Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Chemie

Synthese von polymerem Stickstoff

Autoren
Eremets, Mikhail I.; Gavriliuk, Alexander G.; Trojan, Ivan A.; Boehler, Reinhard
Abteilungen
Zusammenfassung
Wir berichten hier über eine allotrope Modifikation von Stickstoff, in der die Atome durch einfache kovalente Bindungen miteinander verbunden sind, ähnlich den Kohlenstoffatomen im Diamant. Stickstoff besteht bei Normalbedingungen aus Molekülen, in denen zwei Atome durch eine starke Dreifachbindung miteinander verbunden sind. Die neue Substanz wurde in einer lasergeheizten Diamantstempelapparatur bei Temperaturen oberhalb von 2000 K und Drücken oberhalb von 110 GPa (ca. 1,1 Millionen Atmosphären) direkt aus molekularem Stickstoff synthetisiert. Mithilfe von Röntgenbeugungs- und Raman-Untersuchungen konnten wir sie als polymeren Stickstoff mit der vorhergesagten „cubic gauche“-Struktur (cg-N) identifizieren. Diese kubische Phase wurde vorher bei keinem anderen Element beobachtet. Das neue Material ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine sehr harte Substanz mit einem gemessenen Kompressionsmodul von ≥300 GPa, charakteristisch für kovalente Feststoffe. Dieser polymere Stickstoff ist metastabil, und unterscheidet sich vom früher beschriebenen amorphen nichtmolekularen Stickstoff, welcher wahrscheinlich eine Mischung kleiner Cluster von nichtmolekularen Phasen ist. Der cg-Stickstoff gehört zu einer neuen Klasse von einfach gebundenen Stickstoff-Substanzen mit einzigartigen Eigenschaften wie z.B. dem hohen Energieinhalt: Dieser ist mehr als fünfmal so hoch wie der anderer hochenergetischer Materialien, z.B. Sprengstoff.

Einleitung

Die Arbeitsgruppe Hochdruck-Mineralphysik hat in den letzten Jahren vor allem Metall- und Mineralphasengleichgewichte und thermodynamische Zustandsgrößen bei Druck- und Temperaturbedingungen des tiefen Erdmantels und des Erdkerns (bis 2 Millionen Atmosphären und 5000 °C) untersucht. In jüngerer Zeit kam als weiteres Arbeitsgebiet die Synthese neuer Materialien bei hohen Drücken und Temperaturen hinzu. Vor kurzem gelang hier die Darstellung einer neuen Form von Stickstoff.

Unter Normalbedingungen liegt Stickstoff in Form von N2-Molekülen vor, in denen die beiden Stickstoffatome durch eine extrem starke Dreifachbindung miteinander verbunden sind. Das führt dazu, dass Stickstoffmoleküle unter diesen Bedingungen sehr stabil und reaktionsträge sind. Bei hohen Temperaturen kann Stickstoff jedoch mit anderen Substanzen reagieren. In der industriellen Anwendung des so genannten Haber-Bosch-Verfahrens zum Beispiel reagiert Stickstoff bei 400 bis 450 °C und einem Druck von 200 atm in Gegenwart von Katalysatoren mit Wasserstoff zu Ammoniak. Auch in der Natur wird Stickstoff unter anderem durch Bakterien oder elektrische Entladungen zu Stickstoffverbindungen umgesetzt. Die industriell erhaltenen Stickstoffverbindungen bilden die Grundlage für die Herstellung von Düngemitteln und verschiedenen lebenswichtigen Substanzen. Stickstoff kann auch Verbindungen mit hohem Energiegehalt bilden wie zum Beispiel den bekannten Sprengstoff Nitroglycerin. Der Energieunterschied zwischen der N-N-Dreifachbindung (945 kJ/mol) und einer Einfachbindung (160 kJ/mol) ist extrem hoch, sodass Stickstoff, in dem die Atome durch Einfachbindungen miteinander verknüpft sind, der stärkste nichtnukleare Energieträger wäre. Bis jetzt sind nur einige wenige mehratomige Formen von Stickstoff bekannt, zum Beispiel das Azid-Ion N3 oder das N5+-Ion in Form des Salzes N5+AsF6. Berechnungen zeigen, dass verschiedene Cluster von Stickstoffatomen metastabil sein können. Experimentell beobachtet als freie gasförmige oder in einer Matrix isolierte Ionen oder Radikale wurden bis jetzt jedoch nur einige Spezies wie N3 und N4 Cluster.

