Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Kernphysik

Hochgeladene Ionen bei 100 Millionen Grad im Kühlschrank

Autoren
Crespo López-Urrutia, José Ramón; Ullrich, Joachim
Abteilungen

Quantendynamik (Prof. Dr. Christoph Keitel)
MPI für Kernphysik, Heidelberg

Zusammenfassung
Eine neue Tieftemperatur-Ionenfalle am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg erlaubt es, hochgeladene Ionen zu produzieren und zu speichern. Diese Ionen sind für extrem heiße Plasmen, wie sie in Sternatmosphären und Fusionsreaktoren vorkommen, typisch. Die Ionenfalle wird vorwiegend für spektroskopische Untersuchungen zum Test der Atomstrukturtheorie eingesetzt.

Begünstigt durch rasante Fortschritte in der Optik erreichte die Spektroskopie von Atomen bereits sehr früh eine hohe Präzision. Wellenlängen konnten schon zu Zeiten, als die meisten anderen physikalischen Messmethoden höchstens auf wenige Prozent genau arbeiteten, auf sechs Dezimalstellen bestimmt werden. Unbekannte chemische Elemente wurden durch ihre spektralen Merkmale identifiziert. Das Spektrum des Wasserstoffatoms gab erste Hinweise auf die Quantenstruktur der Materie und leitete die Entwicklung der Atomtheorie vom Bohr'schen Atommodell über die Dirac'sche Formulierung bis hin zur modernen Quantenelektrodynamik ein. Der Spin des Protons sowie Kerngrößeneffekte wurden durch die Beobachtung der Hyperfeinstruktur entdeckt und die Doppler-Verschiebung der spektralen Linien liefert den Astrophysikern den Abstand zu fernen Galaxien. Manche Experimente erreichen inzwischen eine Genauigkeit von über sechzehn Dezimalstellen!
Bereits im neunzehnten Jahrhundert wurden in der Sonnenkorona starke Linien beobachtet, die sich nicht durch bekannte Elemente des periodischen Systems erklären ließen. Erst im zwanzigsten Jahrhundert wurde klar, dass ihre Quellen hochgeladene Ionen (highly charged ions, HCI) waren. Bei Temperaturen von vielen Millionen Grad werden den Atomen ihre äußeren Elektronen entrissen, und HCI mit nur wenigen oder gar keinen Elektronen in ihrer Hülle werden zur typischen Erscheinungsform der Elemente. So liegt der weitaus größte Teil der baryonischen Materie des Universums, in Sternen, in aktiven galaktischen Kernen, in Supernova-Resten oder den Akkretionsscheiben von Schwarzen Löchern, in Form von Ionen unterschiedlicher Ladungszustände vor.
Aus diesen, wie auch insbesondere aus fundamentalen wissenschaftlichen Gründen ist es somit von großer Bedeutung, Ionen in praktisch allen Ladungszuständen, also Materie bei Temperaturen von wenigen hundert bis hin zu Milliarden Kelvin im Labor so zur Verfügung zu haben, dass sie spektroskopischen Messungen mit hoher Präzision zugänglich werden. Wegen der zur Produktion von höchstgeladenen Ionen notwendigen, enormen Konzentration von Energie auf die einzelnen Atome gelang dies allerdings erst in allerjüngster Zeit, sodass die Ionen- im Vergleich zur Atomspektroskopie noch in ihren Anfängen begriffen ist.
Nach der erfolgreichen Erzeugung von „nacktem“ Uran mit dem BEVALAC-Beschleuniger in Berkeley berichtete J. P. Briand [1] im Jahr 1990 über die erste Beobachtung des elektronischen Übergangs von der n=2- in die n=1-Schale im wasserstoffähnlichen Uran an der gleichen Anlage. Kurz danach war auch an der GSI (Gesellschaft für Schwerionenforschung) in Darmstadt die Produktion solcher Ionen gelungen, welche zunächst in großen Beschleunigeranlagen erzeugt und dann in einem Ring mit 200 m Umfang gespeichert wurden. Nahezu gleichzeitig gelangen die Erzeugung von U92+-Ionen [2] sowie erste hochpräzise Messungen zur Feinstruktur wasserstoffähnlicher schwerer Ionen mittels einer wesentlich weniger aufwändigen Methode, in einer so genannten Electron Beam Ion Trap (EBIT) am Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL) in den USA. Ursprünglich von Donets [3] in Dubna (in der damaligen UDSSR) entwickelt, hat diese elegante Technologie, die auf der sequentiellen Ionisation von gefangenen Ionen mittels eines intensiven Elektronenstrahls beruht (Abb. 1), internationale Verbreitung gefunden: Neue EBITs entstanden, weitgehend eins-zu-eins Kopien der LLNL-Maschine, in Gaithersburg, Oxford, Tokio, sowie nicht zuletzt auch am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Berlin. Maschinen der dritten Generation wurden und werden in Dresden, Stockholm, Shanghai und Belfast aufgebaut.

