Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Proteomik und die Evolution des Menschen

Proteomics and human evolution

Autoren
Nielsen-Marsh, Christina
Abteilungen

Humanevolution (Prof. Dr. Jean-Jacques Hublin)
MPI für evolutionäre Anthropologie, Leipzig

Zusammenfassung
Die neu ausgestatteten Labore des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie werden künftig entscheidend dazu beitragen, Schlüsselfragen der Paläoanthropologie zu beantworten. Der Gruppe für archäologische Forschung in der Abteilung Humanevolution ist es in einem ersten Schritt mit Hilfe der MALDI-TOF/TOF Massenspektrometrie gelungen, das Knochenprotein Osteocalcin aus den Überresten zweier 75.000 Jahre alter Neandertaler aus Shanidar (Irak), die keine DNA mehr enthielten, zu entnehmen und zu entschlüsseln. Dieses bis dato älteste sequenzierte Protein verhilft den Forschern nun im Vergleich mit dem Osteocalcin verwandter lebender Arten (Schimpanse, Orang-Utan, Gorilla und moderner Mensch) zu neuen Erkenntnissen hinsichtlich der stammesgeschichtlichen Entwicklung und dem äußeren Erscheinungsbild der Vorfahren des Menschen. Die Daten sprechen für das hohe Potenzial der Proteine, als Informationsquelle für genetische Daten zu dienen, wenn dem fossilen Fund keine DNA entnommen werden kann. Sie eröffnen der Wissenschaft die aufregende Möglichkeit, mehr Informationen über noch ältere Hominiden zu gewinnen.
Summary
Using state-of-the-art technology, the archaeological science labs of the Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology are an essential component in helping to answer key questions in palaeoanthropology. The Archaeological Science group in the Department of Human Evolution has at its fingertips a variety of methods which can provide crucial data on chronology, palaeodiet, migration and phylogenetics. In a first step the team managed to extract and sequence a bone protein, osteocalcin, from two 75,000-year-old Neanderthal specimens from Shanidar in Iraq, which failed to yield DNA. The protein sequencing was achieved using MALDI-TOF/TOF mass spectrometry, a technique which provides exceptional limits of detection. These are the oldest known proteins to be sequenced and have provided new phylogenetic and phenotypic data on the hominid line alongside osteocalcin sequences extracted from related, extant species (chimpanzee, orangutan, gorilla and human). These data illustrate the potential for proteins to provide informative genetic data in the absence of recoverable DNA, and opens up the exciting possibility of applying these techniques to earlier hominids.

Nicht jeder fossile Fund enthält DNA

Der Erfolg, in fossilen Knochen alte DNA (aDNA) oder andere Biomoleküle aufzuspüren, hängt hauptsächlich davon ab, wie gut sie erhalten sind, was wiederum von der geochemischen und physikalischen Beschaffenheit des Fundortes abhängt. Zwei wichtige Faktoren, die das Überleben von Biomolekülen in Knochen beeinflussen, sind die Mikrobenaktivität im Boden und die Umgebungstemperatur. Zum großen Bedauern der Molekularpaläontologen diente die Mehrzahl der ausgegrabenen Knochen Mikroorganismen als Nahrungs- oder Energiequelle. Daher enthält nur eine geringe Anzahl dieser Knochen Biomoleküle, die für biochemische Analysen, wie beispielsweise die Radiocarbonmethode (Verfahren, um das Alter eines Stoffes mit Hilfe des Verfalls von Radiocarbon C14 zu bestimmen) oder PCR (Polymerase Chain Reaction = Polymerase-Kettenreaktion), verwendet werden können. Wenn durch einen glücklichen Zufall Mikroorganismen den Knochen nicht angreifen können, wirken chemische Zerfallsprozesse als Hauptmechanismen der biomolekularen Verwesung. Den zeitlichen Ablauf dieser Prozesse bestimmt die Umgebungstemperatur. Daher spielt die Temperatur des Fundortes eine wichtige Rolle bei der Auswahl fossiler Proben für biomolekulare Analysen.

