Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Der Föderalismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland

Autoren
Manow, Philip
Abteilungen

Politik und politische Ökonomie (Prof. Dr. Philip Manow)
MPI für Gesellschaftsforschung, Köln

Zusammenfassung
Der Föderalismus galt bis vor kurzem als ein besonders positives Strukturelement des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Nun wird er als hauptverantwortlich für die politische und wirtschaftliche Malaise Deutschlands angesehen. In einer Reihe aktueller Beiträge hat sich das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln mit seiner Funktionsweise beschäftigt. Übereinstimmendes Ergebnis der Studien ist, dass die gegenwärtige Kritik an der Blockadeanfälligkeit und der Ineffizienz der föderalen Politikverflechtung weitestgehend berechtigt ist, dass aber zugleich eine "Selbstreformierung" des föderalen Systems nicht aussichtslos ist.

Der bundesdeutsche Föderalismus steht in der Kritik. Einst galt dieses Strukturelement des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland als stabilitätsverbürgend und wohlfahrtssteigernd. Heute wird er als eine der Hauptursachen für die politischen und wirtschaftlichen Probleme Deutschlands identifiziert. Die Einsetzung der Föderalismuskommission Ende 2003 ist nur der aktuellste von vielen Belegen für die gewandelte öffentliche Einschätzung. Aber vielleicht sind sowohl das frühere Lob als auch die heutige Kritik nicht frei von Übertreibungen? Zur Klärung dieser Frage scheint ein genauerer Blick auf die vermeintlichen Vor- und Nachteile des deutschen Föderalismus notwendig. Tatsächlich herrscht hier in zentralen Fragen weiterhin Unklarheit, z.B. in der Frage, wie systematisch in Deutschland entgegenlaufende Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat produziert werden.

Entgegenlaufende Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat: Wie entstehen sie und wie beeinflussen sie die Reformpolitik?

Für die Bundesrepublik Deutschland ist bis in die 1970er-Jahre hinein ein systematischer Zusammenhang zwischen Bundestagswahlen und Landtagswahlen beobachtet worden, der mit einem Muster übereinstimmt, das man aus vielen parlamentarischen Demokratien kennt. In der amerikanischen Politik wird dieses Phänomen als "Mid-term Cycle" bezeichnet: In den Kongress- und Senatswahlen in der Mitte der Wahlperiode verliert die Partei des Präsidenten regelmäßig Stimmenanteile. Ähnliche Phänomene sind aus den britischen Nachwahlen, den Europawahlen oder eben auch aus den bundesdeutschen Landtagswahlen bekannt. In diesen "Zwischenwahlen" müssen die Regierungsparteien regelmäßig mit Stimmeneinbußen gemessen an ihrem letzten nationalen Wahlergebnis rechnen. Je näher die Wahltermine dieser Zwischenwahlen wieder an das Ende der nationalen Legislaturperiode heranreichen, desto mehr "erholen" sich die Regierungsparteien wieder (U-förmige Abweichung in den Stimmenanteilen). In Deutschland führt dies zu entgegenlaufenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Stimmenverluste der Regierungsparteien in den Landtagswahlen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass in den Ländern die Parteien regieren, die im Bund in der Opposition sind.

Ein deutscher Mid-term Cycle kann bis in die 1970er-Jahre nachgewiesen werden, nicht aber für die Landtagswahlen nach 1990. Einige Politikwissenschaftler haben daher argumentiert, dass sich die Verbindung zwischen Bundes- und Landespolitik im Zuge der deutschen Einigung stark abgeschwächt hat. Ursache seien unter anderem die starken sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland, die neue Regionalpartei PDS und die unterschiedliche politische Sozialisation in den alten und neuen Bundesländern.

In der ersten systematischen Folgeuntersuchung zu den Arbeiten über die 1970er-Jahre hat Simone Burkhart für die Zeit von 1990 bis 2002 den Zusammenhang zwischen Bundestags- und Landtagswahlen untersucht [1]. Ihre Analyse zeigt, dass zwar der rein zeitlich gemessene negative Zusammenhang zwischen Haupt- und Nebenwahlen sich für die Zeit nach 1990 nicht mehr nachweisen lässt, dass aber damit der Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlen keineswegs aufgehoben ist. Burkhart hat diesen Einfluss nicht - wie in früheren Studien üblich - über den Abstand der Wahltermine untersucht, sondern nach der Auswirkung der Popularitätswerte der Bundesregierung für die Ergebnisse der Landtagswahlen gefragt. Hier zeigt sich ein starker und seit 1990 sogar intensivierter Zusammenhang. Dieser entspricht nicht mehr der gleichmäßigen U-Form, sondern eher einem Wellenmuster, das auf schnelle und ausgeprägtere Reaktionen der Wählerschaft auf die Bundespolitik schließen lässt (Abb. 1). Nicht nur werden somit systematisch entgegenlaufende Mehrheiten produziert, aus Angst vor Stimmenverlusten in Landtagswahlen suchen Regierungsparteien auch notwendige, aber unpopuläre Reformen zu vermeiden. Die politischen Bedingungen für tief greifende Reformen haben sich Burkhart zufolge seit 1990 also eher verschlechtert.

