Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften

Kopplung von Dynamiken und Strukturbildung

Coupled dynamical systems and structure formation

Autoren
Atay, Fatihcan; Jost, Jürgen
Abteilungen
Zusammenfassung
Wir untersuchen die Strukturbildung in gekoppelten dynamischen Systemen. Auch wenn die Einzelelemente mit komplexen eigenen Dynamiken ausgestattet sind, kann es zu dynamischer Synchronisation kommen. Dies ist sogar bei zeitverzögerter Erregungsübertragung möglich, wenn es also im System keinen internen Begriff von Gleichzeitigkeit mehr gibt. Bei geeigneten Parameterkonstellationen können wir auch beobachten, dass die durch die Kopplung bewirkte Einschränkung der individuellen Freiheitsgrade die Emergenz systemweit koordinierter Dynamiken auf einer längeren Zeitskala bewirkt. Dies deutet einen neuen mathematischen Zugang zum Verständnis von Strukturbildung in gekoppelten Systemen an.
Summary
We investigate the formation of structure in coupled dynamical systems. Although the individual elements may possess complex dynamics of their own, the system can globally synchronize. This is even possible when the activities between elements are transmitted with temporal delays, that is, when the system does no longer have an intrinsic notion of simultaneity. For suitable parameter constellations, it can also be observed that the restriction of the individual degrees of freedom of the participating elements caused by the coupling leads to the emergence of global dynamical patterns on a longer time scale. This suggests a new mathematical approach to the formation of structure in coupled systems.

Die Untersuchung der Entstehung von Systemen führt auf die Frage nach den Mechanismen der Koordination der einzelnen Systemelemente oder -agenten. Ein Ansatz hierzu hat in der letzten Zeit den Begriff der Selbstorganisation besetzt und beruht auf der Herausbildung globaler Effekte durch nichtlineare Wechselwirkungen zwischen Primitivelementen, die nur wenige Zustände annehmen können, typischerweise sogar nur zwei, benannt beispielsweise als 0 oder 1, ja oder nein, aktiv oder inaktiv. Diese Wechselwirkungen beruhen auf Regeln, nach denen die jeweiligen Zustände von Elementen Zustandsveränderungen in anderen Elementen hervorrufen können. Diese Interaktionen vollziehen sich oft nur lokal, d.h. nur zwischen benachbarten oder ähnlichen Elementen, aber durch Iterationen derartiger lokaler Prozesse können sich dann eindrucksvolle globale Muster entwickeln. Das bekannteste Beispiel ist vielleicht das „Spiel des Lebens“ von Conway, bei dem sich in einem solchen System selbstreplizierende Strukturen herausbilden. Allerdings scheint die Komplexität aller derartiger Ansätze, die auf Wechselwirkungen zwischen einfach gebauten Elementen beruhen, trotz aller schönen Muster weit hinter derjenigen real existierender komplexer Systeme zurück zu bleiben. Nun entwickeln sich letztere in mehrstufigen Prozessen, und in jedem höheren Schritt entsteht durch die Koordination von schon selbst komplex gebauten Einzelelementen ein noch komplexeres System. Es scheint daher sinnvoll zu sein, Kopplungen zwischen komplexen Dynamiken formal zu untersuchen und durch die Analyse spezifischer mathematischer Modelle das Verständnis entsprechender Mechanismen zu vertiefen.

