Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Handwerksgelehrte oder Was für eine Wissenschaft ist Experimentalphysik?

Autoren
Sibum, H. Otto
Abteilungen

Experimentelle Wissenschaftsgeschichte (MPG) (PD Dr. H. Otto Sibum)
MPI für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Zusammenfassung
Um 1800 bildeten sich die „physikalischen Wissenschaften“ aus einem vielfach noch unbeachtet gebliebenen Wechselspiel heterogener praktischer Wissenstraditionen (mechanische Künste, Handwerk) heraus. Um 1900 entfachte die mittlerweile etablierte Experimentalphysik mittels neuer Techniken eine grundlegende Diskussion über die Grenzen sinnlicher Erfahrung in den Naturwissenschaften.

Erfahrung, Experiment, Theorie

Im Jahre 1923 verkündete der deutsche theoretische Physiker Felix Auerbach seinen Lesern, dass Experimentalphysiker im Unterschied zu Botanikern und Geologen die Natur nicht beobachten, sondern physikalische Phänomene eher künstlich in ihren Laboratorien schaffen. Er stellte die folgende, aus heutiger Sicht provokative These auf [1]: „Röntgenstrahlen sind gar keine ‚Naturerscheinung‛, es hat ja bis auf ‚Röntgen‛ gar keine gegeben, sie sind erst von ihm ‚erfunden‛ worden (dieser Ausdruck ist treffender als der übliche ‚entdeckt‛); und wenn sich vielleicht herausstellt, dass es auch in der Natur solche Strahlen gibt, so ändert das an dem grundsätzlichen der Frage gar nichts.“

Überlegungen dieser Art hinsichtlich des künstlichen Charakters eines Experiments oder genauer gesagt hinsichtlich wissenschaftlicher Erfahrungen, welche anhand von „künstlich und nach Willkür des Forschers hergestellten Phänomenen“ (Auerbach) gemacht werden, spiegeln nicht nur die Auerbachsche Auffassung von Experimentalphysik um 1900 wider. Sie sind vielmehr Ausdruck eines bis mindestens ins 17. Jahrhundert zurückreichenden historischen Wandlungsprozesses den Status von Experiment, Erfahrung und Theorie betreffend. Die selbständige Nachwuchsgruppe Experimentelle Wissenschaftsgeschichte sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Wandel dieses epistemologischen Beziehungsgeflechtes und markanten wissenschaftlichen Umbruchphasen, dessen Mikro-Dynamiken es in seinen historischen Dimensionen zu erschließen gilt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konzentrieren sich daher vornehmlich auf die Zeit von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum war man auf der Suche nach einem so genannten „dritten Mann“, der in der Lage wäre, die Kluft zwischen Theoretikern und Praktikern sowie Wissenschaft und Technik zu überwinden. Das Forschungsprojekt hat unter anderem zum Ziel, wichtige Entwicklungsstadien der Entstehung und Durchsetzung einer wissenschaftlichen Persona des Experimentators sowie der experimentellen Physik als akademische Disziplin darzustellen [2].

Physica Experimentalis oder die Kunst des Experimentierens

Seit der frühen Neuzeit existierte eine ganze Bandbreite von Lehrmeinungen in Bezug auf die „Kunst des Experiments“, von der völligen Negierung ihres epistemologischen Wertes bis hin zu der Überzeugung im 19. Jahrhundert, dass sie die einzig zuverlässige Art der Untersuchung von Naturphänomenen darstelle. Sehr umstritten war die Meinung, dass die physikalische Manipulation von Objekten jeglicher akademischer Forschungstradition entbehre, denn zu jener Zeit war insbesondere in Deutschland noch eine klare Trennung zwischen Theorie und Praxis vorherrschend. Im Jahre 1764 schließlich sprach sich der Philosoph Christian Wolff dafür aus, den Ingenieur als Mittler, gewissermaßen als „dritten Mann“ zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Theorie und Praxis zu betrachten [3].