Führt Politikverflechtung zu Reformblockaden?

Im bundesdeutschen Föderalismus werden also systematisch entgegenlaufende Mehrheiten produziert. Über die Effekte dieser Situationen ist damit aber noch nichts ausgesagt. In der Tat fällt es schwer, die bundesdeutsche Reformblockade empirisch zu identifizieren. Im Durchschnitt scheitern pro Legislaturperiode lediglich weniger als 3 Prozent aller Gesetze am Einspruch des Bundesrates. Ebenfalls variiert die Dauer des Gesetzgebungsprozesses nicht mit der Oppositionsstärke im Bundesrat. Als wirklicher Blockadefaktor hat sich die bundesdeutsche Politikverflechtung damit bislang nicht manifestiert. Geht damit der öffentliche Vorwurf einer föderalen Reformblockade fehl?

Ein Großteil der widersprüchlichen Einschätzungen zum Blockadepotenzial des deutschen Föderalismus ist auf eine unbefriedigende Datenlage zurückzuführen. Simone Burkhart und Philip Manow haben nun auf Basis der Gesetzgebungsstatistik 1.038 Zustimmungsgesetze von der 8. bis zur 14. Legislaturperiode (1976 bis 2002) maschinenlesbar gemacht und statistisch ausgewertet. Insgesamt zeigen die empirischen Ergebnisse, dass tatsächlich das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild von Blockade, Konfrontation und Gesetzesscheitern nur dann zutrifft, wenn knappe Verhältnisse im Bundesrat Regierung und Opposition dazu veranlassen, auf Mehrheiten für ihre jeweils "kompromisslosen" Positionen zu spekulieren. Sowie sich aber die Mehrheitsverhältnisse eindeutiger zugunsten der Opposition neigen, erweist sich die deutsche Politikverflechtung als ausgeprägtes Kompromisshandeln. Beherrscht die Opposition den Bundesrat, sind große Mehrheiten im Bundestag häufiger und die Dauer der Gesetzgebung kürzer. Erfolgreiche Anträge unter Beteiligung der Opposition sind häufiger (Abb. 2). Die Politikverflechtung verursacht im Regelfall nicht das komplette Scheitern oder lange Verzögerungen von Gesetzen. Wohl aber, so betonen Burkhart und Manow, schafft sie den Zwang, Gesetze so zu formulieren, dass sie die Zustimmung sowohl der Opposition als auch der Mehrzahl der Länder finden.

Ist der föderale Konsenszwang kostenträchtig?

Gegenüber einer kritischen Sicht des Zwangs zum Konsens im bundesdeutschen Föderalismus ließe sich einwenden, dass seine hohen Zustimmungshürden garantieren, dass nur Entscheidungen getroffen werden, die Wohlfahrtsverbesserungen allgemeiner Art mit sich bringen. Dies ist seit langem das zentrale Argument von liberalen Verfechtern der Einstimmigkeitsregel. Doch abgesehen davon, dass dieser "wohlfahrtssichernde" Effekt von der Attraktivität des Status quo abhängt, wird dieses Argument auch durch den politischen Alltag dementiert. Denn hohe Entscheidungskosten verleiten die verantwortlichen politischen Akteure, sich auf Kosten von nicht am Entscheidungsverfahren beteiligten Dritten zu einigen. Dies zeigt eine aktuelle Untersuchung von Philip Manow [2] über das Verhältnis von bundesdeutschem Sozialstaat und kooperativem Föderalismus.