Ein erstes, zwar konzeptionell noch recht einfaches, aber mathematisch durchaus subtiles Beispiel ist die Synchronisation chaotischer Dynamiken. Erfolgreiche Synchronisationsmechanismen begründen die überlegene Leistungsfähigkeit vieler realer Systeme, von komplexen intrazellulären Abläufen bis zu sozialen Prozessen, von der Koordination biologischer Entwicklungsprozesse bis hin beispielsweise zur römischen Armee. Chaotische Dynamiken sind bekanntlich gekennzeichnet durch das Wechselspiel zwischen lokaler Amplifikation von Unterschieden, die die zeitliche Entwicklung eines Anfangszustandes hypersensitiv gegenüber kleinen Störungen und eine genaue Prognose dieser Entwicklung über längere Zeiträume unmöglich macht, und globalen Beschränkungen, die das System immer wieder auf sich zurückfalten und so zum Zusammenlaufen verschiedener dynamischer Bahnen führen. Solche Dynamiken lassen sich beispielsweise in neuronalen Netzen durch die Kombination von gegenseitiger Anregung und Hemmung der Einzelelemente erzeugen. Wir betrachten nun ein gekoppeltes Netzwerk von gleichartigen solchen chaotischen Oszillatoren. Jedes Element benutzt also nicht nur wie in der isolierten Situation seinen eigenen Zustand zu einem gegebenen Zeitpunkt zur Berechnung seines Zustandes im nächsten Zeitpunkt, sondern verwendet auch noch die mit einem Kopplungsfaktor gewichteten Zustände der ihm im Netzwerk benachbarten Elemente. Abhängig von der Kopplungsstärke und der Verknüpfungsstruktur des Netzwerkes kann es dann zu einer Synchronisation der einzelnen chaotischen Dynamiken kommen. Dies bedeutet, dass sich die Einzelelemente nach wie vor chaotisch verhalten, aber alle in genau der gleichen Weise. Kennt man also die Dynamik eines Elementes, so kennt man damit auch schon die Dynamik aller anderen. Dies mag verblüffend erscheinen, so wie wenn jedes Mitglied einer Gruppe besonders originell sein will, aber letztendlich alle genau auf die gleiche Weise originell sind, aber es kommt noch interessanter. Wir betrachten nämlich gekoppelte Dynamiken mit Zeitverzögerung. Dies bedeutet, dass den einzelnen Elementen für die Berechnung des nächsten Zustandes nicht die gegenwärtigen Zustände ihrer Nachbarn zur Verfügung stehen, sondern nur solche zu einem früheren Zeitpunkt. Dass Wirkungen nicht instantan übertragen werden, sondern nur mit einer bestimmten Verzögerung, ist eine offensichtlich realistische Annahme, von der Relativitätstheorie Einsteins bis zu Modellen neurobiologischer Dynamiken. Wir haben nun herausgefunden und mathematisch begründet, dass es auch bei mit Zeitverzögerungen gekoppelten Dynamiken zur Synchronisation kommen kann, ja dass sogar oftmals die Zeitverzögerung der Informationsübertragung die Synchronisation erleichtert. Dies ist in Abbildung 1 zu sehen. In metaphorischer Sprache denkt also jeder, dass er den anderen voraus wäre, aber dies liegt nur daran, dass er den Zustand der anderen nur mit Verzögerung wahrnehmen kann, und tatsächlich verhalten sich alle gleich.

Ob nun eine Synchronisation stattfindet, hängt entscheidend von der Verknüpfungsstruktur des zugrunde liegenden Netzwerkes ab, d.h. davon, welches Element mit welchen anderen verbunden ist und somit Informationen über deren Zustände empfängt. Anders als oft behauptet wird, hat dies nichts mit einigen der qualitativen Netzeigenschaften zu tun, auf die sich die heutige Literatur gerne fokussiert, wie diejenige der Skalenfreiheit, wo Wege zwischen entfernt liegenden Elementen typischerweise über Netzwerkknoten mit besonders vielen Verbindungen laufen, wie bei Luftverkehrsnetzen oder dem Internet. Vielmehr lässt sich die Synchronisierbarkeit eines Netzes alleine zurückführen auf die Eigenwerte eines sog. Laplaceoperators des als Graphen formalisierten Netzes. Diese Einsicht bietet uns nun auch einen neuen Ansatzpunkt zur systematischen Analyse der Daten zu realen Netzwerken, von intrazellulären Genregulations- und Signaltransduktionsnetzwerken über neurobiologische Netze bis hin zu Infrastruktursystemen. Auf diese Weise hoffen wir, herausfinden zu können, was die Verknüpfungsstrukturen in einem bestimmten Gebiet von denjenigen in anderen Gebieten unterscheidet, um so eine Alternative zu der im Moment besonders populären Suche nach universellen Eigenschaften realer Netzwerkdaten zu entwickeln.

Um aber auf die Synchronisation zurückzukommen, so ist diese vielleicht doch in gewisser Hinsicht ein langweiliges Phänomen, weil nämlich auf der Systemebene genau das gleiche wie in den Einzeldynamiken passiert, also nichts Neues. Nun zeigt sich aber, dass bei der zeitverzögerten Kopplung chaotischer Dynamiken auch ein neuartiges reguläres Systemverhalten auf einer längeren Zeitskala entstehen kann. In Abbildung 2 zeigt sich eine langsame regelmäßige Modulation der schnellen chaotischen Dynamiken auf Systemebene. Dadurch, dass durch die Kopplung die Freiheitsgrade der einzelnen Elemente zunächst drastisch eingeschränkt werden, kann das System seine dynamischen Möglichkeiten bündeln und auf einer neuen Zeitskala umsetzen. Dass sich dieses Phänomen in einem konkreten mathematischen Modell realisieren lässt, führt nun einerseits zu neuen Aufgaben für die mathematische Analysis, insbesondere schließlich zu derjenigen, Strukturbildungsprozesse in Situationen zu verstehen, wo die Einzelelemente schon zu komplex für eine vollständige und detaillierte Modellierung sind. Andererseits eröffnet dies auch einen neuen Ansatz zum Verständnis der Emergenz globaler Systemdynamiken. Die Verlagerung des durch die Kopplung von komplexen Einzelelementen gewonnenen dynamischen Potenzials auf eine längere Zeitskala findet auch für die Modellierung der Entstehung sozialer Strukturen Interesse.

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