Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Wiederaufbau des Rechtswesens in Afghanistan

Autoren
Yassari, Nadjma
Abteilungen

Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung
MPI für ausländ. und internat. Privatrecht, Hamburg

Zusammenfassung
Eines der zentralen Probleme des Aufbaus des Rechtswesens in Afghanistan ist das Fehlen zuverlässiger Informationen über die Rechtsnormen und die Rechtswirklichkeit. Nach fünfundzwanzigjähriger kriegerischer Auseinandersetzung ist das Hochschulwesen zusammengebrochen, die rechtswissenschaftlichen Eliten sind ins Ausland geflohen. Zudem haben kurzfristige Planungen und die Schnelllebigkeit der Fördermaßnahmen internationaler Organisationen bislang wenig Raum für vertiefte Analysen gelassen. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht hat daher Konzepte für langfristige und nachhaltige Projekte entwickelt, um den Afghanen beim Aufbau der Rechtsordnung zu helfen. Schwerpunkte dieser Projekte bilden insbesondere die Ausbildung der Juristen, die neue Verfassung aus dem Jahr 2004 und das Familienrecht.

Nach fünfundzwanzigjährigem Bürger- und Befreiungskrieg sind das Staatswesen und das staatliche Gewaltmonopol in Afghanistan zusammengebrochen. Eine funktionierende Justiz und Verwaltung sind zurzeit mehr Vision denn Wirklichkeit. Die Rekonstruktion der Rechtslage wird schon allein durch die verloren gegangenen Rechts- und Gesetzestexte ungemein erschwert, die Bibliotheken der Hochschulen sind abgebrannt und die wissenschaftliche Elite ist ins Ausland geflohen. Afghanistan steht vor dem totalen Neubeginn. Das Staatswesen, die Verwaltung, das Gerichtswesen, die Hochschulen, die Bibliotheken und eine neue Generation gut ausgebildeter Juristen müssen wieder aufgebaut werden.

Die Aufgaben, mit denen das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg und das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg betraut wurden, sind Teil eines umfassenden Projekts des deutschen Auswärtigen Amtes zur Rekonstruktion der afghanischen Rechtsordnung.

Die Schari’a in der neuen afghanischen Verfassung von 2004

Die im Mai 2003 begonnene Annäherung der Institute an die Hochschulen in Kabul, Herat, Nangarhar und Mazar-e Sharif wurde im Januar und Februar 2004 fortgeführt. So fanden anlässlich der Verabschiedung der neuen afghanischen Verfassung am 26. Januar 2004 zwei Workshops zum Thema „Islamic and Constitutional Law“ in Kabul und Herat statt (Abb. 1). Die Gespräche wurden daraufhin im Februar 2004 in Deutschland mit zwei internationalen Expertenrunden zum Thema „The Shari’a in the Afghan Constitution and its Implications for the Legal Order“ fortgesetzt (Abb. 2). Dabei beleuchtete das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg die Bereiche Institutionenaufbau und Justizverwaltung, während das Hamburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht die zivilrechtlichen Folgen der Verankerung der Schari’a, des islamischen Rechts, in der afghanischen Verfassung erörterte.

Von afghanischer Seite waren fünfzehn Hochschulprofessoren der Universitäten Kabul, Herat, Nangahar und Balkh sowie einige afghanische Richter und Richterinnen und Mitglieder verschiedener Regierungsausschüsse (wie der unabhängigen Menschenrechtskommission und der Verfassungskommission) anwesend. Ziel der Zusammenkunft war es, die Erfahrung der Experten aus dem Iran, Ägypten und Malaysia, die mit den Problemen der Modernisierung rechtlicher Strukturen in einem islamischen Kontext vertraut sind, mit den Beiträgen der afghanischen Delegation zu verbinden. Das Engagement der Wissenschaft und Politik wurde durch ein Stiftungsstipendium der Düsseldorfer Rechtsanwaltskanzlei Schmitz für einen afghanischen Gastwissenschaftler unterstützt.

Rechtspluralismus in Afghanistan

Das afghanische Recht stellt sich heute als eine Mischung zwischen traditionellem Gewohnheitsrecht, unkodifiziertem islamischen Recht und positivem, staatlich gesetztem Recht dar, ist also durch Rechtspluralismus gekennzeichnet. Zudem existieren neben den noch im Aufbau befindlichen staatlichen Gerichtsstrukturen informelle Konfliktlösungsmechanismen, bei denen sich die Parteien aussuchen, ob ihr Fall nach dem islamischen oder dem jeweiligen Gewohnheitsrecht beurteilt werden soll. Obwohl die im Januar 2004 erlassene Verfassung dem Demokratisierungsprozess und der Entwicklung der Rechtstaatlichkeit in Afghanistan ein solides Fundament gibt, bleibt ihre Umsetzung – angesichts der Vielfalt an Rechtsquellen und Konfliktlösungsmechanismen – ungewiss.

Dieser Meinung, die unter den afghanischen Gästen vorherrschte, schloss sich auch der Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs Afghanistans, Fazelahmad Shirin-Agha Mahnavi an. Neben den derzeitigen politischen Problemen seien zudem die mangelnde Bildung und das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung in den Staat die größten Hindernisse auf dem Weg zu einer Herrschaft des Rechts. Die Alphabetisierungsrate liege bei nur dreißig Prozent, bei den Frauen sogar nur bei vier Prozent. Während in der Hauptstadt Kabul über die Frage gestritten werde, ob Frauen als Sängerinnen im Fernsehen erscheinen dürfen, sei es in der Provinz bereits lebensgefährlich, auch nur den Namen einer Frau in einer möglicherweise zweideutigen Art zu erwähnen. Die Entwicklung des Justizsystems müsse einhergehen mit den Veränderungen in der Gesellschaft und sollte schrittweise und „organisch“ verlaufen.

