Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht

Emigration deutschsprachiger Rechtswissenschaftler nach Großbritannien im 20. Jahrhundert

Autoren
Zimmermann, Reinhard
Abteilungen

Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung
MPI für ausländ. und internat. Privatrecht, Hamburg

Zusammenfassung
Während der Nazi-Herrschaft von 1933 bis 1945 verloren die deutschen rechtswissenschaftlichen Fakultäten mehr als ein Viertel ihrer Mitglieder. Den weiteren Lebenswegen und die Karrieren von Naturwissenschaftlern, Historikern und Künstlern, die Deutschland und Österreich nach Hitlers Machtergreifung verlassen mussten, wurden bereits Veröffentlichungen gewidmet. Ein vergleichbares Werk fehlte bisher für die juristischen Emigranten. Ein deutsch-englisches Gemeinschaftsprojekt schließt nunmehr diese Lücke. Es zeichnet die Biographien und die intellektuelle Herkunft herausragender deutscher Juristen nach, die sich in England niedergelassen haben, und untersucht ihren Einfluss auf die dortige Rechtpraxis und Rechtswissenschaft.

Die grenzüberschreitende Rezeption von Ideen vollzieht sich häufig auf verschlungenen Pfaden. Vielfach folgen die Ideen den Wanderungen ihrer Träger und sind mit deren Lebensschicksalen eng verbunden. Diese Lebensschicksale werden wiederum nicht selten von unvorhergesehenen, mitunter tragischen Ereignissen geprägt. Nichts macht dies deutlicher als die Zeit des Dritten Reiches, als insgesamt etwa 500.000 Menschen, mehr als neunzig Prozent davon jüdisch im Sinne der nationalsozialistischen Rassengesetze, aus Deutschland, Österreich und dem deutschsprachigen Teil der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Viele von ihnen verschlug es schließlich, oft unter abenteuerlichen Umständen, in die Vereinigten Staaten, andere nach England. Sie brachten in diese Länder ein Stück deutscher Kultur. "Thank you, Mr. Hitler", hieß es deshalb in Princeton, als Thomas Mann empfangen wurde.

Doch die meisten Emigranten wurden weniger freundlich begrüßt oder gefeiert. Professoren mussten als Tellerwäscher oder Bäckergehilfen arbeiten, Frauen aus ehemals wohlsituierten Familien verdingten sich als Putzhilfe, vielfach herrschte Not, Hunger, Ratlosigkeit und Depression. Mancher der Emigranten nahm sich das Leben. Und doch gelang es vielen, gegen alle Widerstände und trotz ungünstiger Verhältnisse, mit ihrer Arbeit fortzufahren oder in der Fremde eine neue Karriere zu beginnen. Ihr Gastland bot ihnen eine zweite Chance, die sie mitunter geradezu als ein Geschenk des Himmels empfanden. Der große Romanist Fritz Schulz verfasste im englischen Exil mit "History of Roman Legal Science" [1] und "Classical Roman Law [2]" zwei seiner bedeutendsten Werke. "Ressentiments gegen Deutschland habe ich nicht", schrieb er, obwohl seit sieben Jahren ohne feste Stelle, in einem bewegenden Brief vom August 1946, "denn wie geschrieben steht: die Nazis gedachten es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen. Niemals wäre ich in Deutschland zu dieser Reife gediehen wie hier im freien England und vor allem im herrlichen Oxford, das eben auf der Welt nicht seinesgleichen hat."

Fritz Schulz war einer der insgesamt 132 in Deutschland tätigen Hochschullehrer der Jurisprudenz, die während der ersten drei Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft aus ihrem Amt entfernt wurden. Die deutschen juristischen Fakultäten verloren damit aus politischen, ganz überwiegend aber aus rassischen Gründen, sechsundzwanzig Prozent ihres Lehrkörpers. Zu den besonders schwer betroffenen Fächern gehörte das Römische Recht. Unter den vierzehn prominentesten Romanisten während der Weimarer Zeit waren sieben nicht-arisch im Sinne der Nazi-Gesetze. Otto Lenel und Otto Gradenwitz waren bereits emeritiert und starben 1935, die anderen fünf (Ernst Rabel, Ernst Levy, Fritz Schulz, Franz Haymann und Fritz Pringsheim) mussten emigrieren.

Ein deutsch-englisches Gemeinschaftsprojekt beschäftigt sich nun mit den herausragenden Gestalten der deutschsprachigen juristischen Emigration, die nach England kamen. Die an diesem Projekt Beteiligten untersuchen Biographie und intellektuelle Herkunft der wichtigsten dieser Juristen, zeichnen ihre Karrieren nach und stellen die bedeutsamsten in der Emigration entstandenen Werke vor. Anhand dieses Materials lässt sich der Einfluss analysieren, den diese Persönlichkeiten auf Rechtspraxis und Rechtswissenschaft in England (beziehungsweise im Falle der Remigration) in Deutschland gehabt haben. Die Gesamtheit der Arbeiten ist zugleich ein Beitrag zur intellektuellen Geschichte einiger juristischer Teildisziplinen im England des vergangenen Jahrhunderts.

Das Projekt wird von der Thyssen-Stiftung unterstützt und beruht auf einem Netzwerk von Kontakten vor allem zu Kollegen der Universitäten Oxford und Cambridge. Mitherausgeber des geplanten Bandes ist auf englischer Seite ist Sir Jack Beatson, bis 2002 Rouse-Ball Professor für Englisches Recht an der Universität Cambridge und seither Justice am High Court, Queens' Bench Division. Der Band wird bei Oxford University Press (in Kooperation mit Mohr Siebeck, Tübingen) erscheinen [3].

