Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren: Erfolgsmodell berufliche Gymnasien in Baden-Württemberg

Transformation of the secondary school system and academic careers: The success of the vocational gymnasium in Baden-Württemberg

Autoren
Trautwein, Ulrich; Watermann, Rainer; Nagy, Gabriel; Luedtke, Oliver
Abteilungen

Erziehungswissenschaft und Bildungssysteme (Baumert) (Prof. Dr. Jürgen Baumert)
MPI für Bildungsforschung, Berlin

Zusammenfassung
Studien wie TIMSS oder PISA haben offenbart, dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland im internationalen Vergleich relativ schwache Leistungen erbringen und ein vergleichsweise geringer Prozentsatz von Schülerinnen und Schüler zur Hochschulreife geführt wird. Gerne wird für diese Ergebnisse das träge und antiquierte deutsche Schulsystem dafür verantwortlich gemacht, das sich der notwendigen Modernisierung widersetze. Die Schulleistungsstudie "Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren", kurz TOSCA, zeigt jedoch, dass es erfolgreiche Modernisierungstendenzen in unserem Schulsystem gibt, die dem Bedarf nach höherer Bildung in modernen Industrienationen Rechnung tragen - bei gleichzeitig zufriedenstellenden Leistungsergebnissen.
Summary
In educational studies such as TIMSS and PISA, German pupils have not measured up well against their counterparts in other countries. A relatively small percentage of them graduates from secondary school with a diploma that entitles them go to university. A sluggish, old-fashioned German school system, resistant to modernization, is thought to be the culprit. A study of school performance alled "Transformation of the secondary school system and academic careers" (TOSCA), however, shows that successful strides are being made toward modernizing our school system. Schools are responding to the need for higher-quality education in today's industrialized countries, and the pupils' performance is keeping pace.

Die allgemeine Hochschulreife ist in Deutschland die Eintrittskarte zur Universität. Der Weg zur Hochschulreife führt dabei für die meisten Abiturienten über die Oberstufe eines allgemein bildenden Gymnasiums. Im Zuge der Modernisierung des Sekundarschulsystems haben sich jedoch auch andere Zugangswege zur Hochschule etabliert, wobei gymnasiale Oberstufen an Gesamtschulen und berufliche Gymnasien (teilweise auch Fachgymnasien genannt) aufgrund ihrer Absolventenzahlen die wichtigsten Alternativen geworden sind.

In Baden-Württemberg spielen die beruflichen Gymnasien eine besondere Rolle im Bildungssystem: An diesen Gymnasien erwerben rund ein Drittel aller Abiturienten ihre Hochschulreife. Doch wie unterscheiden sich Schülerinnen und Schüler an beruflichen Gymnasien von denen, die ein allgemein bildendes Gymnasium besuchen? Wie fallen insgesamt die Leistungen in Baden-Württemberg im Vergleich mit dem bundesdeutschen Durchschnitt aus? Und wie setzen die Abiturienten ihre Ausbildung fort? Wer wird im Studium oder im Beruf besonders erfolgreich sein?

Solchen Fragen geht das Projekt "Transformation des Sekundarschulsystems und akademische Karrieren" (TOSCA) nach, das gemeinsam vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Lehrstuhl Pädagogische Psychologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wird. Die TOSCA-Studie ist als Längsschnittprojekt angelegt, das den Lebensweg von Abiturienten über einen Zeitraum von zehn Jahren verfolgen soll.

Insgesamt belegt die TOSCA-Studie, dass die beruflichen Gymnasien Baden-Württembergs in vielerlei Hinsicht ein Erfolgsmodell sind. Eine Reihe von Schülerinnen und Schülern, die nach der Grundschule eine Haupt- oder Realschule besucht haben, wechseln auf ein berufliches Gymnasium und absolvieren dieses mit Erfolg. In einigen anderen Bundesländern hätten sie dagegen nur über große Umwege das Abitur erwerben können. Und - wie im Folgenden ausgeführt - auch die Mathematikleistungen an beruflichen Gymnasien sind im Großen und Ganzen zufrieden stellend.

Mathematikleistungen im Vergleich

Im täglichen Leben "löst" man oft unbemerkt mathematische Probleme: Wechselgeld nachrechnen, für eine Grillparty die benötigte Menge an Speisen und Getränken zusammenstellen oder die Eigenheimfinanzierung durchplanen. All dies sind Beispiele für praktische Herausforderungen, die sich im Schwierigkeitsgrad natürlich unterscheiden. In der Schule werden solche alltagsrelevanten mathematischen Fähigkeiten, die man auch mathematische Grundbildung nennt, intensiv eingeübt. Dabei bleibt es aber nicht. Während der gymnasialen Oberstufe werden darüber hinaus auch akademische Kompetenzen vermittelt, auf denen dann viele Studiengänge aufbauen. Eine Untersuchung im Rahmen der großen Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) ergab, dass Hochschullehrer mathematische Kompetenzen auf Oberstufenniveau als wichtige Voraussetzungen für ein erfolgreiches Studieren einschätzen. Allerdings ist Studienfach nicht gleich Studienfach. Während für Ingenieurswesen oder Physik mathematische Fähigkeiten offenkundig wichtig sind, wird in anderen Studiengängen wie zum Beispiel in Betriebswirtschaftslehre oder Psychologie die Mathematik nur als Hilfswissenschaft herangezogen oder spielt sogar, wie in Kunstgeschichte oder Literaturwissenschaft, gar keine Rolle mehr.

