Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Deutsche Biotech-Unternehmen und ihre Innovationsfähigkeit im internationalen Vergleich

Autoren
Lange, Knut
Abteilungen
Zusammenfassung
Bislang galt in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion, dass die deutsche im Vergleich zur britischen Biotech-Industrie deutlich weniger wettbewerbsfähig sei. Auch sei die deutsche Biotech-Industrie vor allem mit staatlichen Geldern finanziert. Gegen diese Annahmen spricht das zentrale Ergebnis eines Forschungsprojekts am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung: Zwischen der deutschen und der britischen Biotech-Industrie ist kein klarer Unterschied in der Wettbewerbsfähigkeit zu erkennen. Außerdem sind die deutschen Biotech-Unternehmen im Wesentlichen über privates Risikokapital finanziert, wobei ausländische Finanzinvestoren von besonderer Bedeutung sind. Der staatlichen Förderung kommt lediglich eine ergänzende Funktion zu.

Mitte der 1990er-Jahre verkündete das Bundesforschungsministerium (BMBF) das Ziel, mittelfristig Großbritannien als die führende europäische Biotech-Nation abzulösen. In diesem Zusammenhang wurde der BioRegio-Wettbewerb ins Leben gerufen. Die Regionen, die den Wettbewerb gewannen, waren das Rheinland, München und Heidelberg sowie Jena, das mit einem Sondervotum ausgestattet wurde. Sie hatten über einen Zeitraum von fünf Jahren von 1997 an bevorzugten Zugang zu Projektfördermitteln des BMBF im Gesamtvolumen von rund 90 Millionen Euro. Der BioRegio-Wettbewerb war sehr erfolgreich. Zwar war das finanzielle Volumen relativ gering. Die wesentliche Bedeutung des Wettbewerbs lag aber darin, dass die Interaktionen zwischen unterschiedlichen Gruppen wie Industrie, Banken, Behörden, Regierungen und Universitäten in den Regionen gefördert wurden. Dadurch entstand eine große Dynamik, die dann zum Biotech-Boom und der Gründung hunderter Biotech-Unternehmen in Deutschland führte.

Im Rahmen eines Forschungsprojektes am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung wurde der deutsche Biotech-Sektor im internationalen Vergleich untersucht. Das Projekt konzentrierte sich dabei auf den wichtigsten Biotechnologie-Zweig, die „rote“ Biotechnologie, die sich mit der Herstellung von Medikamenten und Diagnostika befasst. Als Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit diente die Anzahl der Wirkstoffe, die in der deutschen beziehungsweise in der britischen Biotech-Industrie in der klinischen Entwicklung sind.

In der deutschen Wirtschaftspresse wird die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten deutschen Biotech-Branche ebenfalls über die Anzahl der in der Entwicklung befindlichen Wirkstoffe bewertet, aber sehr kontrovers diskutiert. Die „Wirtschaftswoche“ stuft die Leistungsfähigkeit der deutschen Biotech-Industrie positiv ein und sieht nach einem Einbruch in den Jahren 2001/2002 seit 2003 wieder einen deutlichen Aufwärtstrend. Der „Spiegel“ und die „Financial Times Deutschland“ bewerten die Leistungsfähigkeit deutlich negativer, sprechen von einer anhaltenden Stagnation und sehen einen sehr großen Rückstand gegenüber Großbritannien, gerade in Bezug auf die Anzahl der Wirkstoffe in der Entwicklung.

Zentrales Ergebnis des Forschungsprojektes ist, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen im Vergleich zur britischen Biotech-Industrie erheblich größer ist als allgemein vermutet wird. Im Vergleich zur deutschen Biotech-Industrie haben die Unternehmen der britischen Biotech-Industrie zwar weit mehr Wirkstoffe in der klinischen Entwicklung. Die Zahl der von deutschen Biotech-Unternehmen in der Entwicklung befindlichen Therapeutika ist aber deutlich höher und die der britischen Biotech-Unternehmen deutlich geringer als bislang angenommen. Möglicherweise wurden bei den Zahlen, die für die britische Biotech-Industrie im Umlauf sind, auch die Unternehmen berücksichtigt, die von der London Stock Exchange (LSE) dem Segment Pharma zugeordnet werden und nicht nur die, die dem Segment Biotechnologie zugeordnet werden. Bedenkt man, dass die deutsche Biotech-Branche gegenüber der britischen einen Entwicklungsrückstand von dreizehn bis fünfzehn Jahren hat und die Wirkstoff-Entwicklung ein sehr langwieriger Prozess von zehn bis zwölf Jahren ist, kann aus dem in der Abbildung 1 ersichtlichen Rückstand nicht geschlossen werden, dass die britische Biotech-Industrie wettbewerbsfähiger ist.