Die aDNA-Forschung der letzten zehn Jahre zeigt, dass die Temperatur tatsächlich entscheidend für das Überleben von Biomolekülen ist. Die Mehrzahl authentischer DNA-Sequenzen wurde in Proben gefunden, die man dem Permafrostboden entnommen hatte [1]. Die Kälte der Umgebung übernimmt dabei die Rolle eines Kühl- oder Eisschranks und verzögert den Zerfall der zerbrechlichen Moleküle. Aber je länger das Fossil bereits begraben liegt, umso unwahrscheinlicher wird es, darin noch DNA zu finden, auch wenn die Umgebungstemperatur perfekte Voraussetzungen liefert. Obwohl man in einigen Permafrostproben von Pflanzen und Bakterien, die älter als 200.000 Jahre sind, noch DNA finden konnte, enthalten die meisten Proben, die älter als 100.000 Jahre sind, keine verwendbaren Sequenzen mehr [1]. Je heißer das Klima wird, desto weniger weit können die Forscher in die Vergangenheit blicken, oft nur wenige tausend Jahre. Grund dafür ist eine Beschleunigung der Reaktionen, die für den DNA-Abbau verantwortlich sind, durch das heiße Klima [2].

Die Ausgrabungen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Südfrankreich, Marokko und Äthiopien (Abb. 1) und die Hominidenfunde in wärmeren Gebieten generell lassen es sehr unwahrscheinlich erscheinen, aDNA unserer Vorfahren aufzuspüren. Doch gerade sie – vom Neandertaler bis zum Australopithecus – sind die Fossilien, an deren genetischem Bauplan die Forscher am meisten interessiert sind, weil sie viel über die Evolution des heutigen Menschen verraten können.

In den letzten Jahren konnte acht Neandertalern, Funden aus Europa, authentische mitochondriale DNA (mtDNA) entnommen werden. Ein Vergleich der mtDNA zeigte eine enge Verwandtschaft dieser Neandertaler untereinander. Er zeigte aber auch, dass eine Vermischung des Neandertalers mit alten menschlichen Populationen sehr unwahrscheinlich ist [3]. Erfolgsstorys wie diese sind jedoch auf Funde begrenzt, die nicht älter als etwa 50.000 Jahre sind. Bisher blieben alle Versuche, Fossilien aus wärmeren Klimata genetische Informationen zu entlocken, ohne Erfolg. Daher entwickeln Forscher der Abteilung für Humanevolution am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie neue Strategien, um Biomoleküle auch in Fossilien aufzuspüren, deren letzte Ruhestätte sich an wärmeren Orten befindet, und natürlich auch, um die genetischen Geheimnisse sehr viel älterer Fossilien zu enthüllen. Eine dieser Strategien ist es, statt DNA Proteine zu entschlüsseln, die in fossilen Knochen überlebt haben. Proteine sind Ketten, die aus Aminosäuren bestehen. Jede von ihnen ist mittels DNA verschlüsselt. Daher enthalten auch Proteine genetische Informationen, wenn auch weniger als die DNA selbst.

Proteine überleben länger als DNA

Proteine, die in Knochen enthalten sind, haben eine längere Lebensdauer als DNA. Gründe dafür sind hauptsächlich die relativ geringe Größe und robustere Struktur von Proteinen. Gegenüber dem großen und zerbrechlichen Molekül DNA sind die Proteine durch diese beiden Eigenschaften im Vorteil. Kollagen, das in Knochen am häufigsten vorhandene Protein, wird alten Knochen routinemäßig entnommen und unter anderem für die radiometrische Datierung und in der Paläodiät-Forschung verwendet. Kollagen überlebt besser als DNA in seiner geochemischen Umgebung, da seine enge Verbindung zum Knochenmineral ihm eine beachtliche Stabilität verleiht. Aber auch Kollagen überlebt in den meisten Umgebungen nicht sehr viel länger als 100.000 Jahre. Deshalb gilt das Interesse der Forscher einem anderen in Knochen enthaltenem Protein als Quelle biomolekularer Informationen, dem Osteocalcin.

