Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung

Evolutionäre Demografie: Neue Perspektiven für die Erforschung des Alterns und der Langlebigkeit

Autoren
James W. Vaupel; Kristín G. v. Kistowski
Abteilungen

Altern und Langlebigkeit (James Vaupel)
MPI für demografische Forschung, Rostock

Zusammenfassung
Die evolutionäre Demografie ist ein neues Forschungsfeld an der Schnittstelle von Demografie, Evolutionsökologie, Lebenszyklusbiologie und Mathematik. Dieser interdisziplinäre Ansatz soll zur Klärung der grundlegenden Frage beitragen, weshalb wir altern. Dazu werden die Mechanismen untersucht, die die Muster von Sterblichkeit, Reproduktion, Wachstum sowie der Beschaffung und des Transfers von Ressourcen in der Evolution geformt haben.

Die Lebenserwartung des Menschen steigt, und alles deutet darauf hin, dass sich dieser Trend weiter fortsetzt.

Der Mensch liefert ein einrucksvolles Beispiel für die Plastizität des Alterns. Dies provoziert Fragen nach dem Wie, das heißt nach den Faktoren, die den Alterungsprozess beeinflussen und ihn verlangsamen können. Von ebenso großer Bedeutung ist die Frage nach dem Warum, das heißt nach den allgemeinen und grundlegenden Prinzipien der Langlebigkeit, der Seneszenz und der Mortalität: Warum kann unsere Lebenserwartung weiter steigen und die Natur setzt dem nichts entgegen? Warum altern wir überhaupt? Gibt es definierte Lebensspannen und unüberwindliche Hürden der Lebenserwartung? Zeigt sich eine Plastizität des Alterns auch bei anderen Arten oder ist sie ein für den Menschen spezifisches Phänomen?

Die evolutionäre Demografie führt als neues interdisziplinäres Forschungsfeld Demografie, Evolutionsökologie, Lebenszyklusbiologie und Mathematik zusammen. Über mathematische Modelle, Feldstudien und experimentelle Ansätze versucht sie, allgemeingültige Antworten auf die Fragen nach dem Warum zu finden und zu einem tieferen Verständnis der Natur von Mortalität, Fertilität und anderen Prozessen zu kommen, die die Dynamik und Struktur von Populationen bestimmen. Wie die Evolutionsbiologie stützt sich die evolutionäre Demografie auf das Konzept der natürlichen Selektion als treibende Kraft der Evolution. Sie konzentriert sich dabei insbesondere auf Mortalitäts- und Fertilitätsmuster, die einerseits Ergebnisse evolutionärer Prozesse sind, andererseits gemeinsam die Dynamik von Populationen bestimmen und damit evolutionäre Prozesse antreiben.

Um allgemeine Aussagen über den Alterungsprozess und die Langlebigkeit machen zu können und evolutionäre Mechanismen zu ergründen, ist die vergleichende Betrachtung der Lebenszyklen unterschiedlicher Arten hilfreich. Theoretische Modelle zeigen das Wirken evolutionärer und demografischer Kräfte auf, die altersspezifische Sterbe- und Fortpflanzungsmuster formen. Die Verbindung von biologischem und demografischem Denken sowie von mathematisch-statistischen und experimentellen Methoden ermöglicht neue Perspektiven auf die seit Menschengedenken gestellte Frage, warum das Altern zum Leben des Menschen gehört.