Investitionen

Die Risikokapital-Investitionen in die deutsche Biotech-Industrie unterlagen in den letzten zehn Jahren großen Veränderungen, sowohl was die Höhe der Investitionen als auch die Herkunft der Investoren betrifft. Von 1995 bis 2000 stiegen die Investitionen rasant an, vor allem zwischen 1999 und 2000. 2001 blieben die Investitionen auf ähnlich hohem Niveau und nahmen im folgenden Jahr drastisch ab. Seit 2003 haben sich die Investitionen in die deutsche Biotech-Industrie bei etwas über zweihundert Millionen Euro stabilisiert. Damit haben sich auch die Investitionen in die deutsche und die britische Biotech-Industrie angeglichen. Die britischen Risikokapital-Investitionen sind seit 2001 von niedrigem Niveau wieder angestiegen und haben sich in den letzten beiden Jahren bei ungefähr zweihundertundfünfzig Millionen Euro eingependelt. Damit liegen sie leicht über den Investitionen in die deutsche Biotech-Industrie, der Unterschied ist jedoch nicht groß.

Ein Wandel vollzog sich auch in der Herkunft der Investoren. Zwar waren immer schon ausländische Risikokapital-Gesellschaften in Deutschland aktiv, lange Zeit dominierten aber die deutschen Investoren. Nach dem Ende der Biotech-Euphorie zogen sich diese aber sehr stark aus dieser Branche zurück, in der die meisten der deutschen Investoren auch nie Expertise hatten. Stabilisiert wurden die Investitionen in die deutsche Biotech-Industrie durch ausländische Investoren und Anleger. Seit 2003 dominieren ausländische Investoren. Vor allem bei etwas größeren Finanzierungsrunden ab fünf Millionen Euro – und Unternehmen, die Wirkstoffe entwickeln, brauchen Finanzierungsrunden, die über dieser Summe liegen – sind sie mit 65 Prozent deutlich in der Mehrheit. Doch selbst die wenigen größeren deutschen Risikokapital-Gesellschaften legen zu einem großen Teil ausländisches Kapital an. Ohne ausländische Investoren, die häufig aus angelsächsischen Ländern kommen, ist deshalb eine erfolgreiche Biotech-Industrie nicht denkbar. Man könnte auch ab 2003 sagen: „Heuschrecken retten deutsche Biotech-Industrie.“

Börsenwert

Die Deutsche Börse und die London Stock Exchange haben eine ähnliche Aufnahmefähigkeit für Biotech-Unternehmen, gemessen am Börsenwert der notierten Biotech-Unternehmen und der in den letzten Jahren erfolgten Börsengänge. Der Börsenwert der Unternehmen an der Deutschen Börse liegt knapp unter drei Milliarden Euro, die der Unternehmen an der London Stock Exchange knapp über drei Milliarden Euro. Das einzige Unternehmen mit einem hohen auch für internationale Investoren interessanten Börsenwert an der Deutschen Börse ist Qiagen mit etwa eineinhalb Milliarden Euro. Qiagen ist offiziell ein niederländisches Unternehmen, hat den Unternehmensschwerpunkt aber in Deutschland. Seit 2001 gab es in Großbritannien deutlich mehr Börsengänge als in Deutschland. Die meisten erfolgten jedoch am Alternative Investment Market, einem Segment für kleine Unternehmen mit geringeren Zulassungskriterien. Sie brachten aber nur sehr kleine Emissionserlöse ein. Die in den beiden Ländern erzielten Emissionserlöse sind relativ ähnlich. 2004 gab es in Großbritannien einen großen Börsengang. In Deutschland gab es 2004 und 2005 jeweils einen größeren Börsengang, die zusammen ungefähr den Emissionserlös des britischen Börsengangs einbrachten. In beiden Ländern sind Börsengänge für Biotech-Unternehmen momentan schwierig, da die Börsenkurse weit unter den Höchstkursen des New Economy Booms liegen und es bislang wenige Erfolgsbeispiele von besonders erfolgreichen Biotech-Unternehmen gibt.

