Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Produzieren von Ein- und Mehrwortäußerungen

Autoren
Roelofs, Ardi; Schiller, Niels
Abteilungen

Sprachproduktion (Prof. Dr. Peter Hagoort)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
Sprechen ist im Allgemeinen ein schneller und automatischer Prozess. Im Durchschnitt artikulieren wir zwei bis drei Wörter pro Sekunde und machen dabei relativ wenig Fehler (circa ein Versprecher auf tausend Wörter). Die einfachsten Äußerungen bestehen aus nur einem Wort, beispielsweise das Benennen eines Objektes. Die Fähigkeit, auf einzelne Wörter zuzugreifen, ist jedoch essentiell für die Produktion von Mehrwortäußerungen. Die Theorie, die Wissenschaftler im Arbeitsbereich Sprachproduktion entwickelten, analysiert den lexikalischen Zugriff als seriellen Prozess: Erst wenn ein früherer Prozess abgeschlossen ist, wird mit dem nächsten begonnen.

Planungsniveaus bei der Sprachproduktion

Abbildung 1 illustriert die verschiedenen Schritte des Wortplanungsprozesses in einem Aktivierungsnetzwerk. Man kann zwei verschiedene Hauptprozesse unterscheiden: Wortauswahl und Wortenkodierung. Die Wortauswahl beginnt mit der konzeptuellen Vorbereitung. Wenn wir beispielsweise das Bild eines Eisbären benennen wollen, müssen wir zunächst den Konzeptknoten EISBÄR, das heißt die Bedeutung von Eisbär, aktivieren. Auf der Basis des Konzepts EISBÄR sind wir in der Lage, den so genannten Lemmaknoten für Eisbär auszuwählen. Das Lemma eines Wortes repräsentiert dessen syntaktische Eigenschaften, wie zum Beispiel die Wortklasse (handelt es sich um ein Verb, ein Adjektiv oder ein Substantiv?) und im Fall eines Substantivs das grammatikalische Geschlecht (ist das Wort feminin, maskulin oder neutrum?). Syntaktische Eigenschaften sind für die Produktion von Mehrwortäußerungen wie zum Beispiel kleiner Eisbär oder der Eisbär wichtig, denn die korrekte Form des Adjektivs oder des Artikels hängt unter anderem vom grammatikalischen Geschlecht des Substantivs ab.
Sobald das Lemma eines Wortes ausgewählt ist, kann der zweite Hauptprozess des Wortplanungsprozesses, die Wortenkodierung, beginnen. Die Wortenkodierung besteht unter anderem aus dem Zugriff auf die relevanten Morphem- und Segmentknoten (Phoneme) und deren Silbifizierung, das heißt die Einteilung der Segmente in Silben. Für das Beispielwort Eisbär wären dies die Morpheme < Eis > und < Bär > sowie die Segmente /AI/, /s/, /b/, /e/, /r/, die die Silben /AIs/ und /ber/ ergeben. Diese Silben werden dann benutzt, um auf die korrespondierenden Motorprogramme für die Artikulation zuzugreifen, was auch "phonetische Enkodierung" genannt wird.

