Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Kohlenforschung

Evolution im Reagenzglas: Neue Perspektiven für die Weiße Biotechnologie

Autoren
Reetz, Manfred T.
Abteilungen
Zusammenfassung
Das Konzept der gelenkten Evolution von selektiven Enzymen hat zu neuen und effizienten Katalysatoren für die Anwendung in der organischen Synthesechemie geführt, wodurch die Weiße Biotechnologie neue Perspektiven erfährt.

Die Katalyse gehört zu den Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts. Katalysatoren sind Substanzen, die Stoffumwandlungen ermöglichen und/oder beschleunigen, ohne selbst verbraucht zu werden. Neben der Anwendung in Kraftfahrzeugen steuern Katalysatoren heute schon mehr als 80% aller großtechnischen Prozesse in der chemischen Industrie, so z. B. bei der Herstellung von Medikamenten, Pflanzenschutzmitteln, Kunst- und Farbstoffen. Für die jeweiligen Zwecke wurden Tausende von Katalysatoren entwickelt, die aber nicht durchweg effizient, selektiv und umweltfreundlich sind. Nicht zuletzt ist dies der Grund, warum die Bedeutung der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Katalyse nicht abflacht, sondern weltweit zunimmt.

Von den verschiedenen Katalysator-Typen finden Biokatalysatoren, insbesondere die Enzyme, zunehmende Bedeutung in der Industrie. Enzyme sind eigentlich die Katalysatoren der belebten Welt. Sie katalysieren Tausende von Stoffumwandlungen mit perfekter Selektivität, ohne die das Leben nicht möglich wäre. Einige von diesen Biokatalysatoren wurden von Chemikern und Biotechnologen für nicht natürliche Stoffumwandlungen „zweckentfremdet“, so z. B. beim BASF-Verfahren zur selektiven Herstellung von Aminen, die als Bausteine für Pflanzenschutzmittel und Pharmazeutika dienen. Obwohl die eigentlichen Stoffe, also synthetische Verbindungen, gar nicht in der Natur vorkommen, werden sie bei industriell interessanten Stoffumwandlungen in zunehmendem Maße erfolgreich eingesetzt. Prozesse dieser Art bilden die Basis der so genannten Weißen Biotechnologie, ein weltweit rapid wachsender Industriezweig. Dabei spielen nicht nur ökologische Gründe eine Rolle, sondern auch die hohe Selektivität der katalytischen Prozesse. Eine unselektive Stoffumwandlung liefert neben dem Hauptprodukt unerwünschte Nebenprodukte, deren Abtrennung bzw. Entsorgung aufwendig ist. Leider sind Enzym-katalysierte Stoffumwandlungen von synthetischen Verbindungen nicht durchweg selektiv. Die Evolution hat nicht das Ziel, Chemikern Gefallen zu tun! Man kann davon ausgehen, dass sogar die Mehrzahl der industriell potenziell interessanten Enzym-katalysierten Stoffumwandlungen unselektiv verläuft. In vielen anderen Fällen werden die synthetischen Substanzen erst gar nicht vom Enzym „akzeptiert“, d. h., es findet überhaupt keine Stoffumwandlung statt. Gäbe es nun eine Methode, die natürlichen Enzyme, man nennt sie Wildtyp-Enzyme, für den Chemiker „gefügig“ zu machen, so würde die Weiße Biotechnologie davon stark profitieren. Der Autor hat dazu einen Beitrag geleistet und zwar mithilfe der so genannten gerichteten bzw. gelenkten Evolution.

Evolution in der Natur bedeutet sich ständig wiederholende Zyklen von Mutation und Selektion. Aus dem daraus entstehenden evolutionären Druck gelang es der Natur, innerhalb von etwa 2 Milliarden Jahren so komplizierte und effiziente molekulare Systeme wie die Enzyme hervorzubringen. Dies inspirierte Forscher wie S. Spiegelman, M. Eigen, R. Hageman u. a., „künstliche Evolution“ im Labor zu testen. Aber erst in den 1980er- und 1990er-Jahren wurden effiziente künstliche Gen-Mutagenese-Methoden entwickelt und angewandt, um Enzym-Mutanten mit erhöhter Aktivität und Stabilität zu erzeugen (F. H. Arnold, W. P. C. Stemmer u. a.). Diese wichtigen Beiträge befassten sich aber nicht mit dem zentralen Problem der Enzym-Selektivität oder gar Substrat-Akzeptanz, die für den praktizierenden Chemiker so wichtig sind.

