Die Vernetzung der Kulturen

Grundlagenforschung findet für Steven Vertovec, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen, nicht unbedingt nur im Elfenbeinturm statt. Mit Fakten und Vorschlägen beteiligte sich seine Abteilung für gesellschaftliche Vielfalt am neuen Entwurf für ein Integrations- und Diversitätskonzept der Stadt Frankfurt am Main.

„Friede, Freude, Falafel“ – das fiel vor einiger Zeit dem Journalisten einer kleinen Berliner Tageszeitung in einer Glosse zum Thema Integration ein. Wenn Liebe tatsächlich durch den Magen gehen würde, sollte angesichts der in den Innenstädten allgegenwärtigen Dönerbuden, Pizzaschnellimbisse und Running-Sushi-Lokale das Thema längst vom Tisch sein. Dass offenbar nach wie vor Handlungsbedarf besteht, zeigt sich jedoch darin, dass selbst ausgewiesene Experten kommunaler Integrationspolitik wie die Stadt Frankfurt nach neuen Wegen für ein konstruktives Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen suchen.

Die Mainmetropole hat darin einige Erfahrung. Schließlich war der Magistrat der Stadt Ende der 1980er-Jahre auf die Idee gekommen, ein Amt für multikulturelle Angelegenheiten (AmkA) einzurichten. Dessen Aufgabe war und ist es, die Gestaltung des friedlichen Zusammenlebens von Menschen deutscher und ausländischer Nationalität, unterschiedlicher Herkunft und Religionszugehörigkeit intensiver zu fördern. Die Aktion entsprach so gar nicht dem damals herrschenden Zeitgeist, der Einwanderung als gesellschaftliche Realität allgemein lieber ignorierte oder unter Integration schlicht verstand, dass die Minderheit der neuen Mitbürger sich der Mehrheit – also der deutschen Leitkultur – anzupassen hätte.

Neues Konzept verlangt einen radikalen Kurswechsel

Zum 20. Geburtstag machten sich die Frankfurter „Multikulti“-Pioniere von Amts wegen ein besonderes Geschenk: einen Entwurf für ein Integrations- und Diversitätskonzept, in dem auf 236 Seiten Gastautorinnen und -autoren ihre Sicht auf die gesellschaftlichen Realitäten in der Stadt darlegen. Für den wissenschaftlichen Teil waren die Kulturanthropologin Regina Römhild, inzwischen Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, und Max-Planck-Direktor Steven Vertovec zuständig. Gedacht als Gesprächsleitfaden für eine offene Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt, birgt das Werk einige Überraschungen. Denn abgesehen davon, dass es das AmkA zumindest nominell obsolet erscheinen lässt, legt es einen radikalen Kurswechsel nahe.

„Es ist ein Abschied vom Multi-kulti“, sagt Steven Vertovec. Denn die gängigen Vorstellungen vom Multikulturalismus als Nebeneinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen passen nach seinen Beobachtungen so gar nicht mehr zu den gesellschaftlichen Bedingungen, wie er sie nicht nur in Frankfurt vorfand. Schon seit mehr als zwei Jahrzehnten erforscht der Sozialanthropologe die Phänomene der internationalen Migration, des Kosmopolitismus und Multikulturalismus in den Metropolen der Welt.

Im Jahr 2007 war Vertovec Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften und baute dort die Abteilung für gesellschaftliche Vielfalt auf. Heute arbeiten in dem schlichten Neubau am Rande der Göttinger Innenstadt junge Wissenschaftler verschiedener Fachrichtung daran, nach neuesten Ansätzen und Methoden der Soziologie, Sozialpsychologie oder Anthropologie Daten und Fakten über die urbane Bevölkerung zusammenzutragen; das Material soll ihnen Aufschluss über die wechselnden Formen, Dynamiken und Folgen gesellschaftlichen Miteinanders geben.

