Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, Standort Stuttgart

Mikro- / Nanomechanik von biologischen Materialien und Systemen

Autoren
Arzt, Eduard; Gorb, Stanislav; Huber, Gerrit; Niederegger, Senta; Pfaff, Holger; Spolenak, Ralph; Vötsch, Walter
Abteilungen

Mikro- und Nanomechanik von Dünnschichten und Biosystemen (Prof. Dr. Joachim P. Spatz)
MPI für Metallforschung, Stuttgart

Zusammenfassung
Biologische Systeme haben im Verlauf der Evolution interessante, noch weitgehend unverstandene mikro- und nanomechanische Lösungen entwickelt. Am Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart forschen Materialwissenschaftler und Biologen gemeinsam daran, wie sich mikromechanische Konzepte, Theorien und Methoden auf biologische Phänomene anwenden lassen. Gleichzeitig erwarten sich die Materialwissenschaftler aus dem Studium biologischer Prinzipien Anregungen für technische Problemlösungen. Wir untersuchen die Struktur und Funktion von biologischen Haft-, Reibungs- und Verklammerungssystemen auf Mikron- und Submikronskala. Der folgende Beitrag beschreibt unsere Forschungsergebnisse an haarigen und glatten Haftsystemen verschiedener Tierarten. Näher erläutert werden die Struktur, Biomechanik und Chemie sowie die mikromechanischen Messungen der Haftkräfte. Abschließend erläutern wir unsere Überlegungen dazu, wie sich die Theorien auf biologisch inspirierte Systeme übertragen lassen.

Biologische Forschung am Max-Planck-Institut für Metallforschung? Dies mag zunächst wie ein Widerspruch erscheinen. Jedoch gibt es interessante Analogien zwischen der modernen Materialforschung, die sich immer kleineren Dimensionen widmet, und der Aufklärung biomechanischer Funktionen. Das Institut hat deshalb einen besonderen Weg interdisziplinärer, sektionsübergreifender Forschung eingeschlagen: Im Jahr 2002 ist die biologische Arbeitsgruppe von Dr. S. Gorb, die zuvor am MPI für Entwicklungsbiologie in Tübingen tätig war, an das MPI für Metallforschung, Abteilung Arzt, gewechselt.

Ziel der gemeinsamen Forschung von Materialwissenschaftlern und Biologen ist es seither, mikromechanische Konzepte, Theorien und Methoden auf biologische Phänomene anzuwenden; gleichzeitig erwarten sich die Materialforscher aus dem Studium biologischer Mechanismen Anregungen für technische Problemlösungen. Die ersten Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sind sehr viel versprechend und haben bereits zu gemeinsamen Patentanträgen geführt.

Biologische Systeme haben im Verlauf der Evolution mikro-/nanomechanische Lösungen entwickelt, die zum großen Teil nicht gut verstanden sind. Wir untersuchen die Struktur und Funktion von biologischen Haft-, Reibungs- und Verklammerungssystemen auf Mikron- und Submikronskala: Zum Beispiel arretieren Käfer im Ruhezustand ihre Flügel (Flügelverriegelungsmechanismen) und Libellen befestigen, wenn nicht im Flug, ihre Köpfe mechanisch am Körper (Kopfarretierungssystem). Eine besonders interessante mikromechanische Frage besteht darin, wie Insekten und Geckos an Oberflächen haften; diese Problemstellung ist ein Schwerpunkt unserer Forschungsarbeiten.

Struktur, Biomechanik und Chemie von Haftsystemen

Im Laufe der Evolution sind zwei prinzipiell verschiedene Typen von Haftsystemen entstanden: ein haariges System, wie z. B. bei Fliegen und Geckos, und ein glattes System, etwa bei Heuschrecken (Orthoptera) oder Schaben (Blattaria). Beide können sich durch elastische Verformung der jeweiligen Oberfläche anpassen. Wir haben die Härchen bei Käfern, Fliegen, Spinnen und Geckos mit unterschiedlichen Mikroskopie-Techniken untersucht. Die Quintessenz dieser Arbeiten war überraschend: Je größer (schwerer) die Vertreter einer Tiergruppe sind, desto feiner sind ihre Haftstrukturen (Abb. 1). Die Dimensionen der einzelnen Kontaktelemente reichen von zehn Mikrometern im Durchmesser (Käfer) bis zu Werten, die um den Faktor Hundert kleiner sind (Geckos) - Geckos nutzen also bei ihren Bewegungen Prinzipien der Nanomechanik.