Eine „Kultur der Menschenrechtsverletzung“

Die Erfahrungen, die auf den Konferenzen zum afghanischen Recht gesammelt werden konnten, zeigen, dass zunächst grundlegende Informationen zur Rechtslage in Afghanistan zu sondieren sind. Die Veranstaltungen, die zum Verfassungs- und Privatrecht in Deutschland und Afghanistan stattgefunden haben, waren ein erster Schritt in die richtige Richtung. Es herrscht aber darüber hinaus ein großer Bedarf, diese Erkenntnisse durch eine längerfristige Feldforschung in Afghanistan zu erweitern, um auch verwertbare Informationen zur Rechtsrealität zu erhalten.

Dem Familien- und Erbrecht und dem Strafrecht kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Sie sind die einzigen Rechtsgebiete, die in Afghanistan noch stark durch das islamische Recht geprägt sind. Auch bestehen zwischen den genannten Rechtsgebieten zahlreiche Querbezüge. So wird der Ehebruch noch strafrechtlich verfolgt, und auch im Gewohnheitsrecht werden zum Teil Straftaten mit Zwangsehen gesühnt. Es steht außer Zweifel, dass die Entwicklungen in diesen Rechtsgebieten sich auf alle anderen Rechtsgebiete auswirken werden. Hier wird sich das Verhältnis des islamischen Rechts zum Verfassungsrecht und den dort proklamierten Menschrechten und insbesondere die Frage entscheiden, ob sich die islamischen Prinzipien der Verfassung unterzuordnen haben oder umgekehrt, ob also die Verfassung unter das Diktat des islamischen Rechts gerät.

Zudem ist das Familienrecht eines der zentralen Themen der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion in Afghanistan. Durch den Jahrzehnte dauernden Konflikt sind nicht nur alle Staatsstrukturen auseinandergebrochen, sondern auch das Gefüge der Gesellschaft und die Familie als ihre kleinste Einheit. Die Achtung grundlegender Menschenrechte scheint hier verloren gegangen zu sein. Ein Zustand, den der afghanische Rechtswissenschaftler Ali Wardak als „Kultur der Menschenrechtsverletzung“ bezeichnet hat und der insbesondere die Lage der Frauen verschlimmert hat. Die neue Verfassung aus dem Jahr 2004 postuliert die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Dennoch klafft eine große Lücke zwischen diesem Postulat und der Wirklichkeit der stammesmäßig organisierten, konservativen Gesellschaft Afghanistans. Zwangs- und Kinderehen sowie Frauentausch werden als Instrumente der Streitbeilegung angewendet. Die Frauen Afghanistans erfahren Diskriminierung, Entmündigung und Ungleichbehandlung, obwohl praktisch alle afghanischen Verfassungen seit 1923 die Gleichheit aller Afghanen proklamieren.

Familie und Familienrecht in der Rechtswirklichkeit

Nur eine umfassende wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Themen und eine Analyse der Probleme in der afghanischen Gesellschaft kann an der derzeit katastrophalen Lage der schwächeren Glieder der Gesellschaft, insbesondere der Frauen und Kinder, etwas ändern. Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht hat daher ein wissenschaftliches Programm erarbeitet, welches jenseits des geschriebenen (und weitestgehend unbekannten) Rechts das Familienrecht in der Rechtswirklichkeit in Afghanistan erforschen soll.

Das Konzept des Instituts beruht auf einer schrittweisen Vorgehensweise, die die Nachhaltigkeit des Projekts sowie die Umsetzung der Ergebnisse durch Multiplikatoren in Afghanistan zum Ziel hat. In Kooperation mit Wissenschaftlern von der Universität Göttingen, der International Islamic University Malaysia und der School of Oriental and African Studies der Universität London wird das Projekt weiter inhaltlich ausgearbeitet und langfristig begleitet.

Die erste Phase desProjekts ist im Dezember 2004 angelaufen. Ein zweiköpfiges Team von Feldforschern hat sich nach Afghanistan begeben und begonnen, anhand von Fragebögen und Interviews das Familienrecht in seiner materiell- und verfahrensrechtlichen Dimension zu erfassen. Dabei sind – soweit vorhanden – staatliche Behörden, universitäre Einrichtungen einschließlich theologischer Seminare und Schari’a-Fakultäten untersucht und befragt worden.

In der zweiten Phase werden die gesammelten und ausgewerteten Informationen in ein Diskussionsforum mit afghanischen Anwälten, Richtern und anderen Juristen einfließen. Dort soll insbesondere beleuchtet werden, wo die Afghanen die Probleme im Familienrecht verorten und welche Lösungsansätze sie sehen, das heißt wie diese im afghanischen Kontext zu verstehen und anzugehen sind. Das Konzept wird deshalb in enger Orientierung an den spezifisch afghanischen Problemen entwickelt. Es sollen aber zugleich auch das rechtstaatliche Denken gestärkt und Argumente für eine bessere Vereinbarkeit des afghanischen Familienrechts mit den Menschenrechten erarbeitet werden.

Originalveröffentlichungen

N. Yassari:
The Shari'a in the Constitutions of Afghanistan, Iran and Egypt: Implications for Private Law.
Mohr Siebeck, Tübingen (im Erscheinen).
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