Am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung stellte sich der Autor in den 1990er-Jahren die Frage, ob man nicht im Reagenzglas die Evolution simulieren könne, um natürliche bzw. Wildtyp-Enzyme allgemein für chemische Reaktionen als Biokatalysatoren nützlich zu machen, d. h. Mutanten innerhalb kürzester Zeit zu erzeugen, die beliebige Substrate selektiv umsetzen [1, 2]. Wird die beste Mutante durch ein Screening-System [3] identifiziert und diese erneut in einem Zyklus bestehend aus Mutagenese und Screening eingesetzt, so wird evolutionärer Druck erzeugt.

Im Zentrum der modernen synthetischen organischen Chemie steht die so genannte Enantioselektivität, eine wichtige Art der Selektivität. Enantiomere sind spiegelbildliche Substanzen, die räumlich nicht zur Deckung zu bringen sind. Sie sind also chiral. Trotz der großen Ähnlichkeit können Enantiomere sehr unterschiedliche biologische Wirkungen entfalten, so z. B. bei Medikamenten und Pflanzenschutzmitteln. Die katalytisch gesteuerte selektive Bildung beliebiger Enantiomere gehört deshalb zu den großen Herausforderungen der modernen Chemie. Tatsächlich gelang 1997 in Mülheim erstmals die gelenkte Evolution von enantioselektiven Enzymen, worüber der Autor im öffentlichen Vortrag auf der Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft 2001 in Berlin unter dem Titel „Evolution im Reagenzglas: Biokatalysatoren auf dem Vormarsch“ vorgetragen hat. Das Prinzip ist schematisch in Abbildung 1 dargestellt [1, 2]. Wiederholende Zyklen von Gen-Mutagenese und Expression unter Bildung Tausender Enzym-Mutanten gefolgt von Hochdurchsatz-Screening [3] auf Enantioselektivität einer gegebenen Stoffumwandlung erzeugen den evolutionären Druck, der zu selektiven Katalysatoren führt. So konnten hoch-enantioselektive Lipase-Mutanten erzeugt werden, die als aktive Biokatalysatoren bei der Herstellung von chiralen Carbonsäuren dienen. In Zusammenarbeit mit der Theorie-Abteilung des Instituts (W. Thiel) gelang die theoretische Analyse der Ergebnisse [4]. So konnte geklärt werden, warum bestimmte Mutationen die Enantioselektivität erhöhen.

Die zugrunde liegende Idee konnte inzwischen verallgemeinert werden, wobei gleich mehrere Probleme gelöst werden mussten [1, 2]. So war keineswegs klar, welche der bekannten Gen-Mutagenese-Methoden angewandt werden sollten, d. h. optimale Strategien zum „Durchsuchen“ des Proteinsequenzraumes mussten entwickelt werden. Die Bausteine der Proteine sind die 20 so genannten proteinogenen Aminosäuren. Bei einem typischen Enzym von z. B. 300 Einheiten existiert theoretisch eine nahezu unendlich hohe Zahl von Verknüpfungsmöglichkeiten. Es ist allzu leicht, sich in einem solchen Proteinsequenzraum zu verirren! Ferner mussten effiziente Screening-Methoden zur Bestimmung der Enantiomerenreinheit Tausender Proben entwickelt werden, was z. B. mit dem Mülheimer MS-System gelungen ist [3]. Nach der Pionierarbeit mit den Lipasen konnte in jüngster Zeit die gelenkte Evolution von enantioselektiven Cyclohexanon-Monooxygenasen (CHMO) zur Herstellung chiraler Lactone [5] und Sulfoxide [6] sowie von Epoxid-Hydrolasen [7] zur Synthese chiraler Diole durchgeführt werden. Alle drei Substanzklassen spielen in der pharmazeutischen Industrie eine wichtige Rolle. Abbildung 2 zeigt einige typische Beispiele. Inzwischen haben andere Gruppen in Japan, England, Niederlande, Kanada, Schweden und den USA das Konzept aufgegriffen, so auch Industrieforscher der Degussa AG (Deutschland) und der Diversa (USA).

Damit wird klar, dass der Chemiker ein fundamental neues Instrumentarium erhalten hat, um effiziente Katalysatoren für die asymmetrische bzw. enantioselektive Stoffumwandlung zu entwickeln. Ungelöst blieb jedoch bis vor kurzem ein weiteres klassisches Problem der Enzym-Katalyse, nämlich die beschränkte Substrat-Akzeptanz. Man weiß seit Jahrzehnten, dass viele, wenn nicht gar die meisten synthetischen Verbindungen von Enzymen überhaupt nicht umgesetzt werden, da häufig solche Substrate nicht in die Bindungstasche der Enzyme optimal passen (Schloss/Schlüssel-Prinzip von E. Fischer), weil sie entweder zu groß oder zu klein sind. Auch dieser Herausforderung stellte sich die Mülheimer Arbeitsgruppe. Dazu wurde eine einfache, jedoch äußerst wirksame Strategie entwickelt. Mithilfe von fokussierten Mutantenbibliotheken, hergestellt durch Randomisierung von geeignet gewählten Aminosäure-Paaren um das aktive Zentrum bzw. der Bindungstasche des Enzyms, können nun hoch-aktive Mutanten für die katalytische Umsetzung von sonst inerten Verbindungen gewonnen werden! Diese Methode, genannt Combinatorial Active-Site Saturation Test (CAST) [8], erfordert deutlich kleinere Mutanten-Bibliotheken, sodass der Screening-Aufwand drastisch herabgesetzt wird. Ungeahnte Möglichkeiten werden dadurch eröffnet. So lässt sich CASTing auch auf die Steigerung der Enantioselektivität anwenden.