Die auf einem radikal überarbeiteten und weiterentwickelten technischen Konzept beruhende jetzige Heidelberger EBIT (HD-EBIT) nahm 1999 zunächst ihren Betrieb an der Universität Freiburg [4] auf und übersiedelte dann, im Jahr 2001, zum Max-Planck-Institut für Kernphysik [5]. Sie gehört, zusammen mit der SuperEBIT (LLNL) und der Tokio-EBIT zu denjenigen Maschinen, bei denen Elektronenstrahlen mit Energien von über 100 keV zur Ionisierung der K-Schale schwerer Elemente zur Verfügung stehen und die es somit erlaubt, weltweit mit die höchsten Ladungszustände zu erzeugen.
Wie bereits erwähnt und in Abbildung 1 illustriert, beruht das Prinzip einer EBIT auf der sequentiellen Ionisation von gefangenen Ionen mittels eines intensiven Elektronenstrahls von einigen hundert mA. Die gegenseitige Abstoßung der Elektronen im Strahl wird dabei durch das starke, parallel zum Elektronenstrahl verlaufende magnetische Feld (HD-EBIT: 9 T) eines supraleitenden Magneten kompensiert, welches den Strahl auf einen Durchmesser von nur 50 μm komprimiert. Die dabei erreichte Stromdichte von bis zu 10000 A/cm2 entspricht einem Fluss von nahezu 1023 Elektronen pro Sekunde und cm2. Der Strahl erzeugt gleichzeitig aufgrund der hohen Konzentration negativer Ladung ein starkes negatives Raumladungspotential von bis zu einigen hundert Volt. Neutrale Atome werden zunächst beim Durchqueren des Elektronenstrahls durch Stöße ionisiert und dann unmittelbar und höchst effizient durch das Raumladungspotenzial des Strahls radial zu seiner Ausbreitungsrichtung eingefangen (rechts in Abb. 1 angedeutet). Es entsteht eine „Wolke“ von Ionen mit einem Durchmesser von wenigen zehntel mm, deren Ausdehnung entlang der Fallenachse, durch ringförmige Elektroden auf positivem Potenzial, auf eine Länge von wenigen cm begrenzt ist (unten in Abb. 1 skizziert). Sukzessive werden die gefangenen Ionen durch Elektronenbeschuss nun immer höher geladen. Gleichzeitig darf der jeweils erreichte Ladungszustand nicht durch so genannte Rekombinationsprozesse, also durch Einfang von Elektronen von Restgasatomen, vermindert werden, was extrem gute Vakuumbedingungen voraussetzt. Bei einer Temperatur der Innenwände der Vakuumkammer von nur 4 K frieren alle Restgase nahezu vollständig aus und es werden Drucke im extremen Ultrahochvakuumbereich von 10-13 mbar erzielt. In diesem „Kühlschrank“ können selbst Ionen, deren Ladungszustand Temperaturen von mehreren hundert Millionen Kelvin entspricht, hocheffizient „konserviert“ werden.

Die HD-EBIT beruht auf einem technisch und konstruktiv vollständig neuen Entwurf mit horizontalem Strahlverlauf (Abb. 2). Darüber hinaus erreicht sie bezüglich einiger Parameter wesentlich höhere Spezifikationen als andere Maschinen. So konnte z. B. der Verbrauch an Flüssighelium gegenüber Maschinen der zweiten und selbst modernsten Maschinen der dritten Generation zwanzigfach reduziert werden, der bisher maximal erreichte Elektronenstrom wurde verdoppelt, und ein ebenfalls etwa doppelt so großes Magnetfeld sorgt für eine stärkere Kompression des Strahls. Der horizontale Aufbau (siehe auch Fotographie, Abb. 3) bietet unmittelbare Vorteile für die Extraktion von HCI aus der Falle, praktische Erleichterungen bei der Montage und es werden große Raumwinkel für den Strahlungsnachweis erreicht. Zurzeit befinden sich in Heidelberg zwei weitere EBITs in der abschließenden Aufbauphase, bei denen die Vorteile dieses Konzeptes konsequent ausgenutzt wurden, sodass höchst leistungsfähige, kompakte, kosteneffiziente und transportable Maschinen, die bei einer Temperatur von 4K ohne Flüssighelium arbeiten, zur Verfügung stehen.