Um den Haftmechanismus von Insekten zu verstehen, ist es außerdem wichtig, die Biomechanik, also die Bewegungsmuster der Tiere, detailliert zu studieren. Die Analyse von Hochgeschwindigkeitsvideoaufnahmen bei der Fliege zeigt deutlich, dass die Kontaktbildung kompliziert ist: Beim Andrücken der Haftläppchen (Pulvilli) auf das Substrat bewegen sich die Krallen auseinander und erzeugen eine Scherkraftkomponente. Die Ablösung kann in vier verschiedenen Bewegungsmodi erreicht werden: Ziehen, Schieben, Verdrehen und Abheben. Im Licht- und Elektronenmikroskop haben wir mehrere federartigen Strukturen entdeckt, welche ein elastisches Protein (Resilin) enthalten. Dieses Material ist vermutlich sowohl an der Kontaktbildung als auch an der Ablösung beteiligt.

Um starke Haftkräfte zwischen den Haftorganen und Oberflächen zu ermöglichen, ist eine gute Anpassungsfähigkeit der Haar-Strukturen erforderlich. Wir haben diese Strukturen während des Anhaftens an einer glatten Oberfläche mittels einer Gefrier- und Gefriersubstitutionstechnik dargestellt und dabei beträchtliche Unterschiede zwischen frei schwebenden Endplatten und solchen, die im Kontakt sind, gefunden (Abb. 2). Durch eine direkte mechanische Messung an einzelnen Härchen mithilfe von Rasterkraftmikroskopie wurde eine Federkonstante von 1,31 N/m bestimmt. Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass die Härchen aus Gradientenmaterial aufgebaut sind - eine "smarte" natürliche Konstruktion.

Viele Insekten sondern lipidhaltige Flüssigkeiten zur Haftverbesserung ab. Diese Sekretionströpfchen wurden im Fall der Heuschrecke Locusta migratoria durch Gaschromatographie und Massenspektrometrie (GC, MS) chemisch analysiert. Die Fußsekretion unterscheidet sich von der Zusammensetzung der Insektenhaut (Kutikula) vor allem in Bezug auf die Fettsäurenverteilung. Der zweite wichtige Unterschied ist das hohe Maß an Glukose und an den Aminosäuren in der Sekretion. Elektronenmikroskopische Aufnahmen zeigen, dass die Sekretion eine Mikroemulsion ist, die aus wasserlöslichen und lipidhaltigen Komponenten besteht.

Mikromechanische Messungen von Haftkräften

Die genauen Mechanismen der Haftung von Insekten und Geckos sind noch umstritten. Neben van der Waals-Kräfte kommen insbesondere Kapillarkräfte, deren Rolle jedoch unklar ist, als Ursache in Frage. Um zur Klärung dieser Frage beizutragen, führen wir mikromechanische Messungen an einzelnen Härchen mittels Rasterkraftmikroskopie (AFM) durch. Dabei wurden, z. B. bei der Fliege, interessante lokale Unterschiede entdeckt: Der Außenrand der Endplatte eines Härchens erzeugt höhere Haftkräfte als das Zentrum. Außerdem nimmt die Adhäsion bei Verringerung der Sekretion stark ab. Daraus kann man schließen, dass im Fall der Fliege die Kapillarkraft aufgrund der Sekretion für die Erzeugung der starken Anziehungskraft wesentlich ist.

Beim Gecko, der die höchsten Haftkräfte aufweist, konnte allerdings keine Sekretion nachgewiesen werden. Dafür besitzt er die kompliziertesten Haftstrukturen, die hierarchisch aufgebaut sind: Die Elemente reichen von Zehen (Millimeterdimensionen) über Lamellen (400-600 µm Größe), Härchen (Mikrondimensionen) bis zu Endplatten (Spatulae ~200 nm). Kürzlich ist es uns erstmals gelungen, die Haftkraft der feinsten Kontaktstrukturen reproduzierbar zu messen. Mittels eines Ionenstrahlmikroskops wurden überschüssige Spatulae abgetrennt und in einem AFM die Kraft-Abstand-Kurven für einzelne Spatulae an Glasoberflächen bestimmt. Entsprechend der Laufbewegung des Geckos wurden die Spatulae zuvor über die Oberfläche geschert. Die daraus resultierende Haftkraft beträgt etwa 10 nN, was bei insgesamt 1 Milliarde Spatulae einer gesamten Haftkraft in der Größenordnung des zehnfachen Gewichts des Geckos entspricht.