So gesehen passte die Anfrage aus dem Frankfurter AmkA, ob er nicht gemeinsam mit der Kulturanthropologin Römhild wissenschaftliche Grundlagen in den Entwurf einbringen könnte, dem 52-Jährigen sehr gut ins Konzept. „Frankfurt interessiert mich auch, weil es eine Global City ist“, nennt er einen weiteren Grund für sein Interesse, eine Generalinventur der Frankfurter Einwanderungsgesellschaft vorzunehmen. Aufgrund ihrer Tradition als Handelsstadt und ihrer miteinander verwobenen Infrastrukturen im Transport-, Finanz- und Geschäftswesen könne man die Mainmetropole als Europas wichtigsten urbanen Kreuzungspunkt bezeichnen. Trotz ihrer mit 670000 Menschen vergleichsweise geringen Einwohnerzahl sei Frankfurt eine „Stadt der Superlative“, die als einzige deutsche Stadt neben Weltstädten wie New York, Tokio und London stehe.

Diese Global Cities verbindet aus Sicht des Sozialanthropologen nicht nur ihre Rolle als Synapsen der globalen Wirtschaft, die sie als Sitz von Zentralen transnationaler Unternehmen und Institutionen, Finanzzentren und Drehscheiben internationalen Verkehrs innehaben. Auch in ihrer gesellschaftlichen Struktur entdeckte der Forscher mit dem Faible für Vielfalt spannende Parallelen.

Frankfurt ist Deutschlands internationalste Stadt

Wie alle Weltstädte weist auch die Mainmetropole eine stark international geprägte Bevölkerung auf: 40 Prozent der Frankfurter Bürgerinnen und Bürger haben entweder eigene Migrationserfahrung oder familiären Einwanderungshintergrund. Damit sei Frankfurt die internationalste Stadt in Deutschland, sagt der Max-Planck-Forscher. Dabei ist sie hinsichtlich der Herkunftsländer ihrer Zuwanderer genauso bunt gemischt, wie er es von anderen Global Cities aus früheren Forschungsarbeiten kennt.

Steven Vertovec zieht aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch eine Grafik, die auf der Basis von Daten aus der Einwohnerstatistik von Frankfurt erstellt wurde: ein Kreis mit vielen farbigen Segmenten, die die prozentuale Verteilung der Frankfurter nach ihrer Herkunft in Tortenstücke aufteilen. Ein ähnliches Bild hat Vertovec bereits aus seiner Londoner Studie in der Schublade – ein sehr ähnliches, denn in beiden Städten leben fast gleich viele verschiedene Nationen zusammen: 179 in London, 176 in Frankfurt.

„Was wir hier herausgefunden haben, widerspricht der gängigen Wahrnehmung, nach der die größeren Gruppen immer noch aus der Türkei und aus dem Süden oder Osten Europas kommen“, erklärt der Wissenschaftler. So zeigt seine Grafik zwar einerseits, dass die klassischen Herkunftsländer der Gastarbeiter der ersten Generation – insbesondere Türkei und Italien – immer noch die größten Abschnitte in der Grafik bilden. „Doch andererseits nehmen ihre Anteile gegenüber einer hohen Zahl neuer Einwanderer von kleinen bis kleinsten Gruppen aus aller Welt ab“, beschreibt er den Trend in der Statistik, der so gar nicht dem Bild entspricht, dass frühere Untersuchungen entworfen haben, etwa die Frankfurter Integrationsstudie aus dem Jahr 2008.

Diese noch gar nicht so alte Arbeit habe lediglich zwischen „Ausländern“ verschiedener Nationalität und „Deutschen“ unterschieden, wobei immerhin schon eine weitere Differenzierung zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund vorgenommen werde. Doch wie Vertovec und Römhild herausgefunden haben, treffen solche statistischen Scherenschnitte nicht die Realität.

Vielmehr fanden sie in Frankfurt eine dynamische Vielfalt gesellschaftlicher Realitäten vor, die Steven Vertovec schon in London als Grundzug „einer neuen Migration“ identifiziert hatte. Wie in Frankfurt bilden auch dort die Einwanderer aus den traditionellen Ursprungsländern – in diesem Fall aus den ehemaligen Kolonien oder den Ländern des Commonwealth – längst nicht mehr die größte Gruppe der Zuwanderer. Vielmehr werde der Anteil von Neubürgern aus dem Mittleren Osten oder aus der Europäischen Union immer größer.