Die Beziehung zwischen den Planungsniveaus

Der erste Schritt des Wortplanungsprozesses, die Wortauswahl, wird durch Wettbewerb zwischen Wörtern mit ähnlicher Bedeutung charakterisiert. Im Netzwerkmodell sind die Konzeptknoten solcher Wörter miteinander verbunden. Dies wird deutlich, wenn ein Bild (z. B. Eisbär) benannt werden soll und gleichzeitig ein bedeutungsverwandtes, zu ignorierendes Ableitungswort (z. B. Löwe) angeboten wird. Unter solchen Bedingungen wird Eisbär beispielsweise langsamer produziert, als wenn das Ableitungswort nicht bedeutungsverwandt ist (z. B. Tisch). Der Grund hierfür ist, dass die Aktivierung von Eisbär auf Konzeptniveau auch bedeutungsverwandte Lemmaknoten (z. B. Löwe, Affe) mit aktiviert (siehe Abb. 1). Diese bedeutungsverwandten Lemmaknoten treten bei der Auswahl des Zielwortes miteinander in Wettbewerb und sorgen für einen so genannten Bedeutungs-Verwandtschafts-Effekt. Dies ist jedoch nicht der Fall für semantisch unähnliche Wörter, da deren Lemmaknoten sich nicht gegenseitig über ihre Konzeptknoten aktivieren. Die Situation ist eine völlig andere, wenn Bildname (z. B. Eisbär) und Ableitungswort (z. B. Eimer) ähnlich klingen (beide Wörter beginnen mit /AI/). In diesem Fall präaktiviert das Ableitungswort Eimer einige der Segmente des Zielwortes Eisbär, sodass Eisbär schneller produziert werden kann (siehe Abb. 1). Dieses Phänomen wird auch Klang-Ähnlichkeits-Effekt genannt. Selbstverständlich erscheinen diese Effekte auch, wenn zwei Ableitungswörter gleichzeitig präsentiert werden.
Das Netzwerkmodell der Wissenschaftler in Nijmegen sagt vorher, dass Bedeutungs-Verwandtschafts-Effekt und Klang-Ähnlichkeits-Effekt additiv sind, weil sie auf verschiedenen Planungsniveaus angesiedelt sind. Experimentell wird diese Annahme durch folgenden Befund unterstützt: Wird ein zu benennendes Bild (z. B. Eisbär) mit einem bedeutungsverwandten (z. B. Löwe) und einem klangähnlichen Ableitungswort (z. B. Eimer) angeboten, so ist der Netto-Effekt genauso groß wie die Summe von Bedeutungs- und Klangeffekt mit jeweils zwei Ableitungswörtern.
( Rasha Abdel-Rahman, Alissa Melinger)

Weiter sagt das Netzwerkmodell vorher, dass der Klang-Ähnlichkeits-Effekt nur dann auftritt, wenn Segmente auch tatsächlich produziert werden. Lässt man Versuchspersonen Bilder nach ihrer Bedeutung einteilen (z. B. Tier versus Objekt), das heißt der Klang der Bildnamen wird nicht aktiviert, lassen sich auch tatsächlich keine Klangeffekte nachweisen. Dies gilt auch, wenn Versuchspersonen Bilder nach ihrem grammatikalischen Geschlecht (z. B. maskulin, feminin oder neutrum) einteilen müssen, denn auch hierfür ist der Klang eines Bildnamens nicht notwendig. Klangeffekte lassen sich nur dann nachweisen, wenn Versuchspersonen Bilder tatsächlich benennen müssen.
(Rebecca Gross, Ardi Roelofs, Pim Levelt)

Wettbewerbseffekte, wie beispielsweise der oben genannte Bedeutungs-Verwandtschafts-Effekt, lassen sich auch ohne gleichzeitige Präsentation eines Ableitungswortes zeigen. Lässt man Versuchspersonen zusammengesetzte Wörter (z. B. der Eisbär) benennen, aktiviert das Konzept des zusammengesetzten Wortes ("EISBÄR") nicht nur sein eigenes Lemma (Eisbär), sondern auch die Lemmas der einzelnen Morpheme (Eis und Bär). Diese Lemmas aktivieren wiederum ihre grammatikalischen Geschlechtsknoten (neutral für Eis und maskulin für Bär), die wiederum ihre Artikel aktivieren (< das > bzw. < der >; siehe Abb. 1). Die Auswahl des Artikels < der > für "der Eisbär" wird durch die gleichzeitige Aktivierung des Artikel < das > (für "das Eis") behindert.
(Niels Schiller, Rasha Abdel-Rahman, Pienie Zwitserlood)

