Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften

Wavelets in der Quantenchemie

Autoren
Flad, Heinz-Jürgen; Hackbusch, Wolfgang
Abteilungen

Wissenschaftliches Rechnen (Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Hackbusch)
MPI für Mathematik in den Naturwissenschaften, Leipzig

Zusammenfassung
Die Vision chemische Experimente routinemäßig am Computer durchzuführen ist mit den heutzutage zur Verfügung stehenden quantenchemischen Methoden zumindest teilweise Realität. Eine zentrale Herausforderung bei zukünftigen Anwendungen wird es jedoch sein, dem Mehrskalencharakter quantenchemischer Probleme besser Rechnung tragen zu können. Wavelets ermöglichen systematische und lokale Zerlegungen aller zugrunde liegenden Größen in ihre charakteristischen Längen- und Energieskalen. Darüber hinaus führen diese Zerlegungen zu numerischen Algorithmen mit "optimaler" Komplexität. Im Rahmen unseres Forschungsprojekts werden unterschiedliche Aspekte dieses Ansatzes anhand konkreter Beispiele aus der Vielteilchentheorie untersucht. Dabei streben wir es an, eine Brücke zu bauen zwischen Quantenchemie auf der einen und den hierfür relevanten Gebieten der Angewandten und Numerischen Mathematik auf der anderen Seite.

Die chemische Bindung in ihrer ganzen Vielfalt lässt sich aus Sicht der Physik als ein Vielteilchenproblem darstellen. Moleküle setzen sich aus Elektronen und Atomkernen zusammen, wobei die einzelnen Teilchen über Coulomb-Wechselwirkungen miteinander interagieren. Aufgrund ihrer deutlich höheren Masse können die Atomkerne in vielen Fällen im Rahmen der klassischen Mechanik behandelt werden, während Elektronen nur mit Hilfe der Quantenmechanik physikalisch beschreibbar sind. Alle hierzu nötigen Gleichungen liefert die Quantentheorie. Von zentraler Bedeutung ist dabei die zeitunabhängige Schrödinger-Gleichung

H Ψi = Ei Ψi, (1)

welche in Form einer partiellen Differentialgleichung alle möglichen stationären Zustände eines Moleküls beschreibt. Gemäß dem Bohrschen Korrespondenzprinzip beschreibt der Hamilton-Operator H die Energie eines Systems, während die Eigenwerte Ei den physikalisch messbaren Energiezuständen entsprechen. Die als Wellenfunktionen bezeichneten Lösungen Ψi ermöglichen eine, im Einklang mit den Prinzipien den Quantentheorie, vollständige Beschreibung der Eigenschaften von Atomen, Molekülen und Festkörpern. Somit lassen sich chemische Fragestellungen auf die Lösung bekannter Gleichungen zurückführen.

Von diesem formalen Standpunkt aus unterscheiden sich chemische Probleme und viele Fragestellungen im Bereich der Festkörperphysik oder der Physik kondensierter Materie nur unwesentlich voneinander. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch ein für die Praxis wesentlicher Unterschied. Während in der Physik das qualitative Verständnis fundamentaler Vorgänge im Vordergrund steht, benötigt die Chemie häufig sehr präzise Aussagen zu qualitativ oftmals gut verstandenen Systemen. Als Konsequenz hieraus entwickelten sich Quantenchemie und Festkörperphysik in recht unterschiedliche Richtungen. Das grundlegende Bestreben in der Quantenchemie bestand schon immer darin, Methoden zu entwickeln, welche eine möglichst genaue Lösung der Schrödinger-Gleichung ermöglichen. Mit dieser Herangehensweise ähnelt die Quantenchemie vielleicht eher einer Ingenieur- als Naturwissenschaft. Während im Bereich der Vielteilchentheorie ein reger Austausch zwischen Quantenchemie und Theoretischer Physik stattfand, waren die Anknüpfungspunkte zur Numerischen Mathematik weniger zahlreich. Die Ursache hierfür liegt in einer unterschiedlichen Vorgehensweise zur numerischen Lösung partieller Differentialgleichungen. Stark vereinfacht ausgedrückt werden die Lösungen wie ein Gebäude aus einzelnen vorgefertigten Bauteilen zusammengesetzt. Während nun die Numerische Mathematik einfache und möglichst universell einsetzbare Bausteine bevorzugt, wird in der Quantenchemie mit wenigen großen Fertigteilen gearbeitet. Dies ist möglich, da ein hohes Maß an Transferabilität zwischen Atomen des gleichen Typs in verschiedenen Molekülen besteht. In der Sprache der Mathematik werden die Bauteile als Basisfunktionen bezeichnet. Die bemerkenswerte Entwicklung, welche die Quantenchemie in den letzten Jahrzehnten genommen hat, beruht zu einem großen Teil auf einer effizienten Strategie, mit möglichst wenigen Basisfunktionen auszukommen. Damit wurde die Vision, chemische Experimente routinemäßig am Computer durchzuführen, heutzutage zumindest teilweise Realität. Als Resultat jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung existieren Programmpakete, die eine zuverlässige Berechnung von einer Vielzahl von Moleküleigenschaften ermöglichen. Ein offizieller Höhepunkt dieser Arbeiten war der Chemie-Nobelpreis 1998 für Walter Kohn und John Pople.