Als er 2007 seine London-Studie veröffentlichte, hatte Vertovec für diesen neuen Pluralismus in der Einwanderungsgesellschaft den Begriff der „Supervielfalt“ eingeführt, den es bis dato noch nicht im Soziologielexikon gab. Wobei sich seine Vorstellung vom Sinn dieser Wortschöpfung nicht allein auf die Beobachtung beschränkt, dass ein großer Teil der Gesellschaft über Migrationserfahrungen aus erster oder zweiter Hand verfügt. Supervielfalt sei Diversität auf allen sozialen Ebenen – vor allem aber auch innerhalb der einzelnen Gruppen, erläutert er die weitgefasste Bedeutung seiner Worterfindung.

Als Beispiele für diese umfassende Heterogenität nennt er unterschiedliche ethnische Zugehörigkeiten, Sprachen, religiöse Traditionen, regionale und lokale Identitäten, kulturelle Werte und Praktiken. Hinzu kämen in jeder dieser Einwanderergruppen eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Lagen und Aufenthaltstitel, die mit den Gründen zusammenhingen, aus denen die Menschen in die Stadt gekommen seien. Als europäisches Finanz- und Dienstleistungszentrum sei der ökonomische Erfolg der Metropole eng mit Mobilität und Einwanderung verknüpft, wobei die Stadt nicht nur Arbeitsplätze für hochqualifizierte Migrantinnen und Migranten in ausländischen und multinationalen Unternehmen biete, sondern auch in damit verknüpften Branchen und Dienstleistungen.

Fokus auf die Herkunft verdeckt soziale Unterschiede

Dadurch finde man eine Vielfalt von Migrationspfaden, die auch Menschen gleichen geografischen Ursprungs unterscheide. Es sei schließlich etwas anderes, ob jemand Asyl beantrage oder zum Studium nach Frankfurt komme, gibt der Forscher zu bedenken. So konnte er in der Mainmetropole alle möglichen Migrationspfade feststellen: angefangen bei einer steigenden Anzahl von Saison- und Pflegekräften, über ausländische Fach- und Führungskräfte, Bildungsmigranten mit Stipendien und Studentenvisa, bis hin zu Flüchtlingen und Asylbewerbern oder Menschen, die aus Gründen der Familienzusammenführung hierher gekommen sind.

So verschieden wie die Motive fallen auch die  Bedürfnisse der Zuwanderer aus. „Das gilt auch für die Art des Kontakts mit anderen und mit öffentlichen Einrichtungen“, sagt Vertovec. Daher finde man manchmal bei Menschen verschiedener Herkunft, aber mit gleichem Migrationskanal, mehr Gemeinsamkeiten als zwischen Menschen gleicher Nationalität, die jedoch ganz andere Absichten an die Stadt am Main führten. Der alleinige Fokus auf nationale Herkunftsgruppen verdeckt jedoch diese sozialen Unterschiede innerhalb der Gruppen, so der Forscher. „Daraus abgeleitete Aussagen etwa über ‚die Türken‘ sagen genauso wenig über die sich dahinter verbergenden sozialen Schichten, Lebensstile oder religiösen Haltungen aus wie vergleichbare Aussagen über ‚die Deutschen‘.“

Als ein weiteres Schlüsselmerkmal der Frankfurter Supervielfalt identifizierten Vertovec und seine Kollegin Römhild extreme Unterschiede im Rechtsstatus der Zuwanderer und teilweise sehr große Gegensätze der sozialen Lagen. Eine wesentliche Ursache dafür seien die Neuerungen im nationalen Zuwanderungsgesetz. Doch auch die restriktivere Ausrichtung der europäischen Außengrenzen und Zuwanderungsbestimmungen gegenüber Drittstaatsangehörigen und Flüchtlingen hätten „ein immenses Spektrum“ an höchst unterschiedlichen Rechtslagen hervorgebracht, das sich zwischen einer legalen, langfristig gesicherten Aufenthalts-berechtigung und einem rechtlich völlig ungesicherten, illegalen Aufenthalt bewege.