Die Auswahl der behandelten Juristen beruht auf dem Wunsch, die Wirkung der im deutschsprachigen Raum ausgebildeten Juristen in ihrer neuen Heimat zu ermitteln. Nicht erfasst sind deshalb diejenigen, die bereits als Kinder nach England kamen, wie etwa Sir Michael Kerr und Sir Guenter Treitel. Eine weitere Beschränkung ergibt sich aus den Schwierigkeiten, den Einfluss von Praktikern zu erfassen. Das Augenmerk der Autoren liegt deshalb vor allem auf akademisch tätigen Juristen. Nicht alle der behandelten Emigranten hatten zwar schon in Deutschland eine Hochschulkarriere begonnen, fast alle von ihnen wurden jedoch in England zu Hochschullehrern und begannen damit eine akademische Karriere oder setzten sie fort. Eine Ausnahme bildet F.A. Mann, ein praktisch tätiger Anwalt ("solicitor"), dessen Publikationen jedoch an Zahl und Einfluss die vieler Vollzeit-Akademiker in den Schatten stellten.

Ein wichtiges Anliegen des Projekts ist, den Einfluss von Juristen einzuschätzen, die ihre Ausbildung in Deutschland, oder doch im deutschen Kulturraum, erfahren hatten. Daher werden auch zwei Juristen mit einbezogen, die vor der Machtergreifung der Nazis in Deutschland nach England gingen. Einer von ihnen, Lassa Oppenheim, lebte bereits am Ende des 19. Jahrhunderts in England, der andere, Hersch Lauterpacht, seit den 1920er-Jahren. Lauterpacht war in Ostgalizien (damals Teil des österreichisch-ungarischen Reiches) geboren und hatte in Wien studiert. Angesichts der traditionell engen Verbindung zwischen deutschem und österreichischem Recht scheint es unangemessen, Lauterpacht auszuschließen.

Die meisten Forschungsbeiträge beschäftigen sich mit jeweils einem Juristen und seiner Karriere. Dies gilt für die drei großen Romanisten Fritz Schulz, Fritz Pringsheim und David Daube, für die Völkerrechtler Lassa Oppenheim, Hersch Lauterpacht und Georg Schwarzenberger sowie für eine Reihe von Autoren, die sich (wenngleich keineswegs ausschließlich!) mit internationalem Privatrecht und Rechtsvergleichung befasst haben: Otto Kahn-Freund, Ernst J. Cohn, F. A. Mann, Martin Wolff und Kurt Lipstein. Damit sind zugleich die vier Fächer genannt, in denen der Einfluss der Emigranten am ausgeprägtesten war. Es erschien deshalb sinnvoll und lohnend, die Entwicklung dieser Fächer zusätzlich im Zusammenhang zu analysieren, um damit den Beitrag der Emigranten im größeren Kontext würdigen zu können. Der Band wird deshalb Kapitel über die Entwicklung des römischen Rechts, der Rechtsvergleichung, des internationalen Privatrechts und des Völkerrechts im England des 20. Jahrhunderts enthalten. Weitere Forschungsbeiträge befassen sich mit den Rechtshistorikern Hermann Kantorowicz und Walter Ullmann, dem Handelsrechtler Clive M. Schmitthoff, dem Rechtsphilosophen Wolfgang Friedman, dem Staatsrechtslehrer Gerhard Leibholz und den Kriminologen Hermann Mannheim und Max Grünhut.

Weiterhin enthält der Band persönliche Erinnerungen von Peter Stein und Barry Nicholas an Emigranten, die sie persönlich gekannt haben, und einen autobiographischen Lebensabriss von Kurt Lipstein. In einem Appendix wird ein Überblick über eine Reihe von Emigranten gegeben, die aus dem einen oder anderen Grunde keine tieferen Spuren im englischen Recht hinterlassen haben oder die vorwiegend praktisch tätig gewesen sind (Otto Prausnitz, Rudolf Graupner, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Franz Haymann, Arnold Ehrhardt, Friedrich Darmstädter, Arthur Wegener, Josef Unger). Schließlich analysieren die beiden Herausgeber den geistesgeschichtlichen, kulturellen, politischen und juristischen Kontext der Emigration deutscher Juristen aus deutscher und englischer Sicht: "Was Heimat hieß, nun heißt es Hölle - The emigration of lawyers from Hitler's Germany: political background, legal framework and cultural context" sowie "Aliens, enemy aliens and friendly enemy aliens: Britain as a home for emigré and refugee lawyers".

Angestoßen wurde das Forschungsprojekt durch eine Vielzahl langer Gespräche zwischen Reinhard Zimmermann und dem letzten in England überlebenden Wissenschaftler der Emigrantengeneration, Kurt Lipstein.

Literatur

[1] Fritz Schulz: History of Roman legal science. Clarendon Press, Oxford 1946. Das Werk wurde 1953 und 1967 vom selben Verlag neu gedruckt. 1961 erschien eine deutsche Ausgabe: Fritz Schulz: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaften. Böhlau, Weimar 1961.

[2] Fritz Schulz: Classical Roman Law. Clarendon Press, Oxford 1951. Das Werk wurde 1954, 1961 und 1969 vom selben Verlag und 1992 vom Scientia-Verlag, Aalen, neu gedruckt.

[3] Jack Beatson and Reinhard Zimmermann (Hg.): Jurists Uprooted - German-Speaking Emigré Lawyers in Twentieth Century Britain. Oxford University Press, Oxford 2004.

Zur Redakteursansicht