltigen Atmosphäre erfolgt, so beginnt ein neuer, äußerst interessanter Prozess. Das in der Atmosphäre vorhandene SiO2 diffundiert entlang den Korngrenzen ein und beeinflusst zunächst das Kornwachstum nicht. Allerdings tritt, wie aus Abbildung 2 leicht zu entnehmen ist, in diesen Materialien anormales starkes Kornwachstum auf: Einzelne Körner wachsen ganz stark auf Kosten der anderen. In diesen Materialien wurden an der die großen Körner begrenzenden Korngrenze die Natur und Menge an segregierten Verunreinigungen bestimmt. Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass das anormale Wachstum dann auftritt, wenn die Belegung mit Yttrium und Silizium folgende Bedingung erfüllt: 6 ΓY + ΓSi ≥ 60 nm-2. (ΓY, ΓSi: Überschusskonzentration von Y bzw. Si an der Korngrenze).

Die Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass die Präsenz von Y und Si an Korngrenzen zu einer "Transformation" der Korngrenzenstruktur führt. Beispielhaft ist in Abbildung 3 eine solche "transformierte" Korngrenze abgebildet. Entlang der Korngrenze lässt sich eindeutig eine ungeordnete amorphe Korngrenzenphase mit einer Dicke von ~ 0,5 bis 0,7 nm erkennen [6]. Die ungeordnete Korngrenze enthält beide Zusatzelemente, Y und Si. Hierbei wurden dann durch die Bewegung der Korngrenzen (des anormal gewachsenen Kornes) über viele Korngrenzen der kleinen Körner hinweg alle Verunreinigungen an der verbleibenden Korngrenze aufgesammelt, was dann zu der "Transformation" führt.

Weitere Untersuchungen zum Segregations- und Umwandlungsverhalten der Korngrenzenphasen werden sicherlich dazu führen, ein vollständiges Verständnis des Wachstums von Korngrenzen mithilfe von Modellrechnungen an wohldefinierten Korngrenzen zu erreichen.

Grenzflächen zwischen Metallen und Keramiken: Untersuchungen zur Grenzfläche zwischen Kupfer und Saphir

Metall/Keramik-Grenzflächen kommen in Forschung und Industrie eine große Bedeutung zu, insbesondere auch für die elektronische Industrie. Aus diesem Grunde erfolgen seit geraumer Zeit Untersuchungen an diesen Grenzflächen. Die experimentellen Untersuchungen werden durch entsprechende theoretische Simulationen flankiert. Experimentelle und theoretische Untersuchungen ergaben, dass das Bindungsverhalten (die Festigkeit) der Grenzfläche von den atomaren Bedingungen unmittelbar an der Grenzfläche abhängt. Theoretisch wurde vorhergesagt, dass die jeweils an die Korngrenze anstoßende Atomart einen entscheidenden Einfluss auf die Bindungsstärke über die Heterogrenzfläche hinweg hat. Untersuchungen wurden an der Grenzfläche zwischen der Basalebene von α-Al2O3 und Kupfer durchgeführt. Die α-Al2O3-Grenzfläche lässt sich experimentell so präparieren, dass sie entweder durch Sauerstoffionen - Al2O3(O) - oder durch Aluminiumionen - α-Al2O3(Al) - terminiert ist. Auf die entsprechenden Oberflächen des Saphirs erfolgte eine Abscheidung von Kupfer mithilfe der Molekularstrahlepitaxie. Die Dicke der abgeschiedenen Schichten betrug einige 100 nm. An den Proben erfolgten wiederum Untersuchungen mithilfe der hochauflösenden und analytischen Elektronenmikroskopie. Die Untersuchungen bestätigen, dass an der Al2O3(Al)/Cu-Grenzfläche eine Bindung zwischen metallischem Kupfer und Aluminium vorliegt. Dagegen erfolgt die Bindung an der Al2O3 (O)/Cu-Grenzfläche zwischen Sauerstoff und Kupfer. Die höhere Haftstärke an der Al2O3(O)/Cu-Grenzfläche wird durch eine Analyse der atomistischen Struktur bestätigt. Während die Al2O3(Al)/Cu-Grenzfläche vollständig inkohärent ist, konnten an der Al2O3(O)/Cu-Grenzfläche Fehlpassungsversetzungen gefunden werden. Dies deutet darauf hin, dass an der letzteren Grenzfläche die Bindungen über die Grenzfläche hinweg so stark sind, dass sich eine teilkohärente Grenzfläche ausbildet (Abb. 4).

