Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften

Von der geburtsständischen zur Leistungsgesellschaft: Die Bibliotheken der Pariser Richter im 16. und frühen 17. Jahrhundert

Autoren
Cremer, Albert
Abteilungen
Zusammenfassung
Am Beispiel der obersten Richter am Pariser Parlament in der zweiten Hälfte des 16. und im frühen 17. Jahrhundert lässt sich sehr gut ein Schritt in der Entwicklung von der geburtsständischen zur Qualifikations- und Leistungsgesellschaft, die endgültig in der Französischen Revolution vollzogen wurde, beobachten. Unzufrieden mit ihrer Eingliederung in den Dritten Stand forderten sie eine Neustrukturierung von Staat und Gesellschaft. Ihr Lebensstil und ihre Bibliotheken bieten Aufschlüsse über den intellektuellen Hintergrund.

Ein Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Geschichte, das zunächst auf einen bildungsgeschichtlichen Aspekt einer vergangenen Epoche abzuzielen scheint, ist vielmehr bestrebt, einen der zentralen Prozesse der europäischen Entwicklung zu untersuchen. Hierbei handelt es sich um die Überwindung der grundsätzlich bis zur Französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Struktur der Gesellschaft. Deren soziale Ränge und die hiermit verbundenen Funktionen waren geburtsständisch definiert. Sie sollte abgelöst werden durch eine Gesellschaft, deren Eliten ihre Positionen durch Qualifikation und Leistung erworben hatten. Das dreigliedrige Gesellschaftssystem (Klerus, Adel, Dritter Stand) hatte über die Jahrhunderte seine Existenzberechtigung – militärischer Schutz und Produktion der Nahrungsmittel – weitgehend verloren. Der Adel nahm die militärische Funktion nur noch sehr eingeschränkt wahr, genoss aber dennoch größte Privilegien, und der Dritte Stand beschränkte sich nicht mehr auf Landwirtschaft und Handwerk.

Seit dem 13. und 14. Jahrhundert hatte zunächst die Entwicklung der norditalienischen Kommunen, dann die Herausbildung der Flächenstaaten mit dem Bedürfnis nach juristischer und administrativer Kompetenz die Juristen geradezu in eine Monopolstellung in der Leitung des Staates gebracht. Trotz der herausgehobenen Ämter verharrten sie, auch als sie sich zu einem „Amtsadel“ formierten, im Wesentlichen im Dritten Stand. Waren im Mittelalter die wichtigsten Vertreter der Gruppe bestrebt, in den Adel aufzusteigen, stand in der Neuzeit die Forderung nach einer Umstrukturierung des Gesellschafts- und Staatsaufbaus explizit auf der politischen Agenda der juristischen Staatsdiener. Sie konnte nach etlichen Unruhen und Rückschlägen schließlich im Zuge der Französischen Revolution durchgesetzt werden.

Eine der wichtigsten Phasen dieses Prozesses stellten in Frankreich die Bürger- und Religionskriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowie die Konsolidierung unter Heinrich IV. dar. Die großen Staatsdiener waren gelehrte Juristen und zugleich machterfahrene und -bewusste Mitglieder des „souveränen“ Gerichts, des Parlaments von Paris, die für sich in Anspruch nahmen, in Krisenzeiten Volk und Königreich zu repräsentieren. Sie gingen aus den Konflikten derart gestärkt hervor, dass sie im Jahr 1614 auf den Generalständen (einer Ständeversammlung, deren Hauptaufgabe die Steuerbewilligung war), ihren Anspruch durchzusetzen versuchten: die Ablösung des dreigliedrigen Systems zugunsten einer Herrschaft der juristischen Amtsträger. Das erschien möglich, da der Dritte Stand der Ständeversammlung mit Ausnahme eines einzigen Bauern aus Juristen bestand.

Eheverträge, Testamente und Nachlassinventare erschließen die Lebenswelt der Juristen

Diese Parlamentspräsidenten und -räte werden in dem Projekt sozialgeschichtlich analysiert, um so ihren sozialen und intellektuellen Hintergrund und Habitus zu erfassen. Eine Gruppe von Quellen erweist sich hierbei als besonders ergiebig. Es sind dies die Ehekontrakte, Testamente und Nachlassinventare, die in etwa einhundert Notariatskanzleien erhalten und heute im Minutier central des notaires de Paris zugänglich sind. Sie geben Auskunft über die Lebensverhältnisse der betrachteten Personengruppe, die Vermögen, die zumeist endogamen Eheverbindungen, die Versorgung der Kinder, die Ausstattung des Hauses, die Grundherrschaften, den luxuriösen Lebensstil und die Vermögensverwaltung. Der deutlichste Unterschied zwischen der Lebensweise dieses gelehrten und arbeitenden Amtsadels und dem höfischen Lebensstil des Schwertadels offenbart sich in den langen Bücherlisten der Nachlassinventare.