Selbst Experten verlieren angesichts dieser Vielzahl von Kriterien zur Bestimmung der Aufenthaltsdauer und der Hierarchie von Berechtigungen und Einschränkungen leicht den Durchblick. Vertovec weiß das aus Gesprächen mit einem auf diese Fragen spezialisierten Frankfurter Rechtsanwalt, der die Rechtslage als  „höchst unübersichtlich“ bezeichnet habe. Als weitere Faktoren mit Einfluss auf die soziale Lage vieler Migrantinnen und Migranten nennt er deren jeweiligen Bildungshintergrund, ihre berufliche Qualifikation sowie die damit verbundenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Die Kommunen müssen sich stärker engagieren

„Allerdings können vorhandene Qualifikationen aufgrund einer nach wie vor mangelnden Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen oft nicht geltend gemacht werden“, beschreibt der Forscher ein weiteres Problem vieler Zuwanderer. Das gelte besonders für Migrantinnen und Migranten mit eingeschränktem, prekärem Rechtsstatus. Deren soziale Lage werde insbesondere auch davon beeinflusst, ob sie Unterstützung von sozialen, familiären Netzwerken und zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort erfahren.

Gerade in dieser Hinsicht sieht Vertovec nicht nur in Frankfurt größeren Handlungsbedarf. Verstärktes Engagement der Kommunen für die sozial schwächsten Einwanderer sei nicht nur menschenrechtlich geboten, sondern auch essenziell für jede Form von Integration. Denn jede Kategorie, besonders auch die eines illegalen oder ungeregelten Rechtsstatus, hat einen tief greifenden Einfluss darauf, wie Einwanderer ins Land kommen, sich niederlassen, erwerbstätig werden, Wohnungen finden oder Zugang zu Schulen, sozialen Diensten, zum Gesundheitswesen oder anderen öffentlichen Dienstleistungen erhalten; ob sie an ihren Herkunftsort gebunden bleiben oder nicht und wie sie sich sozial und kulturell auf andere Migranten und auf Deutsche einstellen.

Interessant nicht nur für die Frankfurter dürften auch die Erkenntnisse sein, welche die Forscher bei ihrer Analyse von Daten aus dem Melderegister gewonnen haben. Es ging ihnen um die geografische Verteilung der Supervielfalt im gesamten Stadtraum. „Unsere Ergebnisse zeigen deutlich, dass sie nicht konzentriert auftritt, sondern in der Stadt weit verbreitet ist“, sagt Steven Vertovec. Diese Befunde widersprechen nach Ansicht der Forscher ganz klar den verbreiteten Befürchtungen von städtischen „Ghettos“ und „Parallelgesellschaften“.

Gegen verfestigte ethnische Strukturen spricht zudem die statistisch erfasste Tatsache, dass in Stadtteilen mit einem traditionell sehr hohen Ausländeranteil dieser im Zeitraum von 1998 bis 2006 am stärksten abgenommen hat. Nach den Beobachtungen der Sozialanthropologen verzeichnen die daran angrenzenden nördlichen Stadteile den größten Zuwachs.

Auch bei solchen Untersuchungen lohne sich ein differenzierter Blick auf die Daten. „Denn je nachdem, ob zwischen Ausländern und Deutschen mit Migrationshintergrund oder zwischen Menschen mit oder ohne Migrationserfahrung unterschieden wurde, zeigten sich Unterschiede im Siedlungsverhalten“, erklärt der Forscher. Während sich etwa echte Migranten bevorzugt entlang des nördlichen Mainufers mit den Schwerpunkten Bahnhofsviertel und Gallus ansiedelten, ziehen Deutsche mit Migrationshintergrund offenbar vor allem Stadtteile wie Griesheim und die nordwestlichen Bezirke sowie die bevölkerungsreichen Stadtbezirke des nördlichen Stadtgebiets vor.

Angesichts solcher Unterschiede werde deutlich, dass ein Integrationskonzept, das lediglich auf das Merkmal „ausländische Staatsbürgerschaft“ abzielt, zu kurz greift. Näher an der gesellschaftlichen Realität und damit wirksamer seien Integrationsmaßnahmen, die den Unterschied zwischen Migrationshinweis und Migrationserfahrung und die spezifische Bevölkerungsverteilung beachten.

