Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Kernphysik

Der Beitrag des GALLEX-GNO-Experiments zur Lösung des Sonnenneutrino-Problems

Autoren
Hampel, Wolfgang
Abteilungen

Astroteilchenphysik (Prof. Dr. Heinrich Völk)
MPI für Kernphysik, Heidelberg

Zusammenfassung
Durch Messung der Neutrinos, die aus den Fusionsreaktionen im Inneren der Sonne stammen, lässt sich die Theorie der Energieerzeugung in der Sonne experimentell überprüfen. Die ersten Detektoren dieser Art konnten im Wesentlichen nur 8B-Neutrinos messen, die in einem seltenen, für die Energieerzeugung unbedeutenden Seitenzweig der Wasserstoff-Fusion produziert werden. Dabei wurde ein Defizit von einem Faktor 2-3 gegenüber dem Erwartungswert aus dem Standard-Sonnenmodell gefunden, das seitdem als das "Sonnenneutrino-Problem" bezeichnet wurde. Dies warf die Frage auf: Betrifft dieses Problem auch den Hauptteil der solaren Neutrinos (pp- und 7Be), der in den für die Energieerzeugung in der Sonne verantwortlichen Reaktionen produziert wird?

Die Beantwortung dieser Frage war die wesentliche Motivation zur Durchführung des GALLEX-GNO-Experiments. Das in mehr als 10 Jahren Messzeit erhaltene Ergebnis ist eindeutig: auch der Hauptteil des Sonnenneutrino-Flusses weist gegenüber der Standard-Sonnenmodell-Vorhersage ein Defizit von etwa 45% auf. Da es dafür keine plausiblen astrophysikalischen Erklärungen gibt, bleibt nur die teilchenphysikalische Lösung übrig, nach der Neutrinos eine von Null verschiedene Ruhmasse haben und oszillieren. Die Messungen mit dem SNO-Sonnenneutrino-Detektor in Kanada haben diese Schlussfolgerung vor kurzem endgültig bestätigt.

Die Anfänge des erst vor kurzem endgültig gelösten Sonnenneutrino-Problems liegen über vierzig Jahre zurück, als Raymond Davis Jr. seine Pionierarbeiten zum Nachweis von Sonnenneutrinos mithilfe eines Chlor-Detektors begann, für die er 2002 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Davis wollte die Theorie der Energieerzeugung in der Sonne experimentell überprüfen, die Hans Bethe und Carl Friedrich von Weizsäcker schon Ende der dreißiger Jahre in ihren grundlegenden Arbeiten über die Fusion von Wasserstoff zu Helium in der Sonne aufgestellt hatten [1]. Danach sind im Prinzip zwei verschiedene Reaktionszyklen möglich. Der Proton-Proton-Zyklus (pp-Zyklus) beginnt mit der Verschmelzung von zwei Protonen zu einem Deuterium-Kern, während der Kohlenstoff-Stickstoff-Sauerstoff-Zyklus (CNO-Zyklus) durch die Anlagerung eines Protons an einen schon in der Sonnenmaterie vorhandenen 12C-Kern ausgelöst wird. Acht der in beiden Zyklen ablaufenden Kernreaktionen sind β-Zerfälle, die dabei erzeugten Elektron-Neutrinos (νe) machen den solaren Neutrino-Fluss aus. Die Tatsache, dass Neutrinos nur schwach mit Materie wechselwirken, macht sie zu den einzig verfügbaren direkten Zeugen der Fusionsreaktionen im Sonneninneren, da sie den Ort ihrer Entstehung ungehindert verlassen können und etwa 8 Minuten später die Erde erreichen.

Einzelheiten über den Ablauf der Wasserstoff-Fusion in der Sonne erhält man aus aufwendigen Computer-Simulationen [2, 3], deren Ergebnis das so genannte "Standard-Sonnenmodell" (SSM) ist. Aus diesen SSM-Rechnungen ergibt sich, dass die in der Sonne bei weitem überwiegende Reaktionskette der pp-Zyklus ist, wobei als Zwischenprodukte verschiedene leichte Atomkerne wie Deuterium (d), Helium-3 (3He), Beryllium-7 (7Be), Lithium-7 (7Li) und Bor-8 (8B) gebildet werden. Abbildung 1 zeigt den Ablauf der Wasserstoff-Fusion durch den pp-Zyklus. An zwei Stellen (beim 3He- und beim 7Be-Brennen) verzweigt sich die pp-Kette, sodass das Endprodukt 4He schließlich durch drei verschiedene Reaktionswege (genannt ppI-, ppII- und ppIII-Zweig) erzeugt werden kann. Am häufigsten wird der ppI-Zweig durchlaufen, 88% der Sonnenleuchtkraft werden so erzeugt. Der ppII-Zweig steuert immerhin noch 11% zur Gesamtleuchtkraft der Sonne bei. Völlig unbedeutend für die Energieerzeugung in der Sonne ist dagegen der ppIII-Zweig. Der CNO-Zyklus spielt mit einem Beitrag zur Leuchtkraft der Sonne von nur 1,5% eine untergeordnete Rolle [2].