Da die Alltagsmathematik sich stark von den mathematischen Inhalten der gymnasialen Oberstufe unterscheidet, wurden mathematische Fertigkeiten in TOSCA mit zwei verschiedenen Leistungstests aus der TIMS-Studie gemessen. Der erste Test erfasste die mathematische Grundbildung, der zweite Test untersuchte, inwieweit die Inhalte der Oberstufenmathematik beherrscht wurden. Beide Tests wurden bereits im Rahmen der TIMS-Studie bei Abiturienten aus ganz Deutschland eingesetzt. So lassen sich die Leistungen der Abiturienten in Baden-Württemberg mit den Leistungen von Abiturienten aus anderen Bundesländern beziehungsweise Schülern aus anderen Ländern dieser Erde vergleichen.

Mathematische Grundbildung

Abbildung 1 zeigt die mittleren Leistungen im Test zur mathematischen Grundbildung, die verschiedene Schülergruppen erreicht haben: zum einen die durchschnittlichen Leistungen an gymnasialen Oberstufen, die in TIMSS im Schuljahr 1995/1996 gemessen wurden; zum anderen die mittlere Leistung in Baden-Württemberg aus der TOSCA-Studie insgesamt, sowie ergänzend für allgemein bildende und berufliche Gymnasien. Ein Skalenwert von 500 entspricht dem internationalen Leistungsdurchschnitt.

Wie in der Abbildung zu erkennen ist, gibt es leichte Unterschiede zwischen den betrachteten Schülergruppen. Die an TIMSS beteiligten deutschen Oberstufenschüler erzielen im Mittel 548 Punkte, die in TOSCA getesteten beruflichen Gymnasiasten erreichen 552 Punkte und die Leistungen an allgemein bildenden Gymnasien liegen im Mittel bei 562 Punkten. Obwohl die Schülerinnen und Schüler an allgemein bildenden Gymnasien in Baden-Württemberg etwas bessere Leistungen in diesem Test erreichen als die am beruflichen Gymnasium, sind die Unterschiede insgesamt eher gering. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Schülerinnen und Schüler im Test zur mathematischen Grundbildung gut abschneiden und über gute alltagsrelevante mathematische Kompetenzen verfügen.

Oberstufenmathematik

Welche Leistungen wurden nun im Test zur Oberstufenmathematik erreicht? In Abbildung 2 sind die Mittelwerte der untersuchten Gruppen zusammengefasst.

Verglichen mit dem bundesdeutschen Durchschnitt zeigt sich hier ein deutlicher Vorsprung der Teilnehmer aus Baden-Württemberg. Ihre Leistung ist um 33 Punkte höher (487 Punkte). Trotzdem befinden sich die Testleistungen der Abiturienten aus Baden-Württemberg unter dem internationalen Durchschnittsniveau. Der Vorsprung gegenüber dem bundesdeutschen Durchschnitt ist vor allem auf die Schülerinnen und Schüler an allgemein bildenden Gymnasien zurückzuführen. Mit einer mittleren Testleistung von 505 Punkten übertreffen sie den deutschen Durchschnitt um 51 Punkte. Die mittlere Mathematikleistung an beruflichen Gymnasien entspricht dem bundesrepublikanischen Durchschnitt, wobei vor allem die Schülerinnen und Schüler an technischen Gymnasien sehr gute Leistungen vorweisen konnten.

Bei der Bewertung dieses Befunds muss man bedenken, dass ein Großteil der Schülerschaft an beruflichen Gymnasien bis zum Ende der zehnten Klasse die Realschule besucht hat und im Vergleich zu den Gymnasiasten zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich einen weniger anspruchsvollen Mathematikunterricht erhalten hat. Trotz des Leistungsrückstands am Ende der Sekundarstufe I gelingt es beruflichen Gymnasien im Großen und Ganzen, ihre Schülerschaft auf das durchschnittliche bundesdeutsche Niveau in der Oberstufenmathematik zu heben.

Resümee

Insgesamt gesehen entsprechen die durchschnittlichen Leistungen in Mathematik von Abiturienten an beruflichen Gymnasien Baden-Württembergs also denen, die in den übrigen Bundesländern im Mittel von Abiturienten an allgemein bildenden Gymnasien erreicht werden. Im Vergleich mit den Leistungen an allgemein bildenden Gymnasien in Baden-Württemberg fallen die Leistungen an beruflichen Gymnasien allerdings geringer aus. Außerdem konnte in weiteren Analysen beobachtet werden, dass an allgemein bildenden Gymnasien strenger benotet wird. Dies sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass mit beruflichen Gymnasien eine wichtige, attraktive Öffnung von Wegen zur Hochschulreife geschaffen wurde, die in mancherlei Hinsicht Vorbildcharakter haben könnte.

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