Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Vom Postboten zum Posboten und zurück

Autoren
Holger Mitterer
Abteilungen

Sprachverstehen (Prof. Dr. Anne Cutler)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
Am MPI für Psycholinguistik in Nijmegen wurde untersucht, wie Hörer Wörter noch verstehen können, bei denen in flüssiger Sprache das /t/ am Wortende weggefallen ist (‚Postbote’ wird zu „Posbote“). Verhaltens- sowie neurobiologische Daten zeigen, dass eine Kompensation früh in der Wahrnehmung geschieht und sowohl auf phonologisches als auch auf Weltwissen zurückgreift. Mit Weltwissen ist dabei jenes Wissen gemeint, das wirklich jeder besitzt, auch ohne zusätzliche Ausbildungen.

Das Erkennen eines gesprochenen Wortes ist kein triviales Problem. Bei jedem Wort, das jemand hört, muss er sich entscheiden, welches der gut und gerne 50.000 Wörter, die man normalerweise kennt, hier gemeint sein könnte – und dies zwei- bis dreimal pro Sekunde, denn so viele Wörter produziert ein durchschnittlicher Sprecher. Es kommt hinzu, dass Wörter in flüssiger Rede häufig undeutlicher ausgesprochen werden als in sorgfältiger Deklamation. Dabei kann es zur „Verschmelzung“ von Wörtern kommen (‚haben wir’ als „hamwir“ ausgesprochen). Häufig ist auch der Wegfall eines /t/ am Ende eines Wortes oder eines Teilwortes, wie in ,der Posbote, der gerade die Pos bringt’. Wie erkennt man nun, dass hier ,Postbote’ beziehungsweise ,Post’ gemeint ist? Möglicherweise achten Hörer nicht so sehr auf das genaue Sprachsignal und benutzen ihr Weltwissen: schließlich gibt es einen ‚Postboten’ , aber keinen ‚Posboten’. Denkbar ist aber auch, dass Hörer implizit gelernt haben, unter welchen Umständen /t/ wegfallen kann, also z. B. zwischen /s/ und /b/. In ebendiesen Fällen sollten Hörer dann geneigt sein, ein zugrunde liegendes /t/ anzunehmen, auch wenn es im Sprachsignal fehlt. Dann wäre nicht Weltwissen, sondern phonologisches Wissen der Schlüssel zur Kompensation für ein weggefallenes /t/.

Vom Postboten zum Posboten: Produktion von /t/ am Wortende

Um dies herauszufinden, musste zunächst geklärt werden, unter welchen Umständen /t/ häufig wegfällt. Die Produktionsstudien der Wissenschaftler um Holger Mitterer erbrachten einige erwartete und einige weniger erwartete Resultate. Am Ende eines Wortes fällt /t/ am häufigsten nach /s/ weg, also in Wörtern wie ‚Post’, ‚Mast’ u.s.w. Wie häufig /t/ wegfällt, hängt stark von dem Sprechstil ab. In kurzen, deklamierten Sätzen bleibt es erhalten, während in flüssiger, spontaner Sprache mehr als ein Drittel der /t/ am Wortende wegfällt. ,Wegfallen’ ist allerdings nicht das richtige Wort – es ist keine Entweder-oder-Frage, sondern man findet häufig Formen, bei denen zwar kein deutliches /t/ mehr zu finden war, die sich aber doch noch subtil von einem Wort unterschieden, das wirklich kein /t/ am Ende hat. Wenn also bei dem Wort ‚Bast’ das /t/ wegfällt, klingt es häufig noch anders als „Bass“. So ist z. B. das /s/ in „Bass“ länger als in „Bast“, unabhängig davon, ob das /t/ in „Bast“ ausgesprochen wird oder nicht. Ein anderer Hinweis für ein nicht ausgesprochenes /t/ ist die Präsenz einer kurzen Stille im Sprachsignal. Das Aussprechen eines /t/ führt normalerweise zu einer kurzen Stille in dem Moment, in dem die Zunge den Luftweg kurz hinter den Zähnen abschließt, und einem explosiven Geräusch, wenn die Blockade des Luftweges aufgehoben wird und der aufgestaute Überdruck sich löst. Dieses Explosionsgeräusch ist das, was wir normalerweise mit /t/ assoziieren. Die Untersuchungen der Wissenschaftler zeigen, dass bei einem /t/ am Wortende zwar häufig das Explosionsgeräusch fehlt, aber eine Stille zurückbleibt. Trotz eines weggefallenen /t/ bleiben dem Hörer also subtile Hinweise, um zu entscheiden, ob der Sprecher ‚Bast’ oder ‚Bass’ meint. Der Hörer muss also nicht unbedingt auf Weltwissen zurückgreifen, sondern kann sich auf sein signal-basiertes, phonologisches Wissen verlassen. Auch wenn kein deutliches /t/ im Sprachsignal vorhanden ist, kann ein weggefallenes /t/ angenommen werden, wenn der vorherige Konsonant ein /s/ war, dieses /s/ relativ kurz war und weiterhin das /s/ von einer kurzen Stille im Sprachsignal gefolgt wird.