Das aus dem SSM resultierende Energiespektrum der Sonnenneutrinos ist in Abbildung 2 gezeigt. Für die bisherigen Experimente zum Nachweis von Sonnenneutrinos sind drei der insgesamt acht verschiedenen solaren Neutrinoquellen von besonderer Bedeutung. Bei weitem am häufigsten sind die pp-Neutrinos aus der Startreaktion des pp-Zyklus, die ein kontinuierliches Energiespektrum bis zu einer Maximalenergie von 0,42 MeV besitzen. An zweiter Stelle folgen die monoenergetischen 7Be-Neutrinos (0,86 MeV) aus dem ppII-Seitenzweig. Das Schlusslicht bilden die 8B-Neutrinos, ihr Fluss ist etwa 10000-mal kleiner als der der pp-Neutrinos, ihre Energien reichen aber bis zu 14 MeV (siehe Abb. 2).

Die bisher durchgeführten sechs Sonnenneutrino-Experimente gliedern sich in zwei Typen. Bei den radiochemischen Detektoren (Homestake, GALLEX/GNO, SAGE) wird nicht die eigentliche Neutrino-Reaktion beobachtet, sondern die durch Neutrinoeinfang produzierten Atomkerne werden später aus dem Detektor extrahiert und nachgewiesen. Beim zweiten Detektortyp (Kamiokande, Super-Kamiokande, SNO) wird das Tscherenkov-Licht registriert, das durch Neutrinoreaktionen mit Elektronen oder Deuterium-Kernen in großen Wasser- oder Schwerwasser-Tanks erzeugt wird. Diese Detektoren können wegen des Untergrundes nur ab einer Neutrinoenergie von ca. 5 MeV messen, sie erfassen daher nur den hochenergetischen Anteil der 8B-Neutrinos aus dem ppIII-Seitenzweig (Abb. 2).

Das erste der sechs inzwischen durchgeführten Experimente, das schon erwähnte radiochemische Chlor-Experiment von Raymond Davis Jr. in der Homestake-Goldmine in Süd-Dakota (USA), hat schon Anfang der siebziger Jahre etabliert, was man seitdem als das "Sonnenneutrino-Problem" bezeichnet. Das mit diesem Detektor gemessene Sonnenneutrino-Signal beträgt nur etwa 30% des Wertes, der nach dem SSM erwartet wird [4]. Da wegen der Energieschwelle (Abb. 2) die 8B-Neutrinos den Hauptbeitrag zum Messwert beisteuern sollten (~80%), kann der 8B-Neutrinofluss höchstens ~40% der SSM-Vorhersage betragen. Dieses 8B-Neutrinodefizit und damit das Sonnenneutrino-Problem wurde Ende der achtziger Jahre durch den Kamiokande-Detektor [5] und später mit wesentlich besserer Statistik durch dessen Nachfolge-Experiment, den dreißigmal größeren Super-Kamiokande-Detektor [6], bestätigt. Beide Experimente fanden nur etwa die Hälfte des nach dem SSM erwarteten 8B-Flusses.

Nun wurde oben schon erwähnt, dass der ppIII-Zweig und mit ihm die 8B-Neutrinos für die Energieerzeugung in der Sonne keine Rolle spielen. Es könnte deshalb durchaus sein, dass der ppIII-Zweig nur etwa halb so häufig durchlaufen wird, wie es das SSM vorhersagt. Die wesentliche Frage war deshalb: Tritt das Defizit an Sonnenneutrinos nur bei den 8B-Neutrinos auf oder sind auch die beiden Hauptquellen der Sonnenneutrinos (pp- und 7Be-Neutrinos) davon betroffen? Um diese Frage zu beantworten, hatte es sich die internationale GALLEX-Kollaboration unter Federführung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik in Heidelberg in den achtziger Jahren zur Aufgabe gemacht, die pp-Neutrinos mit einem radiochemischen Gallium-Detektor nachzuweisen.