Von der Theorie zu biologisch inspirierten Systemen

Um die experimentellen Ergebnisse zu interpretieren und einzuordnen und daraus Richtlinien zur Optimierung von Kontaktsystemen abzuleiten, ist es zwingend notwendig, ein quantitatives mathematisches Verständnis der Haftphänomene zu entwickeln. Ausgehend von der Theorie von Heinrich Hertz und ihrer Erweiterung auf adhäsive Systeme durch Johnson, Kendall und Roberts, haben wir ein theoretisches Modell für die Abhängigkeit der Haftkraft von der Einzelkontaktgröße aufgestellt. Als wirkende Kräfte werden hier van der Waals-Wechselwirkungen angenommen. Dabei ergab sich das "Prinzip der Kontaktaufspaltung": Bei gleicher Gesamtkontaktfläche erzeugen fein verteilte Kontaktpunkte eine höhere Haftkraft als gröbere. Damit konnte die notwendige Verfeinerung der Haftorgane mit zunehmendem Gewicht des Tiers quantitativ erklärt werden (Linie in Abb. 1 unten). Die Evolution hat sich offensichtlich an den physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Kontakttheorie "orientiert".

Die Kontaktaufspaltung bis in den Nanometer-Bereich hat jedoch ihre Grenzen: Einerseits ist die Haftkraft durch die theoretische Festigkeit der van der Waals-Bindung limitiert, andererseits würden bei zu großen Kontaktkräften die Härchen selbst reißen. Schließlich muss noch berücksichtigt werden, dass die Härchen nicht untereinander besser haften dürfen als auf der Oberfläche. Um alle diese Kriterien zu erfüllen, wurden theoretische "Adhäsionsdiagramme" entwickelt, die die Darstellung des bisher in der Natur Erreichten vor dem Hintergrund der Theorie erlauben (Abb. 3). Daraus ist auch ersichtlich, dass es einen Parameterbereich gibt, der höhere Kontaktkräfte als beim Gecko vermuten lässt, was für die technische Anwendung von großem Interesse ist.

Dieses theoretische Wissen wenden wir derzeit bei der Herstellung künstlicher Haftsysteme mit optimierten Eigenschaften an. Wir haben eine Palette von Oberflächenmustern entwickelt und dabei erstmals eine Adhäsionsverbesserung durch Kontaktaufspaltung nachgewiesen. Ein Oberflächenmuster aus Polyvinylsiloxan (PVS) hat bedeutend höhere Adhäsion auf einer Glasoberfläche als eine glatte Probe aus demselben Material. Ein zusätzlicher Vorteil von strukturierten Haftoberflächen ist die Zuverlässigkeit des Kontakts auf verschiedenen Oberflächenprofilen und die höhere Toleranz des Gesamtkontakts gegenüber Fehlern von einzelnen Unterkontakten.

Um die Grenzen der Haftfähigkeit bei künstlichen Strukturen auszuloten, wurden Faseranordnungen aus verschiedenen Polymeren im Mikrometerbereich hergestellt (Abb. 4). Hierbei wird spezielles Augenmerk auf die Kontaktform und die Materialeigenschaften gelegt. Denn Erkenntnisse der Kontaktmechanik zeigen, dass zum Beispiel toroidale (ringförmige) Kontakte höhere Haftkräfte versprechen als kugelförmige. Die optimale Geometrie lässt sich, wie Arbeiten in der Abteilung Gao unseres Instituts gezeigt haben, sogar vorausberechnen. Wie man aus unseren "Adhäsionsdiagrammen" sieht, kann die Haftfähigkeit eines Geckos nur durch noch feinere Strukturen ("Nanostrukturen") übertroffen werden. Solche biologisch inspirierten Haftsysteme sind in der Mikrofabrikation, der Robotik, der Medizintechnik, aber möglicherweise eines Tages auch für den Haushalt von großem Interesse.

Diese Forschungsarbeiten sind ein Beispiel dafür, wie zunächst vermeintlich weit entfernte Forschungsrichtungen bei zielorientierter gemeinsamer Vorgehensweise zu neuen Einsichten und vielleicht auch Produkten führen können. Außerdem wird dabei deutlich, dass nicht nur die Grenzen zwischen den Disziplinen, sondern auch die Einteilung in grundlegende und angewandte Forschung zunehmend obsolet geworden ist. Biologische Forschung an einem MPI für Metallforschung ist somit keineswegs ein Widerspruch.

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