Dynamische Experimente (In-situ-Experimente) bei hohen Temperaturen im Höchstauflösungselektronenmikroskop erlaubten außerdem bei einer Temperaturänderung der Probe die Bildung bzw. das Ausheilen von Fehlpassungsversetzungen direkt zu beobachten. Die gefundenen Beobachtungen sind mit den theoretischen Erwartungen im Einklang.

Die Grenzfläche zwischen den beiden Komponenten Kupfer und Al2O3 lässt sich außerdem durch andere "chemische" Effekte manipulieren. Zum einen kann die Festigkeit der Grenzfläche durch eine an der Grenzfläche aufgebrachte monoatomare Schicht von Titan wesentlich erhöht werden (Abb. 5). Die entsprechende Grenzfläche wurde mithilfe der hochauflösenden und der analytischen Elektronenmikroskopie untersucht und die Haftfähigkeit durch Eindrücke bestimmt.

Außerdem kann die Grenzflächenadhäsion (mechanische Eigenschaften) durch Bildung einer Oxidschicht erhöht werden: Auslagern der Grenzfläche unter einem bestimmten Sauerstoffpartialdruck führt zur Ausbildung einer sehr dünnen CuAlO2-Schicht (Delafossitstruktur). Diese Grenzflächenschicht führt wiederum zu einer Erhöhung der Adhäsion [6].

Durch diese grundlagenorientierten Untersuchungen an der Cu/α-Al2O3-Grenzfläche konnten wesentliche Beiträge zur Korrelation zwischen Gefüge und mechanischen Eigenschaften von Verbundwerkstoffen beigesteuert werden. Manipulationen auf atomarer Ebene lassen eine starke Beeinflussung der mechanischen Eigenschaften dieser Grenzflächen zu.

Literatur

[1] K. van Benthem, S. Krämer, W. Sigle, Z. Zhang, and M. Rühle: Structural and Chemical Analysis of Materials with High Spatial Resolution. Mikrochimica Acta 138, 181-193 (2002).

[2] S. Fabris and C. Elsässer: First Principle Analysis of Cation Segregation at Grain Boundaries in α-Al2O3. Acta Materialia 51, 71-86 (2003).

[3] S. Nufer, A. G. Marinopoulos, T. Gemming, C. Elsässer, W. Kurtz, S. Köstlmeier, and M. Rühle: Quantitative Atomic-Scale Analysis of Interface Structures: Transmission Electron Microscopy and Local Density Functional Theory. Physical Review Letters 86, 5066-5069 (2001).

[4] T. Gemming, S. Nufer, W. Kurtz, and M. Rühle: Structure and Chemistry of Symmetrical Tilt Grain Boundaries in α-Al2O3: I, Bicrystals with "Clean" Interface. Journal of the American Ceramic Society 86, 581-589 (2003). Structure and Chemistry of Symmetrical Tilt Grain Boundaries in α-Al2O3: II, Bicrystals with Y at the Interface. Journal of the American Ceramic Society 86, 590-594 (2003).

[5] R. Voytovych, I. MacLaren, M. A. Gülgün, R. M. Cannon, and M. Rühle: The Effect of Yttrium on Densification and Grain Growth in Alpha-Alumina. Acta Materialia 50, 3453-3463 (2002).

[6] I. MacLaren, R. M. Cannon, M. A. Gülgün, R. Voytovych, N. Popescu-Pogrion, C. Scheu, U. Täffner, and M. Rühle: Abnormal Grain Growth in Alumina: Synergistic Effects of Yttria and Silica. Journal of the American Ceramic Society 86, 650-659 (2003).

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