Worin besteht nun die Motivation im Rahmen der Angewandten und Numerischen Mathematik, alternative Ansätze für die Quantenchemie zu entwickeln? Die dort gebräuchlichen Basisfunktionen genügen nicht allen Kriterien, welche eine stabile und systematische Basis erfüllen muss. Diese Mängel zeigen sich in der Praxis, wenn hohe Anforderungen an die numerische Genauigkeit gestellt werden und eine systematische Verbesserung oftmals nur schwer oder mit sehr großem Aufwand möglich ist. Unser Ziel ist es, Methoden zu entwickeln, die eine hohe numerische Genauigkeit bei gleich bleibend optimaler numerischer Komplexität ermöglichen. Dabei orientieren wir uns sowohl an den zukünftigen Anforderungsprofilen aus der Chemie und Physik, welche heute bereits teilweise absehbar sind, als auch an den zu erwartenden Steigerungen bei der Rechenleistung von Computern. Beide Aspekte zusammengenommen liefern eine viel versprechende Perspektive für auf systematischen Basen basierende quantenchemische Methoden. Ein zentrales Problem bei zukünftigen Anwendungen wird es sein, dem Mehrskalencharakter quantenchemischer Systeme besser Rechnung tragen zu können. Betrachtet man die Wellenfunktion Ψ für eine Agglomeration von Molekülen, so kann diese grob in drei unterschiedliche Energie- und Längenskalen aufgespalten werden. Diese Skalen können vom chemischen Verständnis her mit atomaren Rümpfen, Valenzbereichen und intermolekularen Wechselwirkungen identifiziert werden. Jeder dieser Bereiche hat eine für ihn typische Energie- und Längenskala. Während die atomaren Rumpfbereiche nur einen Bruchteil des gesamten räumlichen Volumens ausmachen, kann ihnen jedoch ein Großteil der Gesamtenergie zugeordnet werden. Demgegenüber haben die intermolekularen Wechselwirkungen die größte räumliche Ausdehnung, aber nur einen beinahe verschwindend kleinen Anteil an der Gesamtenergie. Die für die chemische Bindung zentralen Valenzbereiche nehmen hierbei eine Mittelstellung ein. Bei vielen Anwendungen ist es notwendig, zusätzlich zum Valenzbereich, auch noch zumindest einen der beiden anderen Bereiche gut zu beschreiben. Dies kann dazu führen, dass die zu beschreibenden Energie- und Längenskalen mehrere Größenordnungen umfassen. Die bislang gebräuchlichen quantenchemischen Basisfunktionen sind jedoch nur in einem relativ kleinen Bereich wirklich optimal und werden schnell ineffizient, wenn dieser verlassen wird.

