Forschungsbericht 2004 - MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht

Netzwerkeffekte, dynamische Effizienz und Kartellrecht

Autoren
Mackenrodt, Mark-Oliver
Abteilungen

Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht (Prof. Dr. Dres. h.c. Joseph Straus)
MPI für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht, München

Zusammenfassung
Die kartellrechtliche Bewertung einer Wettbewerbsstrategie hängt von ihrer Wirkung auf den Wettbewerb ab. Die Wettbewerbswirkung wiederum wird durch die Marktmechanismen bestimmt. Die Miroökonomie verwendet das Modell der Netzwerkeffekte zur Erklärung der Andersartigkeit der Marktmechanismen in Netzwerkmärkten. Ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht untersucht den Einfluss von Netzwerkeffekten auf die Marktmechanismen sowie auf die Wettbewerbsstrategien und analysiert die Leistungsfähigkeit des kartellrechtlichen Instrumentariums in Netzwerkmärkten.

Die Entwicklung eines internationalen Kartellrechts, Wettbewerbspolitik in Transformations- und Entwicklungsländern sowie Fragen des materiellen Kartellrechts sind zentrale Forschungsfelder des Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht. Im Bereich des materiellen Kartellrechts befasst sich ein Forschungsprojekt mit Netzwerkeffekten, dynamischer Effizienz und Kartellrecht.

Die kartellrechtliche Beurteilung einer Wettbewerbsstrategie hängt von ihrer Wirkung auf den Wettbewerb ab. Die Wettbewerbswirkung einer Strategie wiederum wird durch die Marktmechanismen bestimmt. Die Industrieökonomie verwendet das Modell der „Netzwerkeffekte“ zur Erklärung der Andersartigkeit der Marktmechanismen in Netzwerkmärkten gegenüber denen in klassischen Märkten. Netzwerkmärkte sind traditionell Märkte, in denen Kommunikationsnetze, Transportnetze oder Stromnetze aufgebaut werden. Hinzu kommen heute die virtuellen Netzwerkgüter der Informationsindustrie. Ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht untersucht den Einfluss von Netzwerkeffekten auf die Marktmechanismen und auf die Wettbewerbsstrategien von Netzwerkunternehmen. Schließlich wird die Leistungsfähigkeit des kartellrechtlichen Instrumentariums in Netzwerkmärkten analysiert. Drei Andersartigkeiten der Marktmechanismen und der Wettbewerbsstrategien skizzieren das Spannungsfeld der Untersuchung.

Nutzwertsteigerung durch hohe Nachfrage

Direkte Netzwerkeffekte liegen vor, wenn der Nutzwert eines Gutes umso höher ist, je mehr von diesem Gut nachgefragt wird. Ein Telefon beispielsweise ist ein Netzwerkgut: Sein inhärenter Nutzen ist niedrig, das heißt der Nutzwert eines Telefons ist gering, wenn nur ein einziger Nutzer ein Telefon mit dieser Technologie benutzt. Jedoch steigt der Wert eines Telefons mit jedem zusätzlichen Netzteilnehmer, also mit steigender Nachfrage. In einem Telefonnetz mit vier Teilnehmern beispielsweise können zwölf verschiedene Telefonverbindungen hergestellt werden. Hingegen ermöglicht ein konkurrierendes Telefonnetz mit fünf Teilnehmern, also nur einem Teilnehmer mehr, zwanzig verschiedene Verbindungen und hat daher einen deutlich höheren Nutzwert. Da mit steigender Stückzahl der Anreiz zum Erwerb des Gutes steigt, ist die Nachfragekurve in Netzwerkmärkten grundsätzlich steigend.

Dieser Marktmechanismus ist gegenüber dem in klassischen Märkten andersartig: Der Nutzwert der meisten Güter ist unabhängig davon, wie viele andere Personen dasselbe Gut nachfragen. In der Regel tritt mit der Anzahl der konsumierten Güter eine Sättigung ein. Die Nachfragekurve ist daher grundsätzlich fallend.

Ein Netzwerkunternehmen wird daher Wettbewerbsstrategien wählen, die zu einer möglichst großen Verbreitung des Netzwerkgutes führen, da dadurch der Wert des Gutes für weitere Konsumenten gesteigert wird. Dabei kann es sich beispielsweise um Niedrigpreisstrategien und besonders intensive Werbung handeln.

Netzwerkeffekte treten auch bei virtuellen Netzwerkgütern auf, und zwar in der Gestalt von indirekten Netzwerkeffekten. Das bedeutet, dass der Nutzwert eines Gutes umso höher ist, je mehr ein dazu komplementäres Gut nachgefragt wird. Komplementarität zweier Güter meint, dass ihre Verwendung nur gemeinsam sinnvoll ist. Bei virtuellen Netzwerkgütern handelt es sich meist um Güter der Informationsindustrie. Die Internetbörse e-bay beispielsweise bietet zueinander komplementäre Dienstleistungen für Käufer und Verkäufer an. Die Verkaufsdienstleistung ist für Verkäufer wertvoller, wenn mehr Käufer die Kaufdienstleistung nachfragen. Umgekehrt werden mehr Käufer angelockt, wenn mehr Verkäufer registriert sind. Video- und DVD-Player sind ebenfalls virtuelle Netzwerkgüter: Je mehr Filme im DVD-Format angeboten werden, desto mehr Konsumenten werden sich DVD-Player zulegen, vielleicht anstelle eines Video-Rekorders. Je mehr DVD-Player aber im Markt sind, desto größer wird das Filmangebot im DVD-Format sein. Viele erfolgreiche Geschäftsmodelle bei Informationsgütern sind ohne Netzwerkeffekte nicht sinnvoll erklärbar.