Staatliche Förderung

Zur Gesamthöhe der Biotechnologie-Förderung in beiden Ländern gibt es wenig zuverlässige Daten. Nach aktuellem Stand liegen die Förderungen in Deutschland bei rund sechshundert Millionen Euro und in Großbritannien bei etwa fünfhundert Millionen Euro, insofern gibt es keinen großen Unterschied.

Bei der Entstehung der Biotech-Industrie hat der deutsche Staat eine wesentlich aktivere Rolle gespielt als der britische. In Deutschland war zunächst der BioRegio-Wettbewerb sehr wichtig. Allerdings war das Finanzvolumen der BioRegio-Förderung nicht sehr groß. Durch den Wettbewerb der Regionen um Fördermittel entstand aber ein Anreiz für Regionen, Konzepte zur Förderung der Biotechnologie zu entwickeln. Deshalb wirkte der Wettbewerb als Initialzündung für die Entstehung der deutschen Biotech-Industrie. Ein zeitweise recht großes Volumen hatte die Finanzierung deutscher Biotech-Unternehmen durch die staatliche Technologiebeteiligungsgesellschaft (tbg), die stille Beteiligungen einging. Voraussetzung dafür war, dass sich an dem Unternehmen auch ein privater Investor beteiligte, der die Betreuung übernahm. Als Anreiz sicherte die tbg dem Investor zu, im Fall der Insolvenz des Unternehmens einen Teil des Kapitals dem Investor zurückzuerstatten. Dies führte dazu, dass viele Risikokapital-Gesellschaften in deutsche Biotech-Unternehmen investierten, diese jedoch meist keine Biotech-Expertise besaßen, was sich dann auch in der Betreuung der Unternehmen zeigte. Deshalb war diese Förderung durch die tbg langfristig nicht erfolgreich.

Die tbg und regionale Beteiligungsgesellschaften von Sparkassen und Landesbanken sind außerdem in der Gründungs-(Seed-)Finanzierung aktiv. Dies hat sich als für die Biotech-Industrie sehr wichtig erwiesen, da gerade in Zeiten, in denen es keine Biotech-Euphorie gibt, Risikokapital-Gesellschaften fast gar nicht in junge Technologie-Unternehmen investieren, vor allem, da ihnen dort das Risiko zu groß ist. Mit der öffentlichen Gründungs- und Frühphasen-Finanzierung können sich die jungen Technologie-Unternehmen weiterentwickeln und werden so für Risikokapital-Gesellschaften interessanter. Deshalb ist die öffentliche Seed-Finanzierung langfristig für eine florierende Biotech-Industrie wichtig.

Der britische Staat war bei der Entstehung der Biotech-Industrie zunächst eher passiv. Die Konservativen unter Thatcher förderten Biotech-Unternehmen zunächst nicht. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wurden zwei Programme – Link und Smart – aufgelegt, auf die sich auch Biotech-Unternehmen bewerben konnten. Die Förderungen, die Biotech-Unternehmen über diese Programme erhalten können, sind aber relativ bescheiden. In der zweiten Hälfte der 1990er- Jahre wurden dann einige öffentliche Seed-Fonds aufgelegt, um die Finanzierung junger Biotechnologie-Unternehmen zu verbessern. Diese Maßnahme wird von Branchenexperten als erfolgreich eingeschätzt.

Deutsche Biotech-Unternehmen können tendenziell höhere Förderzuschüsse vom Staat erhalten als britische. Allerdings macht die öffentliche Förderung immer nur einen kleinen Teil der Gesamtfinanzierung der Unternehmen aus, insbesondere bei Unternehmen, die Therapeutika entwickeln. Die Vermutung, dass deutsche Biotech-Unternehmen über öffentliche Gelder finanziert sind, trifft deshalb nicht zu. Deutsche und britische Biotech-Unternehmen können aber nicht nur über den jeweiligen Staat gefördert werden, sondern auch über die EU und die USA. Die Förderprogramme der EU sind sehr bürokratisch und werden deshalb von den Unternehmen nur wenig genutzt. In den USA können aber auch ausländische Biotech-Unternehmen zum Teil hohe Förderzuschüsse akquirieren, da dort viele Programme in erster Linie keine wirtschaftspolitischen, sondern gesundheitspolitische Ziele haben.