In diesem Prozess der akademischen Etablierung der Experimentalphysik erfuhren ihre Protagonisten die Vor- und Nachteile der Position dieses dritten Mannes. Führten ihre auf Kopf- und Handarbeit fußenden Naturstudien zu einer spezifischen Wissensform? Und war dieses Wissen als wissenschaftlich zu bezeichnen? Wie immer man diese Frage beantwortete, hing von der damaligen Haltung hinsichtlich der impliziten Unterscheidung zwischen Wissen im Allgemeinen und wissenschaftlichem Wissen im Besonderen ab. Darüber hinaus war im Alltag des Wissenschaftlers das vorherrschende Verständnis von wissenschaftlichem Wissen als universell, unabhängig und dauerhaft zutiefst mit der Hegemonie des geschriebenen Textes verbunden. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts befreiten mehrere Generationen von experimentellen Naturphilosophen das Experiment von seinem epistemologischen Stigma und etablierten das aus diesem gewonnene Wissen als akademisch.

Die wichtigste Herausforderung der Experimentalisten gegenüber den textbasierten Wissenschaften war die Entwicklung und das Studium von Instrumenten, mit welchen man Naturerscheinungen untersuchen konnte. Besonders herausfordernd für die Experimentalphysik waren die neuen Gebiete Elektrizität und Magnetismus, da fast alle mit diesen Gebieten verbundenen Phänomene ausschließlich mithilfe von Instrumenten und Geräten erzeugt wurden. So betrachtete man beispielsweise die in einer elektrifizierten Vakuumröhre künstlich geschaffenen Illuminationen als Modelle für das Nordlicht, die Aurora Borealis (Abb. 1).

Solche Analogien wurden aber nicht nur zwischen makroskopischen Naturphänomenen und diesen künstlich hergestellten „physikalischen Phänomenen“ aufgestellt. Im späten 18. Jahrhundert gelang es dem italienischen Physiker Alessandro Volta, ein Modell des elektrischen Organs eines Torpedofisches zu bauen. Er erzeugte daran mikrophysikalische Phänomene, die das Vorhandensein von elektrischem Strom in der Natur als möglich und erklärbar erscheinen ließen (Abb. 2).

Heute ist uns dieses „künstliche elektrische Organ“ Voltas als die erste elektrische Batterie bekannt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führten zahlreiche, an künstlich erzeugten physikalischen Phänomenen gewonnene Erfahrungen, zu Kontroversen über die wahre Bedeutung und Tragweite dieser neuen Wissensbestände.

Trotz der mit diesen „neuen physikalischen Wahrheiten“ einhergehenden enormen praktischen Errungenschaften lebte der Konflikt bis ins 19. Jahrhundert fort. Handwerker, Kaufleute, Ingenieure, Instrumentenbauer und Wissenschaftler waren Akteure in einem komplexen historischen Prozess, in welchem die experimentell basierten „physikalischen Wissenschaften“ ausgeformt wurden. Handwerkliches Wissen wurde für die experimentellen Wissenschaften essentiell, aber dieses Expertenwissen errang nicht immer akademischen Status. Zunächst waren es die materiellen Interessen des Staates in industrieller und militärischer Hinsicht, welche letztendlich dazu führten, dass die Experimentatoren ihre Forschung vorantreiben und der traditionellen akademischen Schule die Einrichtung wissenschaftlicher Laboratorien abtrotzen konnten.

Der Terminus „Handwerksgelehrte“ entstand in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und spiegelt die Verschmelzung von Experimentatoren und Schriftgelehrten, die zuvor als Repräsentanten unterschiedlicher Wissenstraditionen gesehen wurden, zu einer Gemeinschaft von Experimentalwissenschaftlern wider. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden an fast allen europäischen und nordamerikanischen Universitäten Laboratorien eingerichtet, womit das materielle und institutionelle Pendant dieser neuen wissenschaftlichen Persona geschaffen war.