Das Osteocalcin ist ein kleines Protein (in den meisten Säugetieren nur 49 Aminosäuren lang), welches einen mineralbindenden Bereich besitzt. Dieser bindet Ca2+, eine karbonisierte Form von Kalziumphosphat, an der Oberfläche der Knochen-Mineralkristalle, verleiht dem Osteocalcin dadurch eine große Stabilität und ermöglicht es ihm, über sehr lange Zeitspannen hinweg in begrabenen Knochen zu überleben. Das Osteocalcin ist im zentralen Teil des Moleküls sehr gut erhalten. Am Ende der Aminosäurekette findet man artspezifische Unterschiede. So können die Forscher auch stammesgeschichtliche Entwicklungen rekonstruieren.

Welche Botschaften enthalten die Proteine?

Wie die DNA werden auch Proteine von vielen Faktoren in ihrer Umgebung nachteilig beeinflusst. In den meisten alten Knochen überleben daher nur kleine Mengen von Proteinen, die oft in Fragmente, die Peptide, zerfallen sind. Diese Einschränkungen werden bei der Durchführung der biologischen Massenspektrometrie berücksichtigt. Die Forscher können mittels MALDI-TOF/TOF-Massenspektrometrie die Eigenschaften organischer Moleküle bestimmen und ihre genetische Struktur entschlüsseln. Die MALDI-TOF/TOF-Massenspektrometrie zeichnet sich durch eine subpikomole Empfindlichkeit (Pikomol = Billionstel eines Mols) für Proteine und Peptide aus sowie dadurch, dass die meisten chemischen Reagenzien, die zur Purifikation von Proteinen verwendet werden, keine Interferenzen verursachen. Daher wird diese Methode von Paläontologen besonders gern genutzt, um fossiles organisches Material zu analysieren.

Im Rahmen einer kürzlich veröffentlichten Studie analysierte eine Forschergruppe des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie mittels MALDI-TOF/TOF-Massenspektrometrie Osteocalcin aus den Knochen zweier etwa 75.000 Jahre alter Neandertaler aus der irakischen Shanidar-Höhle (Abb. 2) [4]. Die Funde enthielten weder Kollagen noch DNA.

Die Studie beschreibt die genetische Zusammensetzung des Knochenproteins Osteocalcin im Neandertaler sowie in nahe verwandten, lebenden Primaten (Mensch, Schimpanse, Gorilla und Orang-Utan). Die Forscher fanden heraus, dass die Neandertaler-Sequenz der des modernen Menschen entspricht. Von besonderem Interesse war ein merklicher Unterschied in den Sequenzen von Neandertalern, Menschen, Schimpansen und Orang-Utans gegenüber denen von Gorillas und den meisten anderen Säugetieren. Dieser Sequenzunterschied tritt in Position neun auf, wo die Aminosäure Prolin das Hydroxyprolin, eine nicht-essentielle Aminosäure, ersetzt (Abb. 3).

Die Hydroxylation von Prolin zu Hydroxyprolin ist eine so genannte post-translationale Modifikation. Post-translationale Modifikationen von Aminosäuren erweitern die Spanne möglicher Funktionen, die ein Protein haben kann, indem sie ihren Aufbau mit anderen chemischen Gruppen (wie Zucker, Liptid oder Phosphatgruppen) ergänzen. Diese Modifikationen treten in den Aminosäuren nach der „Übersetzung“ der DNA mittels RNA auf, finden also in der Schlussphase der Proteinsynthese statt und unterscheiden sich von der Evolution der Genabfolge. Durch diese Modifikationen ist das Proteom (Gesamtheit aller Proteine) eines Organismus im Gegensatz zum Genom (Gesamtheit aller Gene) nicht statisch, sondern variiert in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand und Umwelt über die gesamte Lebensdauer eines Individuums hinweg. So können Proteine außer begrenzten Informationen zur Stammesgeschichte auch Informationen zum Verhalten und äußeren Erscheinungsbild eines Individuums liefern.