Schon vor 20 Jahren jedoch ergaben theoretische Berechnungen, dass es möglich sein sollte, molekularen Stickstoff bei hohem Druck vollständig zu einer einfach gebundenen Form mit kristalliner Struktur umzuwandeln. In einem solchen dreidimensionalen Netz wären die Atome ähnlich wie beim Diamanten durch einfache kovalente Bindungen miteinander verknüpft. Als Gitterstruktur dieses „polymeren Stickstoffs“ wurde eine ungewöhnliche kubische Struktur, die so genannte „cubic gauche“-Struktur, vorgeschlagen. Der theoretisch berechnete Umwandlungsdruck zu einfach gebundenem Stickstoff liegt bei weniger als einem Mbar (1 Million Atmosphären), ein Druck, der in Diamantstempelapparaturen gut erreicht werden kann. Trotzdem konnte polymerer Stickstoff unter diesen Bedingungen nicht experimentell beobachtet werden.

Versuchsprinzip und Experiment

Erst im Jahre 2001 konnten die Wissenschaftler der Hochdruckgruppe durch simultane Anwendung von hohem Druck und hoher Temperatur eine Umwandlung von Stickstoff bei einem wesentlich höheren Druck von etwa 2 Mbar beobachten. Die grundlegenden Eigenschaften dieser augenscheinlich nicht molekularen Phase sind in Übereinstimmung mit den theoretischen Vorhersagen. Die Phasenumwandlung zeigt eine ausgeprägte Hysterese, sodass das Gleichgewicht für die Umwandlung in Übereinstimmung mit der Theorie bei etwa 1 Mbar liegt. Die interessanteste Eigenschaft der so erhaltenen Form des Stickstoffs ist seine Metastabilität: Der nichtmolekulare Stickstoff konnte in dieser Form bei Temperaturen unterhalb 100 K und Druckerniedrigung bis auf Normaldruck beobachtet werden. Im Gegensatz zu den theoretischen Vorhersagen zeigen Röntgenuntersuchungen und optische Daten jedoch, dass dieser nichtmolekulare Stickstoff in einem ungeordneten amorphen Zustand vorliegt. Bei dem Versuch, diesen ungeordneten Stickstoff unter Druck durch Erhitzen auf hohe Temperaturen zur Kristallisation zu bringen, beobachteten wir aber stattdessen eine direkte Umwandlung von molekularem Stickstoff zu einer neuen transparenten Phase, die sich als der lange gesuchte polymere Stickstoff erwies.

Zur Synthese dieses polymeren Stickstoffs waren Temperaturen oberhalb 2000 K und Drücke von mehr als 110 GPa erforderlich (1 GPa entspricht etwa 10 000 atm). Diese hohen Werte konnten durch einen neuen Aufbau der Diamantstempelapparatur erreicht werden (Abb. 1). Die Apparatur wurde speziell entworfen für Röntgenbeugungsmessungen an kleinen Stickstoffproben bei Drücken bis zu 170 GPa (Stickstoff ist ein leichtes Element und streut die Röntgenstrahlung nur schwach). Durchgeführt wurden die Röntgenbeugungsmessungen an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble. Beim Aufheizen der Probe auf die entsprechend hohen Temperaturen diente Bor als Absorber für die hochenergetische Laserstrahlung; die Wellenlänge des Laserlichtes betrug 1,064 µm. Hierbei ist es wichtig, dass Bor die Röntgenstrahlung nur sehr schwach streut und das Signal, wie es von einem 1 µm dicken Plättchen erhalten wird, das Stickstoffspektrum nicht beeinflusst. Außerdem würde Bor, wenn es mit Stickstoff bei hohen Temperaturen reagieren würde, kubisches Bornitrid (BN) bilden, welches eindeutig charakterisiert ist und so leicht zu erkennen wäre.