Der von uns in Zusammenarbeit mit D. Kolb, Hongjun Luo (Kassel) und R. Schneider (Kiel) konkret untersuchte Ansatz basiert auf Wavelets, deren Entwicklung, im Rahmen der Mehrskalenanalysis, in den letzten Jahren intensiv vorangetrieben wurde. Das Hauptanwendungsgebiet von Wavelets liegt derzeit im Bereich der digitalen Signal- und Bildverarbeitung, jedoch wurde ihre Nützlichkeit auch bei der Lösung von partiellen Differentialgleichungen unter Beweis gestellt. Wavelets bilden hierarchische und lokale Basen, welche systematische Zerlegungen eines Funktionenraums in seine unterschiedlichen Längen- und Energieskalen ermöglichen. Darüber hinaus erlauben sie lokale adaptive Verfeinerungen in Bereichen starker Fluktuationen oder Singularitäten. Damit können aus einfachen Basisfunktionen lokal komplexere Gebilde konstruiert werden, welche ähnlich effizient sind wie die oben diskutierten quantenchemischen Basisfunktionen. Ein bedeutender Vorteil von Wavelets ist es aber, dass sich derartige Konstruktionen im Prinzip auf allen Skalen durchführen lassen. Es kann dabei nicht nur die Wellenfunktion Ψ lokal in ihre Skalen zerlegt werden, sondern es ist im Prinzip auch möglich, den Hamilton-Operator H direkt in seine Skalen zu zerlegen. Diese Zerlegungen haben den zusätzlichen Vorteil hoher Effizienz und ermöglichen numerische Rechnungen mit optimaler Komplexität.

Um eine effiziente Mehrskalenzerlegung der Wellenfunktion mit Wavelets durchführen zu können, muss zuerst allerdings noch ein anderes grundlegendes Problem betrachtet werden. Wie eingangs bereits erwähnt wurde, haben wir es mit einem Vielteilchenproblem zu tun. Dabei steigt die Dimensionalität des Problems linear mit der Anzahl der Elektronen an. Noch zählen derartig hochdimensionale Probleme überwiegend zu weißen Flecken auf der Landkarte der Numerischen Mathematik. Auch Wavelets lassen sich nur sehr beschränkt auf höhere Dimensionen anwenden. Es ist daher unumgänglich, zuerst die Dimension des ursprünglichen Vielteilchenproblems zu reduzieren. Dies kann auf verschiedene Arten geschehen. Ein radikaler Ansatz wird in der Dichtefunktionaltheorie verfolgt. Anstelle der Wellenfunktion wird nur die damit verbundene Teilchendichte als grundlegende Größe aufgefasst. Die daraus resultierende Kohn-Sham-Gleichung entspricht einer Schrödinger-Gleichung für nichtwechselwirkende Teilchen. Damit wurde das ursprünglich hochdimensionale auf ein niedrigdimensionales Problem reduziert. Leider lässt sich die genaue Form der Kohn-Sham-Gleichungen nicht ermitteln und für praktische Anwendungen muss auf Näherungen zurückgegriffen werden. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass diese Methode in vielen Bereichen der Quantenchemie sehr erfolgreich angewendet wird. Auch sind die derzeit meisten Anwendungen von Wavelets in der Quantenchemie auf diesem Gebiet zu finden. Jedoch ermangelt die Dichtefunktionaltheorie der Möglichkeit, systematische Verbesserungen durchzuführen. Wir verfolgen einen alternativen Zugang, bei dem die Mehrskalenanalysis bereits auf das ursprüngliche Vielteilchenproblem angewendet wird. Als Ausgangspunkt dienen hierbei Methoden der Vielteilchentheorie, deren Ziel eine möglichst effiziente Darstellung der vollständigen Wellenfunktion ist. Allgemeine Überlegungen aus der statistischen Physik zeigen, dass ein Produktansatz der Form

Ψ = exp (F) Φ, (2)

für die Wellenfunktion günstig ist. Hierbei entspricht Φ einer Näherung zur exakten Lösung Ψ. Üblicherweise wird Φ aus einer vereinfachten Schrödinger-Gleichung für nicht explizit wechselwirkende Teilchen gewonnen, bei der die Paarwechselwirkung zwischen den Elektronen durch eine gemittelte Wechselwirkung approximiert wird. Damit lassen sich alle von Φ abhängigen Größen durch die reduzierte Einteilchendichtematrix