Handwerksgelehrte

Die Lehre veränderte sich ebenfalls in dieser Zeit. Es wurden Lehrstühle für Experimentalphysik gegründet, und eine erneute Diskussion wissenschaftlicher Methodologien entfachte. Die Physiker Hermann von Helmholtz und James Clerk Maxwell postulierten beispielsweise ein Verständnis von Induktion, welches die Gemeinsamkeiten zwischen der intellektuellen Arbeit des Experimentalphysikers und des Künstlers (Handwerkers) hervorhob. Beide erinnerten ihre Zuhörerschaft kontinuierlich daran, dass sich die Experimentalphysik von der traditionellen Gelehrsamkeit unterscheidet. Maxwell folgte dabei seiner generellen Überzeugung, „dass Fakten Dinge sind, die gefühlt werden müssen und nicht aus ihrer Beschreibung heraus erlernt werden können“. Entsprechend verkündete Helmholtz, dass den modernen Naturforschern das Wissen nicht nur aus Vorlesungen und Büchern zufließe, sondern insbesondere müssten ihre Sinne geschärft und die Hände geübt sein [4]. Sie wurden deswegen auch trefflich als „Handwerksgelehrte“ bezeichnet.

Helmholtz, Maxwell und andere stellten sinnliche Erfahrung in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und versuchten somit eine erste Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen. Doch die damit verbundene Frage nach der Quelle des Wissens war so keineswegs zweifelsfrei beantwortet. Die Idealisten sahen weiterhin die Vernunft, die Materialisten die sinnlich erfahrbare Welt als ausschließliche Quelle an. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veränderte die stetig steigende Anzahl von Techniken zur Untersuchung mikrophysikalischer Objekte wie Röntgenstrahlen und Elektronen die sinnlich erfahrbare Grundlage der Physik und führte erneut zu verschiedenartigen Überlegungen hinsichtlich dieser Wissensquellen. Insbesondere standen die schon von anderen erwähnte gegenseitige Bedingtheit dieser Erkenntnisquellen sowie der künstliche, technologische Charakter der Experimentalphysik zur Diskussion [5]. Physiker wie Felix Auerbach argumentierten daher, dass „die Physik der Methode (nicht dem Ziele) nach streng genommen überhaupt keine Naturwissenschaft [sei] ... ; sie behandelt gar keine Naturerscheinungen, sondern künstlich und nach Willkür des Forschers hergestellte Phänomene; und in diesem Sinne kann man sie geradezu als eine technische Wissenschaft bezeichnen“ [1].

Um 1900 praktizierten die Physiker fast ausschließlich diese technische Wissenschaft. Und dennoch sprach die Physikergemeinde nicht mit einer Stimme. Unterschiedliche Haltungen bezüglich des epistemologischen Status des Experiments und der sinnlichen Erfahrung für die Wissensproduktion existierten weiter. Der Experimentalphysiker und Direktor des Leipziger physikalischen Instituts Otto Wiener schlug vor, dass die auf der Grundlage von Instrumenten durchgeführte, physikalische Forschung als ein evolutionärer Prozess der Erweiterung der menschlichen Sinne betrachtet werden sollte. Verallgemeinerungen würden von sinnlichen Erfahrungen abgeleitet werden, und konsequenterweise müsste man Elemente der Theorie als „Erfahrung in zusammengedrängter Form“ betrachten.

Erfahrung in zusammengedrängter Form oder die Kunst des Theoretisierens

Auerbach nahm eine sehr ähnliche Haltung bei der Beschreibung der Praxis der theoretischen Physik ein. Für ihn war die Erfahrung immer Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis, allerdings nicht als Testverfahren für die Theorie, sondern als materielle Grundlage für das Aufstellen der Theorie selbst. Die hier implizierte Forderung, so argumentierte er, dass die theoretische Physik das Material für ihr allgemeines Fundament aus der Erfahrung (und nicht aus der Spekulation) nimmt, könnte nun den Eindruck aufkommen lassen, dass man sich hierbei in einen logischen Zirkelschluss verfange. Wie konnte man die Tatsachen der Erfahrung aus einem allgemeinen Schema ableiten und um dieses Schema zu gewinnen, sich an die Erfahrung halten?