Die klassische Evolutionstheorie des Alterns an ihren Grenzen

Nach der klassischen Evolutionstheorie ist das Altern unvermeidbar: Der Alterungsprozess und mit ihm einhergehend die schwindende Funktionsfähigkeit und Gesundheit ist ihr zu Folge das unausweichliche Ergebnis nachlassender selektiver Kräfte mit zunehmendem Alter. Denn die natürliche Selektion maximiert keineswegs die Lebenszeit eines Individuums, sondern dessen Fitness, das heißt den Beitrag, den ein Individuum zur fortpflanzungsfähigen Nachfolgegeneration leistet. Beim Gros der sich geschlechtlich fortpflanzenden Arten zeigt sich daher Seneszenz: Die Mortalitätsrate erhöht sich mit steigender Anzahl von Lebensjahren. Einflussreiche Evolutionsbiologen entwickelten Theorien, um dieses Phänomen zu erklären. William D. Hamilton [1] machte deutlich, dass die Selektion keinen Druck gegen schädliche, sich spät im Lebenslauf ausprägende Mutationen ausübt, sobald die Reproduktionsphase einmal abgeschlossen ist. Solche Mutationen können den Reproduktionserfolg nicht mehr beeinflussen. Hamilton folgerte daher, dass sich Mutationen in höheren Lebensaltern anreichern müssten und den Alterungsprozess bewirken, der den Tod schließlich immer wahrscheinlicher macht. Ein weiteres evolutionäres Modell, das Modell der atagonistischen Pleiotropie von George Williams [2] erklärt den Alterungsprozess mit einem Optimierungsansatz: Mutationen, die in frühen Lebensphasen vorteilhafte Effekte auf das Überleben und den Fortpflanzungserfolg hätten, könnten sich auch dann im Laufe der Evolution durchsetzen, wenn sie sich erst später im Leben gegenteilig auswirkten.

Die klassische Evolutionstheorie des Alterns, die jahrzehntelang als schlüssiges Konzept gelehrt wurde, wird angesichts neuerer Erkenntnisse über die Plastizität des Alterns nun aber stark kritisiert. Denn die Mortalitätsrate steigt nicht, wie durch die Theorie vorhergesagt, in jedem Fall fortschreitend nach der Reproduktionsphase an. Viele Mortalitätsmuster, die bei unterschiedlichen Arten beobachtet werden können, bleiben durch die klassische Theorie unerklärt. Ihre Allgemeingültigkeit wird daher mehr und mehr in Frage gestellt. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung beteiligt sich an der Ausformulierung dieser fundamentalen Kritik und an der Entwicklung neuer evolutionsdemografischer Prinzipien des Alterns und der Langlebigkeit.

Neben Mortalitäts- und Fertilitätsmustern müssen Transfers berücksichtigt werden

Ein wichtiger Kritikpunkt an der klassischen Evolutionstheorie des Alterns ist, dass sie keine Erklärung dafür liefert, dass Menschen und andere sozial lebende Arten ihre Reproduktionsphase weit überleben. Denn diese sagt grundsätzlich ein starkes Ansteigen der Mortalitätsrate nach der Beendigung der reproduktiven Phase voraus. Auch nachdem die Nachkommen in die Welt gesetzt worden sind, können generationenübergreifende Ressourcentransfers, etwa in Form von Brutpflege, geleistet werden, die den Reproduktionserfolg erhöhen können. So kann das effektive Ende der Reproduktionsphase weit jenseits der reinen Fertilitätsphase liegen und eine verlängerte Lebensspanne auch im evolutionären Kontext begründen. Mithilfe von Simulationsmodellen, in denen Ressourcen innerhalb kleiner Verwandtengruppen von Individuen transferiert werden, sollen die verschiedenen Prozesse der Mortalität, der Fertilität und der Transfers studiert werden.

Langlebigkeit ist plastisch und induzierbar

Das Altern ist plastischer, als es allgemeine Vorstellungen und die klassische evolutionsbiologische Theorie des Alterns vermuten lassen. So geht etwa die Lebenserwartung des Menschen derzeit deutlich über das Alter hinaus, bis zu dem typischerweise nachkommende Generationen mit Ressourcen oder Fürsorge unterstützt werden können. Die Analyse größerer Kohorten zeigt, dass der Anstieg der Sterberaten sich im sehr hohen Alter verlangsamt und bei den derzeit höchsten zu erreichenden Altern sogar abnehmen kann. Der Mensch steht mit dieser Beobachtung nicht allein da, denn der Rückgang der Mortalität im hohen Alter konnte auch bei Versuchen mit verschiedenen Modellorganismen beobachtet werden, unter ihnen der Fadenwurm Caenorhabditis elegans, die Fruchtfliege Drosophila melanogaster oder die Bierhefe Saccharomyces cervisiae. Aus streng evolutionsbiologischer Sicht scheint dies unsinnig. Weshalb setzt die Natur dieser extremen Verlängerung postreproduktiven Überlebens nichts entgegen?