Viele Menschen ziehen zu – und genauso viele weg

Der Blick in die Statistik verriet Vertovec noch eine weitere rekordverdächtige Eigenschaft der Mainmetropole: „Zirka 300000 Menschen – etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung – kommen täglich in die Stadt und verlassen sie wieder. Damit hat Frankfurt die höchste Pendlerbilanz in Deutschland“, sagt der Forscher. Nicht minder rekordverdächtig erscheint auch die ausgeprägte Lust am Umzug. Den Melderegisterdaten zufolge sind in einem Zeitraum von etwa 15 Jahren genauso viele Menschen, wie die Stadt im Durchschnitt Einwohner hat, nach Frankfurt hin- und von dort wieder weggezogen. Ein besonders hohes Maß an Fluktuation unter den Bewohnern führe nicht zwangsläufig zu sozialer Instabilität, meint Vertovec. Im Gegenteil sieht er darin durchaus Vorteile für die Stadt. „Denn neue Konsumenten und neue Berufstätige kurbeln tendenziell die lokale Wirtschaft an.“

Chancen statt Risiken sieht Vertovec  auch in der transnationalen Orientierung, wie sie in Frankfurt und anderen Weltstädten zunehmend festzustellen sei. Billige Auslandstarife der Telefongesellschaften, erschwingliche Reisekosten und das Internet hätten in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Migrantinnen und Migranten mehr denn je einen starken Bezug zu Orten und Menschen im Ausland pflegen und aufrechterhalten können. Es sei eine gängige Befürchtung, dass solche transnationalen Orientierungen dieser Menschen mit einem mangelnden Zugehörigkeitsgefühl und mit mangelnder Loyalität zu der Gesellschaft, in die sie eingewandert sind, einhergehen.

Gerade diese Befürchtung sei oft einer der Gründe für verstärkte Integrationsmaßnahmen, die Migranten kulturell und sozial „eindeutiger“ auf ihre neue nationale Heimat festlegen sollen. „Tatsächlich ist jedoch in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung längst belegt, dass das Leben in spätmodernen Gesellschaften generell – und keineswegs nur bei Migranten – multiple Orientierungen und Mehrfachidentitäten in zunehmend transnationalen Dimensionen mit sich bringt“, sagt Vertovec. Wie er aus vielen Interviews weiß, fühlen sich diese Menschen durchaus mit ihren Herkunftsländern und Gemeinschaften verbunden und profitieren dabei von den neuen, kostengünstigen Kommunikationsmöglichkeiten. Vertovec: „Heute haben sie die Möglichkeit, solche Gefühle zu pflegen und zu intensivieren und sich gleichzeitig ein neues Leben, eine Lebensgrundlage, soziale Bindungen und politisches Engagement an ihrem neuen Wohnort aufzubauen.“

Vernetzung der Vielfalt erscheint aus Sicht der Wissenschaftler die zeitgemäßere Alternative zum Multikulti der Pionierjahre für die künftige Arbeit der Frankfurter Integrationsmanager. Praktisch geht es in den vielen Vorschlägen, die sie als Anknüpfungsmöglichkeiten präsentieren, im Wesentlichen darum, Menschen miteinander in Dialog zu bringen und über gemeinsame Interessen Schranken abzubauen. Da das AmkA auf eine „beachtliche Fachkompetenz“ und viele bestehenden Kontakte zu verschiedenen Gruppen zurückgreifen könne, sei es in der „einzigartigen Position“, als öffentliche Einrichtung eine führende Rolle in der Entwicklung von Kontakten und Netzwerken zu übernehmen, so die Forscher zur neuen Aufgabe der Frankfurter Integrationsmanager.

So könne das AmkA übergreifende Themen finden und zur Diskussion stellen, die alle Milieus betreffen und ihr Engagement herausfordern, oder Initiativen von lokalem, allgemeinem Interesse entwickeln – etwa ein Gemeinde- oder Jugendzentrum zu gründen und zu betreiben, Straßenfeste zu organisieren, etwas mit Kindern zu unternehmen, örtliche Flohmärkte zu veranstalten, sich gemeinsam Wissen oder spezielle Fähigkeiten anzueignen.