Vom Posboten zum Postboten: Wahrnehmung von /t/ am Wortende

Ob der Hörer sich tatsächlich auf diese subtilen Unterschiede im Sprachsignal stützt, um das Wort ‚Post’ im „Posboten“ zu erkennen oder ob er trotzdem sein Weltwissen gebraucht, wurde in Wahrnehmungsexperimenten untersucht. Dabei verwendeten die Wissenschaftler zwei sich ergänzende Methoden. Zum einen mussten Hörer entscheiden, ob ein Wort mit oder ohne /t/ am Ende ausgesprochen wird, und zum anderen wurden elektrische Gehirnströme während des passiven Hörens der Sprachstimuli gemessen. Die erste Methode liefert eindeutig interpretierbare Ergebnisse, denn die Hörer werden gefragt, ob sie denken, dass ein /t/ im Sprachsignal war. Diese Methode hat jedoch den Nachteil, dass nach expliziten Entscheidungen gefragt wird, die im natürlichen Sprachgebrauch nicht vorkommen. Dort versucht der Hörer schließlich den Inhalt und nicht die genaue phonetische Form einer Äußerung zu entschlüsseln, also ob der Sprecher „Bast“ oder „Bass“ gesagt hat und nicht, ob die Aussprache ein gutes /t/ enthielt oder nicht. Die Messung der Gehirnströme stellt daher eine wesentliche Ergänzung zur ersten Methode dar. Gehirnströme sind zwar nicht so eindeutig interpretierbar wie die Verhaltensdaten, dafür kommen die Wissenschaftler der Situation des natürlichen passiven Zuhörens näher.

Phonologisches Wissen
Greift ein Hörer tatsächlich auf sein phonologisches Wissen über subtile Hinweise auf ein weggefallenes /t/ zurück? Um dies zu untersuchen, haben die Wissenschaftler künstliche Sprachstimuli entworfen, in denen genau diese Hinweise – kurze Stille im Sprachsignal, Länge des vorherigen Konsonanten – variiert wurden. Niederländische Nichtwörter – also Wörter, die keine Bedeutung haben, wurden in einfachen Sätzen dargeboten, in denen Weltwissen keine Rolle bei der Interpretation spielen kann: „Wim sprak dris? nauwelijks uit“ (dt. ‚Wim sprach dris kaum aus’ – wobei es ein Wort dris im Niederländischen nicht gibt). Das „?“ am Ende des Nichtworts dris steht hier für die in verschiedenen Bedingungen unterschiedlich starken Hinweise auf ein zugrundeliegendes /t/. Dabei wurden sowohl Signale angeboten mit einem gut ausgesprochenen /t/, zweideutige Signale ohne deutliches /t/, aber mit subtilen Hinweisen für ein zugrundeliegendes /t/, sowie Signale, die deutlich für ein Wort ohne /t/ am Wortende sprechen. Weiterhin sind auch Nichtwörter wie drin? mit denselben Hinweisen für oder gegen ein dem /n/ folgendes /t/ dargeboten worden. Wenn Hörer signal-basierte Hinweise auf ein zugrundeliegendes /t/ gebrauchen, dann sollten sie in einer Entscheidungsaufgabe ("hören Sie dris oder drist") häufiger sagen, dass sie ein /t/ hören, wenn eine kurze (65 ms) Stille auf das /n/ oder /s/ in respektive drin oder dris folgt. Das sollte vor allem nach /s/ geschehen, da nach /s/ ein /t/ häufiger wegfällt als nach /n/. Diese Hypothesen wurden alle bestätigt. So gaben Hörer an, nach einem relativ kurzen /s/ gefolgt von einer kurzen Stille in etwa 70 % der Fälle ein /t/ zu hören, obwohl kein /t/ im Sprachsignal war. Ein relativ kurzes /n/ gefolgt von einer kurzen Stille hingegen verleitete Hörer nur in etwas 20 % der Fälle dazu, ein /t/ zu hören. Nach einem langen /s/ oder einem langen /n/ gaben Hörer jedoch kaum an, ein /t/ zu hören, was das Resultat widerspiegelt, dass ein /s/ in einem Wort wie „Bass“ länger ist als in „Bast“. Hörer machen also Gebrauch von phonologischem Wissen, um das Wegfallen von /t/ zu kompensieren.