In beiden Ländern wird das Wissenschaftssystem in den die Biotechnologie betreffenden Disziplinen als sehr gut eingeschätzt. Es gibt genügend hoch qualifizierte Absolventen. Ein klarer Vorteil für die britische Biotech-Industrie ist aber, dass deutlich mehr erfahrene Biotech-Manager und ehemalige Manager aus der Pharma-Branche zur Verfügung stehen. Ein wesentlicher Grund dafür ist der Entwicklungsrückstand der deutschen Biotech-Industrie, der dreizehn bis fünfzehn Jahre auf die britische Biotech-Industrie beträgt. Außerdem hat in der britischen Pharma-Branche der Konsolidierungsprozess, in dem viele Pharma-Manager im Zuge von Fusionen und Akquisitionen freigesetzt wurden, schon vor zehn Jahren eingesetzt, wohingegen er in der deutschen Pharma-Branche erst begonnen hat. Ein weiterer Grund ist der langfristige Kündigungsschutz in der deutschen Pharma-Industrie, der den Anreiz für Pharma-Manager, in Biotech-Unternehmen zu wechseln, senkt. Trotzdem gibt es etliche Pharma-Manager in deutschen Biotech-Unternehmen. Ein wesentlicher Anreiz besteht darin, große Handlungsspielräume zu haben und der Bürokratie der Pharma-Konzerne zu „entfliehen“. Ansonsten ist in den letzten Jahren das Management der deutschen Biotech-Unternehmen, das in den 1990er-Jahren noch kaum betriebswirtschaftliche Kenntnisse hatte und oft direkt aus der Wissenschaft kam, deutlich erfahrener geworden. Einen entscheidenden Anteil daran hatten professionelle und international tätige Risikokapital-Manager, die die Biotech-Unternehmen betreuen.

In der öffentlichen Diskussion wird häufig das angelsächsische Kapitalismusmodell, unter das die USA und Großbritannien gefasst werden, als besonders erfolgreich in den neuen Technologie-Sektoren angesehen. Die vergleichende Analyse der US-amerikanischen und der britischen Biotech-Industrie ergab aber, dass die US-amerikanische wesentlich wettbewerbsfähiger ist als die britische, gemessen am Börsenwert der Unternehmen. Es gibt zurzeit kein einziges britisches Biotech-Unternehmen mit einem für internationale Investoren interessanten Börsenwert. Insofern kann die britische Biotech-Industrie als nicht sonderlich erfolgreich eingeschätzt werden. Die wesentlichen Ursachen dafür sind, dass sowohl die Risikokapital-Investitionen in die US-amerikanischen Biotech-Unternehmen als auch die öffentlichen Förderungen, die diese erhalten, um ein Vielfaches höher sind als bei den britischen Biotech-Unternehmen.

Wie werden Biotech-Unternehmen wettbewerbsfähig?

Die im Forschungsprojekt entwickelte These ist, dass diese beiden Faktoren – öffentliche Förderung von Biotech-Unternehmen und Risikokapital-Investitionen in diese Unternehmen – nicht unabhängig voneinander sind. Die enormen öffentlichen Förderungen, die in die US-amerikanische Biotech-Industrie fließen, führen dazu, dass viele Unternehmen entstehen, die für Risikokapital-Gesellschaften interessant sind. Außerdem ist anzunehmen, dass die großen Förderzuschüsse die Rendite für Risikokapital-Gesellschaften in diesem Sektor erhöhen und deshalb mehr Investitionen in diese Branche getätigt werden. Deshalb sollte man sich auch von der Vorstellung entfernen, dass der Erfolg der US-amerikanischen Biotech-Industrie und anderer Technologie-Industrien nur auf eine große Risikokapital-Industrie und die NASDAQ zurückzuführen ist.

Originalveröffentlichungen

Ernst & Young:
Kräfte der Evolution. Deutscher Biotechnologie-Report 2005.
Ernst & Young, Stuttgart 2005.
K. E. Adelberger:
Semi-Sovereign Leadership? The State’s Role in German Biotechnology and Venture Capital Growth.
German Politics 9(1), 103-122 (2000).
S. Casper:
Institutional Adaptiveness, Technology Policy, and the Diffusion of New Business Models: The Case of German Biotechnology.
Organization Studies 21(5), 887-914 (2000).
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