Nutzwertsteigerung durch gemeinsame Standards

Das Beispiel der zwei Telefonnetze demonstriert eine zweite ökonomische Andersartigkeit von Netzwerkgütern, nämlich die positive Wohlfahrtswirkung von Kompatibilität: Sind die beiden Telefonnetze inkompatibel, weil sie etwa unterschiedliche Frequenzen benutzen, so kann zwischen Nutzern zweier verschiedener Netze keine Verbindung hergestellt werden. Im Beispiel sind in dem Netz mit vier Teilnehmen zwölf und in dem Netz mit fünf Teilnehmern zwanzig Kombinationen innerhalb der Netze möglich. Schaltet man hingegen die zwei konkurrierenden Telefonnetze zusammen, schafft man also Kompatibilität, so werden zweiundsiebzig Verbindungen möglich. Durch die Kompatibilität zweier Netze steigt der Nutzwert eines Netzwerkgutes daher überproportional.

Während in klassischen Märkten Kompatibilität als Wettbewerbsfaktor von geringerer Bedeutung ist, wird ein Netzwerkunternehmen seine Kompatibilitätsstrategie so festlegen, dass die Netzwerkeffekte möglichst nur dem Produkt aus eigener Herstellung zu Gute kommen. Hat ein Netzwerkunternehmen eine geringe Verbreitung, so hat es einen Anreiz, Kompatibilität zu größeren Konkurrenten anzustreben. Ein weit verbreitetes Netzwerkunternehmen hingegen wird gegenüber kleineren Unternehmen Inkompatibilität vorziehen, damit sein Netzwerkprodukt aufgrund der größeren Netzwerkeffekte attraktiver ist als das der Konkurrenz. Wird Inkompatibilität gezielt herbeigeführt, kann dies kartellrechtlich relevant sein.

Die Regulierung der Telekommunikation durch Zusammenschaltungspflichten dient also der Maximierung von Netzwerkeffekten und damit der Konsumentenwohlfahrt. Historisch geht die Bezeichnung Netzwerkeffekte darauf zurück, dass sie erstmalig in Industrien mit physischen Netzen ökonomisch analysiert wurden. Dies waren Telefonnetze, Eisenbahnnetze, Stromnetze oder Flugliniennetze. Mit einer zunehmenden Deregulierung dieser Sektoren tritt das allgemeine Kartellrecht wieder mehr in den Vordergrund.

Hingegen besteht bei virtuellen Netzwerkgütern die Möglichkeit einer Regulierung oft nicht, da es sich meist um sehr dynamische Industrien handelt. Dafür sind hier die kartellrechtlichen Problemkonstellationen umso ausgeprägter.

Netzwerkmärkte entwickeln eine besondere Dynamik

Eine dritte ökonomische Andersartigkeit von Netzwerkmärkten besteht in der besonderen Dynamik des Wettbewerbsprozesses: Netzwerkmärkte kippen zugunsten eines einzigen Standards um, sodass sie im Gleichgewichtszustand von einem einzigen Standard beherrscht werden.

Der Kunde eines kleinen Telefonnetzes beispielsweise hat bei Inkompatibilität einen Anreiz, zu dem größeren Netz zu wechseln, weil dort die Netzwerkeffekte größer sind. Durch den Wechsel aber verliert das kleine Netz an Netzwerkeffekten. Das große Netzwerk hingegen gewinnt überproportional an Wert hinzu. Dadurch jedoch erhöht sich der Wechselanreiz für die im kleinen Netz Verbliebenen. Weil niemand der Letzte im kleinen Netzwerk sein will – sein Telefon ist dann ja wertlos – beschleunigt sich der Wechselprozess, sodass der Markt schlagartig zugunsten des großen Netzes umkippt. Dabei verschwindet das kleine Netzwerkgut völlig vom Markt. Im Marktgleichgewicht beherrscht – bei Inkompatibilität – ein einziges Unternehmen den gesamten Markt und erhält alle Gewinne alleine.

Auch bei indirekten Netzwerkeffekten kippen Märkte um: Bei Videorekordern gab es ursprünglich zwei Standards, VHS und Betamax. Betamax galt als technologisch überlegen, verkaufte seine Rekorder zu Hochpreisen und lizenzierte seine Technologie nicht. VHS hingegen verkaufte seine Rekorder zu Niedrigpreisen und erteilte umfangreiche Lizenzen. Wegen der größeren Verbreitung entwickelte VHS stärkere Netzwerkeffekte, der Markt kippte um und Betamax verschwand völlig vom Markt – trotz technologischer Überlegenheit. Konsumenten, die in Betamax-Geräte investiert hatten, verloren ihre Investition. Auch Vinyl-Schallplatten sind als Musikträger plötzlich vollständig vom Markt verschwunden, als CDs eine kritische Masse erreicht hatten.