Evolutionsdemografische Erkenntnisse bieten verschiedene Erklärungen dafür an. Eine mögliche Erklärung stützt sich auf die Heterogenität von Populationen. Beobachtet man die Sterblichkeit in einer Population über die Zeit, so ergeben sich Veränderungen in der Zusammensetzung der Population. Widerstandsfähige Individuen haben eine größere Überlebenswahrscheinlichkeit als die weniger Widerstandsfähigen, so dass der Anteil der Robusten durch das Ausscheiden der Schwächeren stetig zunimmt. Die Mortalitätskurve berechnet sich aufgrund der gesamten Population. Durch das Ausscheiden der schwächeren Individuen wird die Population immer homogener und die Kurve nähert sich dem Sterblichkeitsverlauf der widerstandsfähigsten Individuen an. Dies zeigt sich im Abflachen der Mortalitätskurve.

Umweltbedingungen, die auf Mortalitäts- und Fertilitätsmuster Einfluss nehmen, weisen den Weg zu einer zweiten Erklärung. Einer der Wegbereiter der Demografie, Alfred J. Lotka, stellte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts eine Gleichung für stabile Populationen mit vereinfachten Annahmen auf, die von festen Fertilitäts- und Mortalitätsverläufen ausgehen. Diese Annahmen spiegeln jedoch nicht die Wirklichkeit wider: Umweltbedingungen sind unsicher und Schwankungen unterworfen und sorgen dafür, dass sich diese Muster verändern. Viele Arten können auf widrige Umweltbedingungen und schlechte Versorgungslagen mit Ruheperioden unter herabgesetztem Stoffwechsel reagieren. Experimente mit Modellorganismen wie dem Fadenwurm und der Fruchtfliege zeigen, dass der Alterungsprozess auf unterschiedliche Weise, etwa durch Ernährungsdefizite oder Stress wie zum Beispiel durch Hitze oder Strahlung verzögert werden kann. Neben einer erhöhten Stressresistenz kann der Stress auch Langlebigkeit und verschobene Fertilitätsphasen hervorrufen. Dabei hängen altersspezifische Sterberaten stark von den gegenwärtigen Bedingungen und Verhaltensweisen ab, mehr als von denen früherer Lebensphasen. Selbst einzelne Gene können die Lebensspanne beeinflussen, wie sich an Modellorganismen zeigen lässt. Der evolutionstheoretische Ansatz nach Lotka muss somit überdacht werden. Es gilt, die Flexibilität und Plastizität von wechselwirkenden Mortalitäts- und Fertilitätsmustern zu integrieren.

Der Prozess des Alterns – ein Naturgesetz?

Der Evolutionsbiologe Hamilton [1] beschrieb die Seneszenz als „unausweichliches Ergebnis der Evolution“, das bis in die „letzten Ecken jeglichen noch so bizarren Universums“ verbreitet sei, und unterstrich damit die Allgemeingültigkeit des Musters ansteigender Mortalitätsraten nach dem Beginn der reproduktiven Phase. Er bemerkte dabei selbst, dass sein Modell elterliche Fürsorge unberücksichtigt ließ, übersah aber weitere Schwächen seines Erklärungspfads. Denn abgesehen von so genannten semelparen Arten, die nach ihrer ersten und einzigen Fortpflanzung sterben, sind theoretisch verschiedene Entwicklungen der Seneszenz denkbar [3].