Um seine Zuhörerschaft dennoch von der Richtigkeit seiner Argumentation zu überzeugen, verwies er auf die größte Erfindung des 19. Jahrhunderts im Bereich der elektrischen Maschinenbaukunst: die Dynamomaschine. „Sie kommt automatisch in Gang, und zwar (denn aus Nichts wird Nichts) auf Grund eines gegebenen Etwas, nämlich einer Spur von Magnetismus, wie sie jedem Eisen infolge seiner Bearbeitung und Lagerung innewohnt, eine Spur, die genügt, um schwache elektrische Ströme zu erzeugen, die dann alles weitere besorgen“ [6].

Auf ähnliche Weise wollten theoretische Physiker so viele Naturerkenntnisse wie möglich aus einem Minimum an (konkreter oder empirischer) Erfahrung gewinnen. Selbstverständlich könnten sie mit ein wenig Praxis die theoretische Physik aus der zusammengedrängten Erfahrung ihres Verstandes ableiten – doch nur unter der Voraussetzung, dass eine retrospektive Überprüfung ihrer Theorie an der empirischen gewonnen Erfahrung dieser nicht widersprach. Im Falle eines Widerspruchs müssten sie ihr abstraktes Gebäude umstrukturieren oder möglicherweise sogar durch ein neues ersetzen.

Auerbach unterschied diese Praxis des Theoretisierens von einer anderen Art der Theoriebildung in der Physik, welche die Idee verfocht, dass das Allgemeine nur aus der reinen Spekulation, „dem spekulativen Innern des Forschers“ abgeleitet werden kann: „Die reine Spekulation nimmt es [das Allgemeine] aus dem spekulativen Innern, sie konstruiert eine ideale Welt, erklärt sich für befriedigt, wenn die wirkliche Welt mit jener übereinstimmt, und geht, wenn sie die äußerste Konsequenz zu ziehen entschlossen ist, so weit, in Fällen des Widerspruchs zu erklären: die wirkliche Welt ist falsch, denn sie stimmt mit der idealen nicht überein“ [6]. Auf diese Weise bezog er klar Position gegen jene Auffassung einiger theoretischer Physiker, die der Ansicht waren, dass Theorie und Erfahrung als voneinander zu trennende Gebiete aufzufassen seien.

Um die Jahrhundertwende hatte sich die Experimentalphysik als ein mächtiger Zweig der Erfahrungswissenschaften herausgebildet. In Deutschland wurde der künstliche Charakter des Experimentierens als Erweiterung der menschlichen Sinne betrachtet. Neue Experimentaltechniken erweiterten den Erfahrungsraum der Physiker immens und die wissenschaftlichen Methoden und Ziele mussten neu überdacht werden. Es schürte zudem das Bedürfnis der Wissenschaftler der Suche nach vereinheitlichenden abstrakten Prinzipien. Die oben skizzierte Kontroverse zwischen den unterschiedlichen Auffassungen zur theoretischen Physik legt hierzu ein beredtes Zeugnis ab und bedarf weiterer grundlegender Untersuchungen.

Originalveröffentlichungen

F. Auerbach:
Entwicklungsgeschichte der modernen Physik.
Berlin 1923, S. 4/5.
H.O. Sibum:
Experimentalists in the Republic of Letters.
Science in Context 16 (1/2), 89–120 (2003).
C. Wolff:
Vorrede in Bernard Forest de Belidor, Architectura Hydraulica. Oder die Kunst, das Gewässer zu denen verschiedentlichen Nothwendigkeiten des menschlichen Lebens zu leiten, in die Höhe zu bringen, und vortheilhaftig anzuwenden.
Augsburg 1764, S. 2.
H. Helmholtz:
Ueber das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft.
Gesammelte Schriften, Band V.1., Vorträge und Reden, 4. Auflage, Braunschweig 1896.
J. Dietzgen:
Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit dargestellt von einem Handwerker. Eine abermalige Kritik der reinen und praktischen Vernunft.
Hamburg 1869.
F. Auerbach:
Die Methoden der theoretischen Physik.
Leipzig 1925.
Zur Redakteursansicht