Diese Dynamik des Wettbewerbsprozesses in Netzwerkmärkten könnte für das Kartellrecht von geringerer Sorge sein, wenn dabei dynamischer Wettbewerb im Sinne des Modells des österreichischen Ökonoms J.A. Schumpeter (1883–1950) vorläge. Danach wird ein Innovator mit einem kurzzeitigen Monopol belohnt, bis der Markt zugunsten des nächsten Innovators, also der Nachfolgetechnologie umkippt.

Dies setzt allerdings voraus, dass der Wettbewerb um die Etablierung einer neuen Technologiegeneration nicht manipuliert oder gestört wird. Der Prozess des Umkippens kann jedoch strategisch manipuliert werden, und Netzwerkmärkte sind, wenn sie einmal umgekippt sind, träge und kippen nicht ohne weiteres zugunsten einer neuen Technologie. Eine neue Technologie hat zu Beginn nur kleine Netzwerkeffekte. Der Verzicht auf Netzwerkeffekte beim Wechsel zu einer neuen Technologie stellt Wechselkosten dar. Setzt sich die neue Technologie dann doch nicht durch, bleibt der Konsument, der frühzeitig zu der neuen Technologie gewechselt hat, auf seinen Geräteinvestitionen sitzen. Daher möchte kein Nutzer als erster von einem großen Netzwerk in ein kleines wechseln. Dieses so genannte Lock-In, in dem jede Änderung der aktuellen Situation unwirtschaftlich erscheint, erschwert einen Technologiewechsel. In Netzwerkmärkten ist eine Dominanzstellung daher oft dauerhafter als in klassischen Märkten. Hat sich ein Netzwerkunternehmen einmal im Markt etabliert, so wird sein hoher Marktanteil durch neu in den Markt eintretende Unternehmen kaum beeinflusst, solange ein Konkurrent nicht die kritische Masse erreicht, um den Markt vollständig zum Umkippen zu bringen.

Die Dynamik des Marktmechanismus ist gegenüber klassischen Märkten andersartig: In der Automobilindustrie beispielsweise existiert auch ein weltweiter Markt, jedoch wird er von mehreren Unternehmen versorgt, die um Marktanteile konkurrieren. Netzwerkunternehmen hingegen konkurrieren aggressiv um den Markt als Ganzes, damit er durch Etablierung einer neuen Technologie zu ihren Gunsten umkippt. Die Aussicht, alle Gewinne alleine abzuschöpfen, führt zu einem besonders scharfen Wettbewerb und stellt zugleich einen Anreiz dar, durch wettbewerbsschädigende Strategien einen auch nur temporären Wettbewerbsvorsprung zu erzielen, so dass der Markt zu Gunsten der eigenen Technologie kippt.

Kartellrecht greift nur in einem frühen Stadium der Marktentwicklung

Für die Anwendung des Kartellrechts in Netzwerkmärkten ergibt sich aus den skizzierten Andersartigkeiten der Marktmechanismen eine erhöhte Notwendigkeit der kartellrechtlichen Kontrolle:
Kartellbehörden müssen in Netzwerkmärkten frühzeitig gegen Marktmanipulationen einschreiten, da Wettbewerbsverstöße hier von größerer Auswirkung, lukrativer und wegen der Trägheit der Marktstruktur im Nachhinein schwerer zu korrigieren sind. Vor allem in Hinblick auf die dynamische Effizienz drohen erhebliche Wohlfahrtsverluste, wenn sich etwa aufgrund einer Manipulation des Prozesses des Umkippens von Märkten eine unterlegene Technologie durchsetzt. Aufgrund der Komplexität der Marktmechanismen ist in Netzwerkmärkten auch die Bandbreite für wettbewerbsschädigende Strategien größer. Wettbewerbsverhalten, das in klassischen Märkten kartellrechtlich unbedenklich ist, kann in Netzwerkmärkten zu Wettbewerbsschädigungen führen.

Kartellbehörden müssen in Bezug auf Netzwerkmärkte höchst komplexe Abwägungsprozesse bewältigen. Ein Verständnis der Marktmechanismen in Netzwerkmärkten und der Aufbau eines fallrechtlichen Erfahrungsschatzes kann diese Aufgabe erleichtern.

Eine besondere Wechselwirkung ergibt sich beim Zusammentreffen von Netzwerkeffekten mit Rechten geistigen Eigentums. Bei Informationsgütern, bei denen typischerweise Netzwerkeffekte auftreten, sind meist auch Rechte geistigen Eigentums von herausgehobener Bedeutung. Sie können insbesondere bei der Umsetzung einer Wettbewerbsstrategie wie beispielsweise einer Produktbündelung relevant sein.

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