Nach der jugendlichen Entwicklungsphase mit sinkender Mortalität bis zum Einsetzen der Geschlechtsreife kann die Mortalität entweder zunehmen (Alterung bzw. Seneszenz), sie kann auf einem konstanten Niveau verweilen (vernachlässigbare Seneszenz) oder sogar sinken (negative Seneszenz). Tatsächlich finden sich Arten mit vernachlässigbarer oder negativer Seneszenz. Viele Pflanzen, etwa Bäume, kennzeichnet negative Seneszenz. Ihre Mortalitätsrate sinkt mit steigendem Alter – bei steigender Samenproduktion und Größe. Ebenso erfahren einige Tiere, beispielsweise Korallen, einige Schnecken, Muscheln oder Seegurken, die während ihres adulten Lebens weiter wachsen und sich zunehmend vermehren, ein kontinuierlich abfallendes Sterberisiko. Die extrem niedrigen Mortalitätsraten beim Süßwasserpolypen Hydra legen sogar das Fehlen jeglichen Alterns nahe.

Größer und jünger mit dem Alter – der Einfluss der Körpergröße und der Regenerationsfähigkeit auf die Mortalitätsrate

Zwei Gründe, die ihrerseits in Verbindung stehen, machen die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung für die Erscheinung der vom Hamilton-Modell abweichenden Seneszenzmuster verantwortlich [4]. Erstens scheint negative Seneszenz für Arten kennzeichnend zu sein, die im Laufe ihres fortpflanzungsaktiven Adultstadiums kontinuierlich weiter wachsen. Zu solchen Arten gehören unter anderem die meisten Bäume, viele ausdauernde Pflanzen, einige Algen, eine Reihe von modular aufgebauten tierischen Organismen wie Korallen sowie einzelne Mollusken (Weichtiere wie Schnecken und Muscheln) oder Echinodermen (Stachelhäuter wie Seelilien und Seesterne). Viele dieser fortschreitend wachsenden Arten verfügen über ein hohes Maß an Regenerationsvermögen, so dass Körperteile oder sogar der ganze Körper dem als wear and tear bezeichneten Verschleißprozess durch Reparatur- oder Erneuerungsprozesse entgehen können. Der Körper kann so in Teilen „verjüngen“, was ein durchschnittliches biologisches Alter des Gesamtorganismus zur Folge hat, das unterhalb des chronologischen Alters liegt. Dies gibt Anlass zu der Hypothese, dass negative Seneszenz vor allem für Arten charakteristisch ist, die regenerationsfähig sind und deren Reproduktionsleistung mit dem Alter und der Größe steigt.

Zweitens könnten folgende Merkmale für Arten mit negativer Seneszenz kennzeichnend sein: Eine anhaltende Oogenese (Eireifung im Eierstock), die Verfügbarkeit von Stammzellen, das Fehlen einer Trennung in Soma (Körper) und Keimbahn (Abfolge von Zellen von der Befruchtung bis zur Bildung von Keimzellen) sowie die Fähigkeit, sich vegetativ aus Körperteilen regenerieren zu können. Durch die Entwicklung theoretischer Modelle und durch deren experimentelle Überprüfung mit Modellorganismen wie dem potenziell unsterblichen Süßwasserpolypen Hydra, dem erstaunlich regenerationsfähigen Süßwasserwurm Pristina sowie den Modellpflanzen Plantago lanceaolata und Arabidopsis thaliana werden am Max-Planck-Institut für demografische Forschung fundamentale Fragen zu den in der Evolution entstandenen und aufeinander abgestimmten Mustern der Mortalität, der Fertilität und des Wachstums geklärt.

Originalveröffentlichungen

W. Hamilton:
The moulding of senescence by natural selection.
Journal of Theoretical Biology 12, 12–45 (1966).
G.C. Williams:
Pleiotropy, natural selection, and the evolution of senescence.
Evolution 11, 398–411 (1957).
J.W. Vaupel, J.R. Carey, K. Christensen, T.E. Johnson, A.I. Yashin, N.V. Holm, I.A. Iachine, V. Kannisto, A.A. Khazaeli, P. Liedo, V.D. Longo, Y. Zeng, K.G. Manton, J.W. Curtsinger:
Biodemographic trajectories of longevity.
Science 280, 855–860 (1998).
J.W. Vaupel, A. Baudisch, M. Dölling, D.A. Roach, J. Gampe:
The case for negative senescence.
Theoretical Population Biology 65(4), 339–351 (2004).
J. Oeppen, J.W. Vaupel:
Broken limits to life expectancy.
Science 296, 1029–1031 (2002).
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