Ein Röntgenspektrum von hochgeladenen Quecksilber-Ionen (Hg), aufgenommen bei einer Strahlenergie von 72 keV, ist in Abbildung 4 dargestellt. Bei etwa 70 keV sieht man Linien der charakteristischen, so genannten Kα1- und Kα2-Strahlung von Hg. Ein breites Kontinuum erstreckt sich von der niedrigsten bis hin zur maximalen Strahlenergie, mit zu höheren Energien hin abnehmender Intensität. Diese Photonen entstehen durch partielle Abbremsung der Strahlelektronen im Coulombfeld der Ionen (Bremsstrahlung). Am oberen Ende dieses Bremsstrahlungs-Kontinuums reihen sich eine Serie von „RR“-Linien an. Sie resultieren, wie in Abbildung 4 illustriert, aus „Radiativer Rekombination“, dem zeitumgekehrten Photoeffekt, bei dem ein freies Elektron aus dem Strahl in eine offene „n“-Hauptquantenschale des hochgeladenen Ions unter Aussendung eines Photons eingefangen wird. Die genauen Positionen der Linien und ihre jeweiligen Intensitäten zeigen den Ionisationszustand eindeutig an, da nur leere Schalen Elektronen aufnehmen können. Daher wird man für Ionen, die z. B. den Ne-artigen Zustand (also Ionen mit weniger als zehn Elektronen) überschritten haben, Linien für n≥2 nachweisen können. Deutlich sieht man für den Einfang in die n=2-Schale zwei Linien, die durch Rekombination in die für hochgeladene Ionen im keV-Bereich aufgespalteten Feinstrukturniveaus für j=1/2 und j=3/2 entstehen.

An der HD-EBIT lassen sich zurzeit eine Vielzahl von Ionen produzieren, wie z. B. He-artige Systeme bis hin zu Hg78+ [6], oder „nacktes“ Ba56+, Kr36+, Ar18+, sowie selbstverständlich alle niedrigeren Ladungszustände. Diese Ionen können nicht nur bei praktisch allen Wellenlängen spektroskopiert werden, sondern sie lassen sich auch aus der Falle extrahieren und beschleunigen. Hochgeladene Ionen, beschleunigt auf Energien von bis zu hundert keV, simulieren Teilchen im Sonnenwind, und ihre Wechselwirkung mit Kometen oder der oberen Erdatmosphäre kann so im Labor gezielt in kinematisch vollständigen Experimenten erforscht werden (siehe Abb. 5). Treffen die Ionen auf Oberflächen, so entstehen Gebilde mit Durchmessern von wenigen Nanometern, sodass sie sowohl zur Strukturierung als auch für die Analyse von Oberflächen Verwendung finden.