Die Funktionsweise des Detektors ist wie folgt: Sonnenneutrinos werden von Kernen des Gallium-Isotops 71Ga eingefangen. Dabei entstehen radioaktive 71Ge-Atomkerne, die mit einer Halbwertszeit von 11,4 Tagen wieder zerfallen. Nach jeweils etwa einem Monat Exponierungszeit werden die wenigen (durch Sonnenneutrinos produzierten) 71Ge-Atome mit verschiedenen physikalischen und chemischen Verfahren aus dem Gallium-Target extrahiert und in Proportionalzählrohre gefüllt, mit denen der 71Ge-Zerfall nachgewiesen wird. GALLEX verwendete 30,3 Tonnen Gallium in Form von 101 Tonnen Galliumchlorid-Lösung. Zur Abschirmung gegen die Kosmische Strahlung wurde der Detektor in Halle A des Gran-Sasso-Untergrundlabors aufgebaut. Dieses befindet sich unter 1200 m Gesteinsabdeckung in der Mitte eines Autobahntunnels durch die italienischen Abruzzen, etwa 150 km östlich von Rom. Abbildung 3 zeigt den Südflügel der Halle A mit den beiden GALLEX-Gebäuden. Die Messungen begannen 1991 und dauerten zunächst bis Anfang 1997. Seit 1998 wurden die Messungen im Rahmen der Nachfolge-Kollaboration GNO (Gallium Neutrino Observatory) fortgeführt und 2003 abgeschlossen.

Abbildung 4 zeigt die im Laufe des Betriebes von GALLEX und GNO publizierten kumulativen Messergebnisse [7]. Ebenfalls eingetragen ist die Vorhersage aus dem SSM, 131+12-10 SNU (1 SNU ≡ 10-36 Reaktionen pro Sekunde und Targetatom), sowie deren Aufteilung auf die verschiedenen solaren Neutrinoquellen [3]. Waren die ersten publizierten GALLEX-Ergebnisse innerhalb von 2 Standardabweichungen gerade noch mit dem SSM-Erwartungswert verträglich, so hat die Reduktion des statistischen und systematischen Fehlers über die mehr als zehn Jahre Gesamt-Messzeit von GALLEX und GNO zu einem Endergebnis von (69,3±5,5) SNU geführt, dass ebenfalls ein eindeutiges Defizit (5,5σ) gegenüber der Vorhersage des SSM aufweist. Damit ist klar: Das Sonnenneutrino-Problem betrifft nicht nur die für die Energieerzeugung in der Sonne unbedeutenden 8B-Neutrinos, es betrifft auch den Hauptteil der solaren Neutrinos.

An dieser Stelle sollte noch erwähnt werden, dass das Ergebnis eines zweiten Gallium-Sonnenneutrino-Experiments, das die russisch-amerikanische Kollaboration SAGE im Baksan-Untergrundlabor im Kaukasus seit 1990 mit ~50 Tonnen Gallium betreibt, mit 66,9+5,3-5,0 SNU in guter Übereinstimmung mit dem GALLEX/GNO-Ergebnis ist [8].

Welche Schlussfolgerungen sind nun aus den Gallium-Ergebnissen zu ziehen? Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Gallium-Signal nur zu erklären ist, wenn es einen wesentlichen durch pp-Neutrinos produzierten Anteil enthält (siehe Abb. 4). Damit ist zum ersten Mal der Ablauf der Wasserstoff-Fusion nach dem pp-Zyklus in der Sonne experimentell bestätigt worden. Auf der anderen Seite ist klar, dass das Sonnenneutrino-Defizit mindestens auch eine der beiden häufigsten solaren Neutrinoquellen betrifft. Zwar lässt sich aus den Gallium-Daten nicht ableiten, ob nur der pp-Anteil oder nur der 7Be-Anteil im gemessenen Signal oder beide ein Defizit aufweisen (Abb. 4). Die Antwort auf diese Frage wird von dem BOREXINO-Sonnenneutrino-Detektor [9] erwartet, der die 7Be-Line des Sonnenneutrino-Spektrums (siehe Abb. 2) mithilfe von Elektron-Neutrino-Streuung in 300 Tonnen eines Flüssig-Szintillators messen soll und in Kürze den Messbetrieb aufnehmen wird.