Im Knochen muss für die Hydroxylation von Prolin unter anderem L-Ascorbin Säure (Vitamin C) vorhanden sein. Für jeden Hydroxilationsvorgang wird ein Molekül Ascorbinsäure verbraucht. Im Unterschied zu den meisten Säugetieren können Primaten Ascorbinsäure jedoch nicht selbst bilden, da sie nicht über die Möglichkeit der mikrosomalen Enzym-L-gulonolacton-Oxidase verfügen, die als Katalysator für den letzten Schritt der Biosynthese der Ascorbinsäure dient. Deshalb erkranken Primaten, die nicht ausreichend Vitamin C durch ihre Nahrung zu sich nehmen, an Skorbut. Vermutlich ist der Unterschied in Position neun der Osteocalcin-Sequenz zwischen Menschen, Neandertalern, Schimpansen und Orang-Utans auf der einen und den meisten anderen Säugetieren auf der anderen Seite eine Reaktion auf die Ernährungsgewohnheiten dieser Arten. Weil für die Bildung von Hydroxyprolin Vitamin C benötigt wird, das in der Nahrung von Pflanzenfressern wie Gorillas reichlich vorhanden ist, in der Nahrung allesfressender Primaten (Menschen, Neandertaler, Orang-Utans und Schimpansen) aber fehlen kann, könnte die Fähigkeit, Proteine auch ohne Vitamin C bilden zu können, einen Vorteil für die Primaten dargestellt haben. Die Entschlüsselung des Osteocalcin weiterer Hominiden könnte den Forschern dabei helfen herauszufinden, ob diese Anpassung an Ernährungsgewohnheiten unabhängig entstanden ist, oder ob sie von einem gemeinsamen Vorfahren weitergegeben wurde.

Dass Osteocalcin aus den Knochen der Shanidar-Neandertaler entnommen und sequenziert werden konnte, unterstreicht die Widerstandsfähigkeit dieses Proteins in einer für sein Überleben ungünstigen Umgebung. Das Osteocalcin ist zum jetzigen Zeitpunkt das älteste Protein, das jemals einem Fossil entnommen und dessen Zusammensetzung entschlüsselt worden ist. Es eröffnet den Forschern die aufregende Möglichkeit, das Osteocalcin anderer, noch älterer Fossilien, insbesondere älterer Hominiden, zu entnehmen und zu analysieren. Obwohl die Osteocalcin-Sequenzen von Neandertalern und verwandten lebenden Arten faszinierende neue Erkenntnisse zu bestimmten Anpassungen an die Ernährungsgewohnheiten der Hominiden geliefert haben, ist das Osteocalcin genetisch betrachtet ein Molekül, das sich im Laufe der Evolution nur wenig verändert hat. Deshalb konzentrieren sich die Forscher der Arbeitsgruppe Archäologie zurzeit darauf, andere Proteine zu finden, die genetisch noch informativer sind als das Osteocalcin. Ein vielversprechender Kandidat ist das Emaille-Protein. Emaille ist weniger porös und stärker mineralisiert als Knochen und hat daher eine ausgesprochen lange Lebensdauer, bietet also den Proteinen einen noch stabileren Schutz für ihr Überleben. Fossile Zähne könnten daher potentiell als Quelle genetischer Informationen dienen, die paläoproteomische Forschung weiter zurück in die Zeit blicken lassen und so auch unseren noch älteren hominiden Vorfahren ihre Geheimnisse entlocken.

Originalveröffentlichungen

E. Willerslev, A. Cooper:
Ancient DNA.
Proceedings of the Royal Society of London – B. 272, 3–16 (2005).
C. Smith, A. Chamberlain, M. Riley, A. Cooper, C. Stringer, M. Collins:
Not just old, but old and cold.
Nature 410, 771–772 (2001).
D. Serre, A. Langaney, M. Chech, M. Teschler-Nicola, M. Paunovic, P. Mennecier, M. Hofreiter, G. Possnert, S. Paabo:
No evidence of Neandertal mtDNA contribution to early modern humans.
PLoS Biology 2(3), e57(2004).
C. Marsh, M. Richards, P. Hauschka, J. Thomas-Oates, E. Trinkaus, P. Pettitt., I. Karavanic, H. Poinar, M. Collins:
Osteocalcin protein sequences of Neanderthals and modern primates.
Proceedings of the National Academic of Science USA 102, 4409–4413 (2005).
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