N
ρ (r, r’) = ∑ φi(r) φi(r’) (3)
i=1

ausdrücken. Hierin geht für jedes Elektron eine Lösung φi der vereinfachten Schrödinger-Gleichung ein. Die genäherte Lösung Φ wird durch einen Operator F auf die exakte Lösung abgebildet. Durch den exponentiellen Ansatz für den Operator erhält man eine Entwicklung des Exponenten

F = F1 + F2 + ··· (4)

in eine Reihe von Ein-, Zwei- und höherer Mehrteilchen-Operatoren. Die Bedeutung der höheren Operatoren nimmt sehr schnell ab. Für viele chemische und physikalische Fragestellungen sind nur Ein- und Zweiteilchen-Operatoren relevant. Im Rahmen unserer bisherigen Arbeiten beschränkten wir uns auf eine in vielen Bereichen der Physik bewährte Approximation des dominierenden Zweiteilchen-Operators durch einfache Paarkorrelationsfunktionen

F2 = ∑ F (ri, rj), (5)
i

wobei sich die Summe über alle Elektronenpaare erstreckt. Ähnlich wie bei der Dichtefunktionaltheorie, lässt sich damit eine Formulierung des Vielteilchenproblems erzielen, bei der die Dimension der zu lösenden Gleichungen nicht mehr unmittelbar von der Anzahl der Elektronen abhängt. Jedoch ermöglicht dieser Zugang eine systematische Verbesserung der darin enthaltenen Näherungen.

Anhand physikalischer Argumente lässt sich zeigen, dass sowohl die reduzierte Einteilchendichtematrix als auch die Paarkorrelationsfunktion alle Voraussetzungen für eine effiziente Approximation mit Wavelets erfüllen. Hierbei können neuartige numerische Methoden wie dünne Gitter und nichtlineare Approximationstheorie angewendet werden. In der Vielteilchentheorie werden verschiedenartige Verknüpfungen von Einteilchendichtematrizen und Paarkorrelationsfunktionen

mit der Coulomb-Wechselwirkung benötigt. Zur Darstellung und Analyse dieser Verknüpfungen eignen sich Feynman-artige Diagramme, wie sie in der Quantentheorie allgemein gebräuchlich sind. Eine besonders wichtige Art von Verknüpfungen sind Verkettungen von Diagrammen. Dies lässt sich mathematisch im Rahmen der Theorie von Calderón-Zygmund- und Pseudodifferential-Operatoren beschreiben. Deren algebraische Eigenschaften eröffnen neue Wege, um unterschiedliche Verkettungen mit optimaler numerischer Komplexität behandeln zu können. Konkret bedeutet dies, dass der Rechenaufwand höchstens proportional mit der Anzahl der Basisfunktionen ansteigen darf. Darin ist sowohl der Fall enthalten, dass bei gleich bleibender relativer Genauigkeit das System vergrößert wird, als auch der Fall, dass für ein vorgegebenes System die Basis erweitert wird, um eine höhere absolute Genauigkeit zu erzielen.

Eine streng mathematische Vorgehensweise ist aufgrund der komplexen Struktur des Problems nicht durchführbar. Hingegen müssen mathematische Betrachtungen durch Argumente aus Physik und Chemie ergänzt werden. Darüber hinaus liefern Physik und Chemie die Rahmenbedingungen für die zu entwickelnden numerischen Methoden. Dazu gehören die zu erreichenden Genauigkeitsanforderungen ebenso wie die Wertebereiche von systemspezifischen Parametern, welche in die Rechnungen eingehen. Es ist daher unumgänglich, das Verhalten dieser Methoden in praktischen Anwendungen zu untersuchen. Um das Mehrskalenverhalten zu studieren, sind konkrete Anwendungen für quasi-zweidimensionale Systeme wie stark anisotrope dünne metallische Schichten und Heterostrukturen in Halbleitern geplant. Bei diesen Anwendungen handelt es sich um Probleme mit einer engen Beziehung zur Quantenchemie. Bisher haben sich diese Probleme aber einer Beschreibung mit deren Methoden entzogen, da die dort gebräuchlichen Basisfunktionen hierfür schlecht geeignet sind.

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