In jedem Fall aber sind Änderungen am Sonnenmodell, die zu einer Reduktion entweder des pp- oder des 7Be-Anteils im Gallium-Signal führen und so Übereinstimmung mit den gemessenen Daten ergeben, praktisch nicht möglich. Sie führen entweder dazu, dass die in den Fusionsreaktionen erzeugte Energie nicht ausreicht, um die Leuchtkraft der Sonne aufrecht zu erhalten, oder aber sie sind in Konflikt mit einem anderen Zweig der Sonnenforschung, der Helioseismologie (d.h. mit den Messungen der akustischen Schwingungen der Sonnenoberfläche) [2].

Damit bleiben als Erklärung für das Sonnenneutrino-Problem praktisch nur noch die Ausbreitungseigenschaften des Elementarteilchens Neutrino übrig. Wenn Neutrinos (abweichend vom bisherigen Standardmodell der Teilchenphysik) eine von Null verschiedene Ruhmasse haben, dann kann man die drei bekannten Neutrino-Typen Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino (νe, νμ, ντ) als Mischungen von drei unterschiedlich schweren Anteilen (den so genannten Masseneigenzuständen) betrachten, die aufgrund ihrer Massenunterschiede verschiedene Ausbreitungsgeschwindigkeiten haben können. Dadurch werden die Mischungsverhältnisse durch Interferenzeffekte ortsabhängig oder anders gesagt: Neutrinos oszillieren zwischen den verschiedenen Neutrinotypen hin- und her. Dies führt dazu, dass ein Teil der in der Sonne als νe gestarteten Neutrinos die Detektoren auf der Erde als νμ oder ντ erreichen. Daraus folgt automatisch eine Reduktion des gemessenen Neutrinosignals, da νμ oder ντ in den radiochemischen Detektoren überhaupt nicht nachgewiesen werden können und da bei der Elektron-Neutrino-Streuung (auf der die beiden Kamiokande-Detektoren basieren) die Reaktionswahrscheinlichkeit für νμ oder ντ etwa um einen Faktor sieben kleiner ist als für νe.

Die Amplitude der Ozillationen hängt von der Stärke der Neutrinomischung ab (dies wird üblicherweise durch einen Mischungswinkel θ beschrieben). Die Oszillationslänge ist eine Funktion der Neutrinoenergie sowie der Massen der beteiligten Masseneigenzustände (genauer: der Differenz ihrer Massenquadrate Δm2). Darüber hinaus gibt es noch zusätzliche Effekte, die die Oszillationen modifizieren können, wenn Neutrinos durch Materie (Sonne, Erde) laufen. All dies führt zu einer komplexen Abhängigkeit des für die verschiedenen Experimente resultierenden Reduktionsfaktors von den genannten Parametern. Unterzieht man alle gemessenen Sonnenneutrino-Daten einer gemeinsamen (globalen) Analyse, dann gibt es in der Tat eine (und nur eine) Kombination von Oszillationsparametern θ und Δm2, die alle Sonnenneutrino-Daten erklären kann [10].

Wenn noch Zweifel an der Neutrino-Oszillations-Lösung für das Sonnenneutrino-Problem bestanden, dann konnten diese vor kurzem endgültig ausgeräumt werden. Die SNO-Kollaboration hat im kanadischen Sudbury mit einem Detektor aus 1000 Tonnen schwerem Wasser (D2O) 8B-Sonnenneutrinos gemessen [10]. Unter anderem konnte die Aufspaltung von Deuterium in ein Proton und ein Neutron durch 8B-Sonnenneutrinos gemessen werden. Dieser Prozess läuft unabhängig von dem am Detektor ankommenden Neutrinotyp ab. Damit konnte SNO den Nachweis erbringen, dass die im Sonneninneren produzierten Elektron-Neutrinos (νe) am terrestrischen Detektor tatsächlich als eine Mischung aus Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos (νe, νμ, ντ) ankommen und dass der so gemessene 8B-Neutrinofluss innerhalb der Messfehler mit der SSM-Vorhersage übereinstimmt [10]. Damit ist endgültig klar, dass die gemessenen Sonnenneutrino-Defizite aller sechs bisher durchgeführten Experimente durch Neutrino-Oszillationen verursacht werden und nicht etwa durch unserer unzureichendes Verständnis der Neutrinoproduktion im Sonneninneren.

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