Die überlieferten Bibliotheksverzeichnisse spiegeln mehr als nur die intellektuellen Interessen der Buchbesitzer wider. Sie geben Auskunft über die universitäre Ausbildung, die religiösen Positionierungen, die berufliche Praxis und die politischen Vorstellungen. Die analysierten Bibliotheken umgreifen den Zeitraum von etwa 1550 bis 1630. Ihr Umfang variiert von sehr geringem Buchbesitz einiger Witwen bis hin zu großen Beständen von knapp 10.000 Bänden. Letztere waren in dieser Epoche die größten nordalpinen Buchbestände überhaupt. Auch ihr Zuschnitt war vielgestaltig: der königliche Buchbestand etwa oder der des Herzogs von Montmorency umfasste Bücher in luxuriöser Ausstattung, die vornehmlich der Repräsentation dienten, während die Buchsammlungen der Juristen eher praxisorientiert waren.

Buchbestände mit juristischem Schwerpunkt

Naturgemäß bildete die juristische Literatur einen Kernbestand der Bibliotheken. Da sie über Generationen kumulativ entstanden waren, finden sich in sehr vielen von ihnen die Textausgaben des römischen wie des kanonischen Rechts und der Kommentatoren in zahlreichen Ausgaben. Ihr Besitz war an der von den Parisern bevorzugten Paduaner Fakultät verpflichtend. Hinzu kamen die Werke der großen französischen Juristen des 16. Jahrhunderts. Obwohl in Paris die Coutume (Gewohnheitsrecht) der Vogtei und Vizegrafschaft die Basis für die Rechtsprechung bildete, die allerdings an den Universitäten nicht gelehrt wurde, fehlte bei einigen Richtern eine Ausgabe des Textes. Die allgemeine Ämterkäuflichkeit und -erblichkeit hatte auch im Kreis der obersten Richterschaft Spuren in den Bereichen Qualifikation und Leistung hinterlassen. Die Theologie war nur bedingt präsent, da zum einen während der Religionskriege der Besitz protestantischen Schrifttums untersagt war und zum anderen das Interesse an religiösen Fragen zugunsten des sich ausbreitenden Stoizismus erlahmt war (Schlagwort: Weder Rom noch Genf!).

Buchbestände mit klassischem und humanistischem Schwerpunkt

Die klassische und die humanistische Literatur nahmen besonders in den Nachlassinventaren bis 1590 einen sehr bedeutenden Raum ein. Das philologische Erbe der ersten Jahrhunderthälfte spiegelt sich hier wider. Die Schriften der antiken Autoren galten in jeder Hinsicht als vorbildlich, waren aber über die Jahrhunderte korrumpiert und bedurften intensiver Bearbeitung. Dazu benötigte man alte Handschriften, die, so dicht es eben möglich war, dem Original nahekamen. Mit ihrer Hilfe erarbeitete man immer wieder neue verbesserte Ausgaben der antiken Autoren. In einigen Bibliotheken der Richter gab es Sammlungen von mehreren hundert Handschriften, von denen die ältesten bis in das 5. Jahrhundert zurückreichten. Jeder aber besaß die griechischen und lateinischen Autoren in einer beachtlichen Vielzahl von Editionen.

Das philologische Interesse an der Antike wurde begleitet und abgelöst von einem zunächst antiquarisch-archäologischen, das jedoch sehr bald einen eminent politischen Charakter bekam. Was zunächst ein Liebhaberinteresse an Rom und dem Römischen Reich war, wurde bald zum „politischen Wissen“ (François Rabelais, 1532), zur „politischen Wissenschaft“ (Jean Bodin, 1576). Rom verkörperte den effizienten Machtstaat, es war das Vorbild, das es im eigenen Land wieder zu verwirklichen galt. Alle erreichbaren Werke zur antiken Geschichte wurden ebenso wie Darstellungen der Geschichte, Institutionen und Politik anderer Länder und Staaten gesammelt, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie das eigene Staatswesen optimal regiert werden konnte. Dies implizierte die Zurückdrängung moralischer Kategorien aus der Politik (Tacitismus), wie es auch erklärt, dass es während des so genannten Absolutismus zu einer nicht unproblematischen Verquickung von Exekutive und Rechtsprechung kam.

Ein weiterer Aspekt der nicht mehr repräsentativen sondern praxisorientierten Bibliotheken ist darüber hinaus bemerkenswert. Zwei der großen behandelten Bibliotheken wurden nach dem Tod ihrer Besitzer Claude Dupuy und Jacques-Auguste de Thou nicht zerstreut, sondern der gelehrten Welt „zu öffentlichem Nutzen“ (Testament de Thou, 1617) zur Verfügung gestellt. Später entwickelten die Söhne Dupuys hieraus die Vorstufe einer Akademie.

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