Struktur und Kompressibilität der neuen Stickstoffmodifikation

Polymerer Stickstoff wurde in sechs Versuchsdurchgängen synthetisiert, wobei der Druck schrittweise erhöht, der Stickstoff jeweils erhitzt, und nach dem Erhitzen das Raman-Spektrum der Substanz gemessen wurde. Bei Drücken über 110 GPa und Temperaturen über 2000 K verschwindet eine Bande im Raman-Spektrum, welche das Vorhandensein von molekularem Stickstoff anzeigt (Vibron-Peak), und eine neue Raman-Bande bei deutlich niedriger Frequenz tritt auf (Abb. 2). Dies zeigt, dass offensichtlich ein Übergang von molekularem Stickstoff zu einer neuen kristallinen Phase stattfindet, deren Struktur wir mithilfe von Röntgenbeugungsmessungen bestimmt haben. Die gemessenen Beugungsdiagramme konnten für die erwartete „cubic gauche“-Struktur von Stickstoff (cg-N) mithilfe einer Rietveld-Verfeinerung angepasst werden (Raumgruppe I213, a0 = 3,4542 Å, Atomlage 8a, x = 0,067). Andere vorgeschlagene polymere Strukturen wie zum Beispiel die des schwarzen Phosphors oder auch eine einfach kubische Struktur oder die Diamantstruktur konnten ausgeschlossen werden. Auch stammen die beobachteten Beugungslinien nicht vom Bor aus dem Absorber. Die cg-N-Struktur ist schematisch in Abbildung 3 gezeigt. Alle Stickstoffatome sind dreifach koordiniert und die Bindungslängen sind für alle Paare von gebundenen Atomen gleich. Bei einem Druck von 115 GPa beträgt die Bindungslänge 1,346 Å. In einer Reihe von Kontrollexperimenten konnte gezeigt werden, dass der beobachtete neue Raman-Peak eindeutig dem cg-N zuzuordnen ist und nicht dem Gasket, dem Absorber oder einem Produkt einer eventuellen Reaktion von Stickstoff mit dem Diamanten.

Diese experimentellen Ergebnisse bestätigen somit Rechnungen, die die cg-Struktur als die energetisch günstigste für polymeren Stickstoff vorhergesagt haben. In der neuen allotropen Modifikation von Stickstoff sind die Atome durch kovalente Einfachbindungen verknüpft, ähnlich wie die Kohlenstoffatome eines Diamanten. Unseres Wissens wurde diese ungewöhnliche kubische Phase vorher noch bei keinem Element und wahrscheinlich auch bei keiner Verbindung je beobachtet. Andererseits zeigt das Hydrazin-Molekül N2H4, dass diese Struktur für gerichtete Einfachbindungen von Stickstoff zu erwarten war. Die theoretisch berechneten Eigenschaften der cg-N-Phase sind in guter Übereinstimmung mit den Beobachtungen.

Weiterhin wurden die Gitterparameter der cg-N-Struktur bei abnehmendem Druck bis 42 GPa bestimmt. Die im Bereich 42 bis 134 GPa gemessenen Werte wurden mit der Birch-Murnaghan-Zustandsgleichung angepasst und auf einen Druck von Null extrapoliert. Der Kompressionsmodul B0 der Substanz liegt im Bereich von 300 bis 340 GPa. Ein derart hoher Wert von B0 ist charakteristisch für Feststoffe mit starken kovalenten Bindungen (z. B. B0 = 365 GPa für kubisches BN), sodass davon ausgegangen werden kann, dass auch cg-N ein harter Feststoff ist.

Ist diese neue hochenergetische Modifikation von Stickstoff bei Normalbedingungen stabil?

Weitere Untersuchungen zeigten, dass die cg-N-Phase bei Raumtemperatur oberhalb von 42 GPa metastabil ist. Bei 42 bis 50 GPa geht cg-N in eine molekulare Phase über, wenn es bei schwacher Leistung (einige mW) mit Laserlicht bestrahlt wird. Versuche, cg-Stickstoff bei niedriger Temperatur zu erhalten, scheiterten, da unterhalb von 25 GPa die Probe infolge eines Bruchs des Gaskets verloren ging. Derartige Brüche kommen häufig vor und werden durch eine inhärente Schwächung des Gaskets bei abnehmendem Druck verursacht. Um die Probe bei Normaldruck zu erhalten, muss somit eine neue Technik entwickelt werden. Dies dürfte von besonderem Interesse für theoretische Untersuchungen und potenzielle Materialanwendungen sein. Sollte cg-N bei Normaldruck nicht metastabil sein, könnte es eventuell in Form einer Verbindung oder durch das Einfügen von Verunreinigungen stabilisiert werden.

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