Weltwissen
Dass Hörer phonologisches Wissen gebrauchen, bedeutet jedoch nicht, dass Weltwissen keine Rolle mehr spielt. Diese Möglichkeit wurde in einem weiteren Experiment getestet. Ein Teil des Weltwissens ist die Kenntnis darüber, was ein Wort in der Muttersprache ist und was nicht. Wenn dieses Wissen die Entscheidung darüber beeinflusst, ob eine Form ein /t/ enthält oder nicht, sollten Hörer häufiger ein /t/ hören, wenn das die fragliche Form zu einem Wort macht: Da orkest und moeras niederländische Wörter sind (dt. ‚Orchester’ und ‚Sumpf’), während orkes und moerast keine Wörter des Niederländischen sind, sollten Hörer also häufiger ein /t/ an der Stelle des „?“ hören in Sätzen wie „Wim sprak orkes? nauwelijks uit“ (dt. ‚Wim sprach orkes? kaum aus’) als in Sätzen wie „Wim sprak moeras? nauwelijks uit“. Die Ergebnisse bestätigen diese Hypothese. Hörer kompensieren das (teilweise) Wegfallen eines /t/ mit Hilfe von sowohl phonologischem Wissen als auch Weltwissen.

Es geht schnell
Schließlich untersuchte die Arbeitsgruppe in Nijmegen mit der Messung von Gehirnströmen, ob die Kompensation für ein wegfallendes /t/ ein früher Wahrnehmungsprozess ist. Dabei wurde von dem so genannten ‚Oddball’-Paradigma Gebrauch gemacht: Versuchspersonen hören Paare von auditiven Reizen. Einer der Reize des Paars wird häufig dargeboten (z. B. 90 %, der ‚Standard’), der andere selten (z. B. 10%, der ‚Oddball’). Die Versuchspersonen müssen auf die Reize weder reagieren noch diese beachten. Trotzdem ergibt sich in den Gehirnströmen relativ schnell nach der Darbietung der Reize (100-300 ms) ein Unterschied in den von ihnen hervorgerufenen Potentialen. Da das vom Oddball hervorgerufene Potential negativer ist als das des Standards, wird dieses Signal die MisMatch-Negativität (MMN) genannt. Die MMN entsteht allerdings nur dann, wenn die Versuchpersonen die beiden Reize als unterschiedlich wahrnehmen. Das Design wurde so eingesetzt, dass als Standard-Oddball-Paare Nichtwort-Folgen wie dristmoei vs. dris_moei und drintmoei vs. drin_moei angeboten wurden (Das „_“ gibt hier eine kurze Stille im Sprachsignal an). Der akustische Unterschied zwischen beiden Paaren ist identisch, in beiden Fällen wird ein /t/ durch eine kurze Stille ersetzt. In den Wahrnehmungsexperimenten führt das bei der Form drin dazu, dass der Hörer kein /t/ mehr wahrnimmt, während die dris_-Form noch immer als „mit /t/“ wahrgenommen wird. Die Ergebnisse mit der MisMatch-Negativität (MMN) zeigen, dass diese Illusion eines vorhandenen /t/ nach /s/ von frühen Wahrnehmungsprozessen verursacht wird: Der Oddball drin_moei zum Standard drintmoei löst nach 150 ms eine MMN aus. Das zeigt, dass die Versuchspersonen diese beiden Formen als unterschiedlich wahrnehmen. Der Oddball dris_moei zum Standard dristmoei löst, trotz des gleichen akustischen Unterschieds zum Standard, keine MMN aus. Folglich werden die beiden Reize dristmoei und dris_moei als äquivalent wahrgenommen. Daraus kann man schließen, dass die Kompensation für ein wegfallendes /t/ ein früher Wahrnehmungsprozess ist.

Während der Postbote also in der Sprachproduktion zum „Posbote“ wird, sorgen phonologisches Wissen und Weltwissen in der Wahrnehmung dafür, dass der ausgesprochene „Posbote“ wieder Postbote wird. Dieses geschieht so schnell, dass wir uns dieser Vereinfachungen in der Aussprache kaum oder gar nicht bewusst sind.

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