Gartenfreunde gestalten kleine Paradiese

Auch die Förderung von sozialen Verbindungen auf Nachbarschaftsebene steht auf der langen Liste von Vorschlägen, die von Amts wegen umgesetzt werden könnten. Dabei könne das AmkA aus einem Erfahrungsschatz schöpfen, der viele funktionierende Projekte aus 20 Jahren Integrationsarbeit beinhalte. Als gelungenes Beispiel nennen die Forscher die Frankfurter Initiative der „Interkulturellen Gärten“, bei der Gartenfreunde unterschiedlichster Provenienz zusammen bunte Gemüse- und Blumenparadiese gestalten.

Dabei genüge es häufig seitens der Stadt, geeignete Räume anzubieten. „Oft mangelt es nicht an Ideen für gemeinsame Aktivitäten, wohl aber an Ressourcen und Raum, in dem diese Ideen verwirklicht werden können“, sagt Vertovec. Deshalb sollten öffentliche Einrichtungen ihre Möglichkeiten nutzen, positive dauerhafte Kontakte und Interaktionen zu fördern. Kontakte und Interaktionen dieser Art sollten sich in nachhaltigere soziale Netzwerke entwickeln, die ethnische und religiöse Grenzen sowie gesetzliche Einschränkungen überwinden und Flüchtlinge, Asylsuchende und Menschen mit eingeschränktem oder ungeregeltem Rechtsstatus gleichermaßen mit einbeziehen.

Letztlich gehe es darum, Menschen miteinander in Dialog zu bringen und über gemeinsame Interessen Schranken abzubauen. „Die von uns angeregte Diskussion um die Lebenssituation, die Veränderungen und das Zusammenleben in den Stadtteilen ist von dem Anliegen motiviert, den Stadtteilbezug von Integrationspolitik zu verstärken“, erklären  Vertovec und seine Kollegin Römhild. Was das genau für einen Stadtteil oder eine Nachbarschaft bedeute, könne jeweils nur für diesen konkreten Ort und im Gespräch mit den Beteiligten dort erarbeitet werden.

Auch sei für alle diese Strategien und die potenziell daraus resultierenden Maßnahmen und Programme eine gemeinsame Sprache notwendig. „Von daher kann die Vernetzungspolitik mit der Förderung des Erwerbs der deutschen Sprache Hand in Hand gehen“, sagt Steven Vertovec. Allerdings will er dabei die Latte gar nicht so hoch gelegt wissen. Es gehe nicht um eine generelle Sprachkompetenz, sondern um das Lernen von sprachlichen Fertigkeiten für die Interaktion in verschiedenen Bereichen des Alltags, etwa am Arbeitsplatz, im Gespräch unter Eltern in der Schule oder in öffentlichen Einrichtungen.

Bei seinen Feldforschungen zur gesellschaftlichen Vielfalt hat Vertovec auf einem Flohmarkt zufällig eine Szene beobachtet, die er in diesem Zusammenhang gern beschreibt, weil sie ein passendes Bild dazu entwirft: „Zwei Männer, von denen keiner so richtig Deutsch konnte, haben sich über das Werkzeug unterhalten, das der eine verkaufte und der andere haben wollte. Sie haben die Vorzüge und den Preis diskutiert, Witze gerissen und sich glänzend in einer Sprache unterhalten, die hörbar nicht ihre Muttersprache war und die sie auch nur leidlich beherrschten.“ Das sei doch ein gutes Beispiel dafür, wie gelungene Vernetzungspolitik im echten Leben aussehen könnte.

GLOSSAR

Transnationalisierung: Wissenschaftlicher Begriff, der die sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bindungen zu fassen sucht, die Migranten zu ihren Herkunftsländern aufrechterhalten.

Supervielfalt (Super Diversity): Konzept, das den Wandel der inter-nationalen Migration und der Bevölkerungsstruktur der Zuwanderungsländer seit den 1980er-Jahren beschreibt. Statt großer Migrantengruppen aus nur wenigen Ländern kommen kleinere Gruppen aus sehr vielen verschiedenen Ländern.

Global Cities: Von der Stadtsoziologin Saskia Sassen geprägter Begriff. Global Cities sind untereinander vernetze Finanz- und Dienstleistungszentren, die zentrale Steuerungsfunktionen in der globalen Wirtschaft ausüben.

Birgit Fenzel

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