Die Forschung an der HD-EBIT konzentriert sich jedoch ganz wesentlich auf fundamentale Fragestellungen. Erste Messungen, die bereits in einigen Bereichen zu Ergebnissen unübertroffener Genauigkeit geführt haben, erlauben die kritische Überprüfung neuester theoretischer Näherungsmethoden zur elektronischen Struktur an der Grenze ihrer Vorhersagegenauigkeit in einem Bereich, wo zum einen immer noch ein großer Mangel an zuverlässigen Daten herrscht und wo zum anderen grundlegende Effekte, die in hochgeladenen Ionen z. T. extrem verstärkt auftreten, exemplarisch untersucht werden können. Verbunden mit der Tatsache, dass man Systeme mit wenigen oder nur einem Elektron untersuchen kann, sodass also das notorisch schwierig zu behandelnde Vielelektronenproblem nur in abgemilderter Form oder gar überhaupt nicht auftritt, schaffen HCI damit einmalige Bedingungen.
Ein prägnantes Beispiel für das Anwachsen gewisser Effekte ist das Auftreten starker „verbotener“ Spektrallinien, die zum Teil mit der zehnten Potenz der Kernladung, also mit Z10, intensiver werden. Wenn H-artiges Uran, d. h. U91+, mit Wasserstoff verglichen wird, verhalten sich die entsprechenden Intensitäten der verbotenen Linien wie der Durchmesser der Sonne zu demjenigen des H-Atoms! Aufgrund der extremen elektrischen und magnetischen Felder von bis zu 1019 V/cm und 108 Tesla in Kernnähe, gewinnen insbesondere auch quantenelektrodynamische (QED) Effekte, die mit der vierten Potenz der Kernladung skalieren, erheblich an Bedeutung. Diese werden üblicherweise in Form einer Störungsreihe in Z∙α (α=1/137, Feinstrukturkonstante) berechnet, ein Verfahren, das bei hoher Kernladungszahl Z und damit bei Z∙α~1 nicht mehr anwendbar ist. Weiterhin werden wegen der hohen Geschwindigkeiten der tief gebundenen Elektronen relativistische Korrekturen wichtig und die Kernnähe des Elektrons bedeutet, dass insbesondere bei Hyperfeinübergängen die Kernstruktur, die Verteilung des magnetischen Moments und die Kernausdehnung eine wesentliche Rolle spielen. Bei mittlerer Kernladungszahl und wenigen, noch gebundenen Elektronen müssen relativistische Beiträge, Korrelations- und QED-Korrekturen gleichzeitig auf hohem Niveau berechnet werden, was höchste Anforderungen an die Vorhersagekraft theoretischer Modelle stellt und z. T. dazu zwingt, vollkommen neue Wege zu beschreiten.

Somit dringen wir mit der Heidelberger EBIT in ein großes, experimentell noch wenig erschlossenes Gebiet vor. Gleichzeitig steht zu erwarten, dass mit der Entwicklung des freien Elektronenlasers (FEL) am DESY in Hamburg, wo erstmals „Laserlicht“ im Röntgenbereich, also passend zu den Übergängen in HCI, zur Verfügung stehen wird, sich eine neue Ära der Spektroskopie hochgeladener Ionen eröffnet. So sollten in Zukunft nahezu alle Spektrallinien mit zehn- bis tausendfach gesteigerter Präzision vermessen werden können, mit heute noch unvorhersehbaren Konsequenzen für die Entwicklung der Theorie. Im Rahmen der Max-Planck-Initiative DESY FEL (MIDFEL) haben wir speziell zum Betrieb am FEL eine neue EBIT aufgebaut (Abb. 6), die Ende des Jahres in Hamburg ihren Betrieb aufnehmen wird und erste Daten liefern soll.

Originalveröffentlichungen

J. P. Briand, P. Chevallier, P. Indelicato, K. P. Ziock, D. D. Dietrich:
Observation and Measurement of n=2 → n=1 Transitions of Hydrogenlike and Heliumlike Uranium
Physical Review Letters 65, 2761 (1990).
R. E. Marrs, S. R. Elliott, D. A. Knapp:
Production and Trapping of Hydrogenlike and Bare Uranium Ions in an Electron Beam Ion Trap
Physical Review Letters 72, 4082 (1994).
E. D. Donets, V. P. Ovsyannikov:
Investigation of ionization of positive ions by electron impact
Soviet Physics-JETP 53, 466 (1981).
J. R. Crespo López-Urrutia, A. Dorn, R. Moshammer, J. Ullrich:
The Freiburg Electron Beam Ion Trap/Source Project FreEBIT
Physica Scripta T80, 502 (1999).
Homepage der Heidelberger EBIT:
http://www.mpi-hd.mpg.de/ullrich/EBIT/
A. J. González Martínez, J. R. Crespo López-Urrutia, J. Braun, G. Brenner, H. Bruhns, A. Lapierre, V. Mironov, R. Soria Orts, H. Tawara, M. Trinczek, J. Ullrich, J. H. Scofield:
State-Selective Quantum Interference Observed in the Recombination of Highly Charged Hg75+...78+ Mercury Ions in an Electron Beam Ion Trap
Physical Review Letters 94, 203201 (2005).
J. Ullrich, R. Moshammer, A. Dorn, R. Dörner, L. Ph. H. Schmidt, H. Schmidt-Böcking:
Recoil-ion and electron momentum spectroscopy: reaction-microscopes
Reports on Progress in Physics 66, 1463 (2003).
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