CASTing dürfte in Zukunft die Methode der Wahl sein, den ersten Schritt einer gelenkten Evolution zu vollziehen. Dieser ist jedoch (noch) kein evolutionärer Prozess, denn es handelt sich um die erste Generation von Mutanten. Bestechend einfach ist es jedoch, den erforderlichen Darwinistischen Charakter zu erzeugen, nämlich durch Re-CASTing. Danach wird das Gen der besten Mutante aus den ersten CAST-Bibliotheken erneut dem CASTing unterworfen. In einem Fall wurden vier solcher Runden durchlaufen, um die Enantioselektivität einer Epoxidhydrolase-katalysierten Reaktion schrittweise zu erhöhen. So wurde der Selektivitätsfaktor E, der ein Maß für die relative Reaktionsgeschwindigkeit der beiden enantiomeren Formen darstellt, mehr als verzehnfacht (Abb. 3). Eine weitere evolutionäre Optimierung führte zu E = 110 [7].

Die am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung entwickelten Konzepte und Methoden zur evolutionären Optimierung von Enzymen als Katalysatoren in der organischen Synthesechemie sind Ergebnisse der Grundlagenforschung. Sie haben aber jetzt schon den Weg in die Industrie gefunden. Eine weitere stürmische Entwicklung ist zu erwarten.

An den hier vorgestellten Arbeiten waren beteiligt: Reetz, Bocola, Brunner, Carballeira, Clouthier, Daligault, Deege, Hermes, Hinrichs, Hollmann, Leca, Lohmer, Maichele, Otte, Schneider, Schulz, Torre, Vogel, Wang, Zha; zum Teil Zusammenarbeit mit Thiel, Belder, Schrader, Kayser, Jäger.

Originalveröffentlichungen

M. T. Reetz:
Changing the Enantioselectivity of Enzymes by Directed Evolution
In: Methods in Enzymology Vol. 388 (Protein Engineering), (Eds.: D. E. Robertson, J. P. Noel), Elsevier Academic Press, San Diego 2004, pp. 238-256.
M. T. Reetz:
Controlling the Enantioselectivity of Enzymes by Directed Evolution: Practical and Theoretical Ramifications
Proceedings of the National Academy of Sciences U. S. A. 101, 5716-5722 (2004).
M. T. Reetz:
High-throughput Screening of Enantioselective Industrial Biocatalysts
In: Evolutionary Methods in Biotechnology, (Eds.: S. Brakmann, A. Schwienhorst), Wiley-VCH, Weinheim 2004, pp. 113-141.
M. Bocola, N. Otte, K.-E. Jaeger, M. T. Reetz, W. Thiel:
Learning from Directed Evolution: Theoretical Investigations into Cooperative Mutations in Lipase Enantioselectivity
ChemBioChem 5, 214-223 (2004).
M. T. Reetz, B. Brunner, T. Schneider, F. Schulz, C. M. Clouthier, M. M. Kayser:
Directed Evolution as a Method to Create Enantioselective Cyclohexanone Monooxygenases for Catalysis in Baeyer-Villiger Reactions
Angewandte Chemie 116, 4167-4170 (2004); Angewandte Chemie International Edition 43, 4075-4078 (2004).
M. T. Reetz, F. Daligault, B. Brunner, H. Hinrichs, A. Deege:
Directed Evolution of Cyclohexanone Monooxygenases: Enantioselective Biocatalysts for the Oxidation of Prochiral Thioethers
Angewandte Chemie 116, 4170-4173 (2004); Angewandte Chemie International Edition 43, 4078-4081 (2004).
M. T. Reetz, L.-W. Wang:
Enantioselective Enzymes: Iterative Cycles of CASTing as an Efficient Strategy for Probing Protein Sequence Space
eingereicht zur Publikation.
M. T. Reetz, M. Bocola, J. D. Carballeira, D. Zha, A. Vogel:
Expanding the Range of Substrate Acceptance of Enzymes: Combinatorial Active-Site Saturation Test
Angewandte Chemie 117, 4264-4268 (2005); Angewandte Chemie International Edition 44, 4192-4196 (2005).
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