Planungseffekte bei der Enkodierung von Wörtern

Der zweite Schritt des Wortplanungsprozesses, die Wortenkodierung, zeichnet sich durch die Auswahl der relevanten Morpheme, Segmente (Phoneme), deren Silbifizierung und die Aktivierung der entsprechenden motorischen Programme aus. Morpheme, Segmente und Motorprogramme sind im Langzeitgedächtnis gespeichert, während die Silbifizierung eines Wortes kontextabhängig ist und daher nicht gespeichert werden kann. Dies wird anhand des folgenden Beispiels eindrucksvoll deutlich. Eisbär besteht aus den Silben Eis und bär. Wird dieses Wort jedoch im Plural produziert ("Eisbären"), ändert sich die Silbenstruktur: Eis-bä-ren: Das /r/ aus der ursprünglich zweiten Silbe (bär) wird Teil der dritten Silbe (ren). Da dies kein Einzelfall ist, sondern in gesprochener Sprache bei mehr als 10% aller Wörter vorkommt, macht es keinen Sinn, die Silbenstruktur von Wörtern zu speichern.
Ein bekanntes Phänomen in der kognitiven Psychologie ist, dass der Abruf häufig benötigter Information schneller erfolgt als der Abruf weniger häufig benötigter Information. Studien in der Arbeitsgruppe um Willem Levelt haben gezeigt, dass dies auch für Wörter der Fall ist, was als Frequenzeffekt bezeichnet wird. Frequenzeffekte wurden für Morpheme, Segmente, und silbische Motorprogramme gefunden. Die Studien haben gezeigt, dass sowohl das erste (z. B. Eis) als auch das zweite Morphem (z. B. Bär) eines zusammengesetzten Wortes (Eisbär) jeweils einen Frequenzeffekt aufweisen; das heißt häufiger Gebrauch von Wörtern erleichtert deren Produktion. Der Frequenzeffekt tritt auch auf, wenn ein Wort erst kurz vorher benutzt worden ist. So werden Wörter mit derselben Silbenstruktur (z. B. Eis-bär, eis-frei) schneller nacheinander produziert als Wörter mit unterschiedlicher Silbenstruktur (z. B. Eis-bär, ei-sig), selbst wenn die Segmente verschieden sind.
(Heidrun Bien, Joana Cholin, Niels Schiller, Pim Levelt).

Schnellere Produktion findet auch statt, wenn nur Segmente übereinstimmen. Dieser Befund deutet an, dass Segmente unabhängig von ihrer Silbenstruktur gespeichert sind.
Während die Silbenstruktur selbst im Deutschen nicht abgespeichert zu werden scheint, kann dies in anderen Sprachen anders sein. Im Chinesischen beispielsweise ist die Silbenstruktur nicht kontextabhängig, sondern steht immer fest. Das führt zu der Prognose, dass Segmente zusammen mit ihrer Silbenstruktur abgespeichert sind. Empirisch wird diese Annahme dadurch unterstützt, dass es zu keiner schnelleren Produktion führt, wenn lediglich die Segmente übereinstimmen. Simulationen mit dem Nijemger Computermodell WEAVER++ haben gezeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist.
(Train-Min Chen, Ardi Roelofs).

Neben der Silbenstruktur und den Segmenten spielt auch die Betonung von Wörtern eine wichtige Rolle bei deren Produktion. Einige Wörter sind auf der ersten Silbe betont (z. B. Löwe), andere auf der zweiten Silbe (z. B. Altar). Aus früheren Untersuchungen wissen wir, dass Wörter von links nach rechts zusammengesetzt werden, das heißt Segmente und Silben am Anfang eines Wortes werden früher enkodiert als Segmente und Silben am Ende eines Wortes (siehe MPG-Jahrbuch 2002). Welche Rolle die Betonung bei der Produktion von Wörtern spielt, war bisher noch nicht bekannt. Wird auch die Betonung von Wörtern von vorne nach hinten aufgebaut oder ist die Betonung als Ganzes zugänglich? Kürzlich durchgeführte Studien haben gezeigt, dass auch das Betonungsmuster eines Wortes Schritt für Schritt vom Beginn eines Wortes bis zu dessen Ende aufgebaut wird.
(Niels Schiller, Pim Levelt)

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