Mustermacher der Natur

Vor mehr als 50 Jahren entwickelte der Brite Alan Turing ein Modell für die biologische Musterbildung, wie sie etwa Zebras und Leoparden zu ihrer charakteristischen Fellfärbung verhilft

26. August 2014
Die Wellenmuster auf sandigem Meeresgrund sehen aus wie modelliert. Doch wenn Sandrippel entstehen, ist nur Physik am Werk. Und nach ihren Prinzipien entstehen auch Dünen in der Wüste.

Text: Christina Beck

Die anfangs ebene Sandoberfläche ist physikalisch instabil, unter freiem Himmel ebenso wie unter Wasser. Das bedeutet, dass sich kleine Unregelmäßigkeiten unter bestimmten Bedingungen verstärken. So lagert sich im Windschatten hinter einem Stein oder einer Muschel Sand ab. Die Düne oder der Rippel beginnt zu wachsen und damit gleichzeitig der Windschatten. In der Folge wird noch mehr Sand abgelagert. Doch der Sand kann, sobald er gebunden ist, nicht mehr an anderer Stelle zur Dünen- oder Rippelbildung beitragen. Die gegenläufige Reaktion besteht in der Abnahme der Sandpartikel, die vom Wind oder den Wellen davongetragen werden können. Mit dieser Abnahme sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass in der Umgebung neue Dünen entstehen oder bereits existierende Sandrippel am Meeresboden weiter wachsen. Die Bildung eines Musters beruht also auf einer lokalen, sich selbst verstärkenden Reaktion. An diese ist eine gegenläufige Reaktion gekoppelt, die die Ausbreitung der sich selbst verstärkenden Reaktion begrenzt.

Jedes Muster der Natur stellt ein Rätsel dar. Die Mathematik ist hervorragend geeignet, uns beim Lösen dieser Rätsel zu helfen. Sie hilft auf mehr oder weniger systematische Art und Weise, die Regeln und Strukturen, die hinter den beobachteten Mustern verborgen liegen, ans Licht zu bringen. Dann können diese Regeln und Strukturen herangezogen werden, um zu erklären, was vor sich geht. Die Mathematik hilft Wissenschaftlern Naturvorgänge zu berechnen.

Rippel-ähnliche Muster, wie sie uns bei einem Strandspaziergang begegnen, kommen in der Natur häufig vor: Auch das Fell eines Zebras besitzt solche charakteristischen Linienmuster. Doch welcher Musterbildungsprozess mag einer solchen Fellzeichnung zugrunde liegen?

Vom Dschungelbuch...

In seinem amüsanten Essay „How the leopard got its spots“, versuchte sich der Dschungelbuch-Autor Rudyard Kipling an einer Erklärung. Danach standen Zebra und Giraffe lange genug im Halbschatten unter den Bäumen: „ ... und nach langer Zeit, weil sie halb im Schatten und halb in der Sonne standen, und wegen der flimmernd-flackernden Schatten der Bäume, die auf sie fielen, wurde die Giraffe fleckig, und das Zebra streifig.”

Dem Leoparden verhalf dagegen ein Mensch mit seinen Fingerabdrücken zu den Flecken: „ ...dann presste der Äthiopier seine fünf Finger fest zusammen (es war noch viel Schwarz auf seiner neuen Haut übrig) und drückte sie überall auf den Leoparden, und überall, wo seine fünf Finger hinkamen, machten sie fünf kleine schwarze Abdrücke, alle ganz eng zusammen. Du kannst sie auf jedem beliebigen Leopardenfell sehen [...] wenn du dir jetzt irgendeinen Leoparden genau anschaust, wirst du sehen, das es immer fünf Flecken sind – von fünf fetten schwarzen Fingerspitzen.“

...zu Alan Turing

Dieser nicht ganz ernst gemeinte Versuch, den Ursprung der Muster zu deuten, zeigt jedoch auch, dass wir bei Musterbildungsprozessen nicht unbedingt intuitiv zu einer Erklärung gelangen. 1952 entwarf der Brite Alan Turing in seinem Beitrag „The Chemical Basis of Morphogenesis“ ein mathematisches Modell, um zu erklären, wie der Leopard zu seinen Flecken beziehungsweise das Zebra zu seinen Streifen kommt.

Turing war ein begnadeter Mathematiker. Bereits 1936 hatte er das theoretische Konzept einer Maschine entwickelt, die in der Lage ist, „jedes vorstellbare mathematische Problem zu lösen, sofern dieses auch durch einen Algorithmus gelöst werden kann – und nahm damit quasi den Computer vorweg. Den Informatikern gilt er seither als Gründervater ihrer Disziplin.

Bekannt wurde er jedoch vor allem, weil es ihm gelang, die Enigma zu knacken, jene Maschine, die das deutsche Militär im Zweiten Weltkrieg zur Verschlüsselung seiner Nachrichten nutzte. Seine Überlegungen zur Musterbildung in biologischen Systemen haben wesentlich zum Verständnis der Vorgänge vor allem in der Entwicklungsbiologie beigetragen.

Spieler und Gegenspieler

In seinem Modell betrachtet Turing zwei Substanzen, die miteinander reagieren. Ein über kurze Entfernungen wirkender Stoff, der Aktivator, fördert seine eigene Produktion – was Chemiker als Autokatalyse bezeichnen – sowie die seines sich rasch ausbreitenden Gegenspielers, des Inhibitors. Die Konzentrationen beider Stoffe können sich in einem Gleichgewichtszustand befinden.

Dieser Zustand ist jedoch lokal instabil. Jede lokale Zunahme des Aktivators wird sich aufgrund der Autokatalyse weiter verstärken, allerdings nimmt damit auch die Menge an Inhibitor zu. Da sich der Inhibitor schneller ausbreitet und somit rasch von der Quelle des Aktivators entfernt, kann er den weiteren lokalen Anstieg des Aktivators nicht aufhalten, bremst aber dessen Autokatalyse in der Umgebung: Es bildet sich ein Hof um die Stellen, an denen der Aktivator gebildet wird. Auf diese Weise entsteht zum Beispiel ein Punktemuster.

Verändert man die verschiedenen Parameter wie Produktionsrate, Abbaurate oder Diffusionsgeschwindigkeit, so kann leicht die eine oder andere Substanz in verschiedenen Bereichen der Oberfläche die Oberhand gewinnen. Auf diese Weise lassen sich fast beliebige Muster erzeugen. Die genannten Parameter gehen in eine sogenannte partielle Differenzialgleichung ein. Bei der Bildung mathematischer Modelle ist sie ein unverzichtbares Hilfsmittel.

Wir haben es Newton und Leibniz zu verdanken, die die Differenzialrechnung unabhängig voneinander in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelten, mit dem Ziel, Änderungsraten zu berechnen. Und um nichts anderes geht es bei der Musterbildung: Mithilfe partieller Differenzialgleichungen ist es möglich, die Konzentrationsänderungen beider Stoffe, also des Aktivators und des Inhibitors, über einen kurzen Zeitraum hinweg als Funktion ihrer gegenwärtigen Konzentration miteinander in Beziehung zu setzen. Addiert man die Konzentrationsänderungen zu den gegebenen Ausgangskonzentrationen hinzu, so erhält man die Konzentration zu einem etwas späteren Zeitpunkt. Durch vielfache Wiederholung eines solchen Rechenschrittes erhält man die Konzentrationen der beteiligten Substanzen im Verlauf der Zeit.

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