Manow stellt fest, dass der deutsche Föderalismus in typischer Weise von den Föderalismen anderer Staaten abweicht. Die trennföderalen Systeme etwa der Schweiz oder der USA, in denen die Zuständigkeiten zwischen Bund und Gliedstaaten klar abgegrenzt sind, haben der Expansion des Wohlfahrtsstaats nachhaltig Grenzen gesetzt. Demgegenüber geht der deutsche Föderalismus mit einem sehr großzügigen Leistungsstaat einher. Manow argumentiert, dass hierfür die Kombination aus politischer Entscheidungsverflechtung und wohlfahrtsstaatlicher Finanzierungsstruktur verantwortlich ist. Im deutschen kooperativen Föderalismus unterliegen insbesondere alle finanzrelevanten Gesetze hohen Zustimmungserfordernissen in der Länderkammer. Damit sind der Steuergesetzgebung hohe Hürden gesetzt. Der beitragsfinanzierte Sozialstaat ermöglicht es aber Bund und Ländern, sich unter Wahrung ihrer eigenen steuerpolitischen Interessen auf Kosten der Beitragszahler zu einigen. Die hohe Kostenlast, die den Sozialversicherungen im Zuge der deutschen Einigung aufgebürdet wurde, ist hierfür ein besonders spektakuläres Beispiel. Sie wirft jedoch nur ein besonders grelles Licht auf einen schleichenden Prozess der Lastenverschiebung zwischen den öffentlichen Haushalten und den Sozialversicherungen, der mit der sozialstaatlichen Konsolidierungspolitik Mitte der 1970er-Jahre einsetzte. Die langfristigen Änderungen der Finanzierungsbeteiligung von Bund, Ländern und Sozialversicherungen am bundesdeutschen Sozialbudget verdeutlichen diesen Zusammenhang (Abb. 3).

Kann der Föderalismus sich selbst reformieren?

Der Föderalismus ist in der paradoxen Zwangslage, über eine Reform innerhalb genau jener verflochtenen politischen Entscheidungsstrukturen zu entscheiden, deren Mängel selbst die Reformbemühungen veranlasst haben. Fritz W. Scharpf beantwortet die Frage nach den Möglichkeiten einer Selbstreformierung des Föderalismus dennoch verhalten optimistisch [4]. Parteipolitisch scheint eine Einigung über die Verminderung der föderalen Zustimmungsrechte möglich. Hier öffnet sich ein kurzes Zeitfenster für Reformansätze, weil die jetzige Opposition mit Blick auf den nächsten Machtwechsel bereit ist, ihr gegenwärtiges Vetopotenzial gegen eine zukünftig erhöhte Handlungsfreiheit zu tauschen. Zugleich hoffen die jetzigen Regierungsparteien ihre gegenwärtige Reformagenda parteipolitisch ungestörter verwirklichen zu können, wenn die Zustimmungsrechte der Länderkammer auf Fragen der finanziellen und administrativen Ausgestaltung beschränkt sind. Und natürlich hofft auch die Regierungsseite noch auf den nächsten Wahlsieg. Allerdings sind die Interessenunterschiede zwischen Bund und Ländern, aber insbesondere auch zwischen den Ländern, weniger leicht auszugleichen. Das trübt wiederum auch die Aussichten auf einen Konsens zwischen den Parteien.

Um die Interessengegensätze zwischen reichen und armen Bundesländern auszugleichen, dabei aber zugleich auch ihre Handlungsfreiheit zu erweitern, plädiert Scharpf dafür, Zugriffsrechte und "Experimentierklauseln" rechtlich so zu definieren, dass Länder in bestimmten Politikbereichen von bundeseinheitlichen Regelungen abweichen dürfen. Ein kontinuierliches Berichtswesen und eine an die Zustimmung des Bundesrates gebundene Rahmenkompetenz des Bundes sollen dabei verhindern, dass diese erweiterte Handlungsfreiheit der Länder in jenen steuerpolitischen und/oder regulatorischen Unterbietungswettlauf münden, den insbesondere die wirtschaftlich schwächeren Bundesstaaten fürchten. Sich um eine Einigung über die Beschränkung der Zustimmungsrechte des Bundesrates und eine Ausweitung des materiellen Handlungsspielraums der Länder zu bemühen erscheint Scharpf "angesichts der gegenwärtigen Krisen unseres Landes … als eine patriotische Tat" [4].

Literatur

[1] S. Burkhart: Parteipolitikverflechtung: Der Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlentscheidungen von 1976 bis 2002. MPIfG Discussion Paper 04/1. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2004 [im Erscheinen in: Politische Vierteljahresschrift].

[2] P. Manow: The German Welfare State, Cooperative Federalism, and the Overgrazing of the Fiscal Commons. ZES-Arbeitspapier 7/2004. Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen 2004.

[3] P. Manow und S. Burkhart: Kompromiss und Konflikt im parteipolitisierten Föderalismus der Bundesrepublik. Unveröffentlichtes Manuskript. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2004.

[4] F.W. Scharpf: Der deutsche Föderalismus - reformbedürftig und reformierbar? MPIfG Working Paper 04/2. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2004.

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