Forschungsbericht 2003 - Kunsthistorisches Institut in Florenz - Max-Planck-Institut

Politische Ikonographie der italienischen Stadtstaaten: Der Fall Lucca

Autoren
Seidel, Max
Abteilungen
Zusammenfassung
Das Projekt untersucht am Beispiel der Stadt Lucca die politische Ikonographie eines mittelitalienischen Stadtstaates. Im Gegensatz zur bisherigen Erforschung politischer Ikonographie wird hier aber kein eng begrenzter Zeitabschnitt untersucht, sondern erstmals ein sehr weit gefasster Zeitraum von über einem Jahrtausend vom 9. bis zum 20. Jahrhundert. Auf diese Weise werden sehr viel differenziertere Aussagen zum politischen und historischen Selbstverständnis möglich. Anders als in anderen italienischen Stadtstaaten gab es in Lucca keine besonders stark entwickelte, nach außen gewandte Propaganda. Die Untersuchung dieses Phänomens einer bewusst "verhüllten politischen Ikonographie" führt zu überraschenden Ergebnissen.

In der Kunstgeschichtsforschung beobachtet man ein immer stärkeres Interesse an der Methode der politischen Ikonographie. In Italien wurde diese Praxis der Erforschung des politischen Gehalts von Aussagen über Inhalt und Symbolik von Kunstwerken bisher in erster Linie am Beispiel von Stadtstaaten erprobt, die sich durch ein hohes Maß an politischer Propaganda auszeichnen. Innerhalb der Toskana-Forschung gelten als mit besonderem Erfolg erforschte Musterbeispiele: die Pisaner Dombauten (11. und 12. Jahrhundert) als Denkmal der Kreuzzugspropaganda und somit letztlich der Pisaner Expansionspolitik im Mittelmeerraum; die Regierungszeit der "Nove" in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Siena (der weltberühmte, den Idealstaat versinnbildlichende Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti in der "Sala della Pace" des Sieneser Rathauses sowie der in mehreren Etappen erfolgte Um- und Neubau des Sieneser Doms als kommunale und deshalb direkt vom Stadtstaat finanzierte Ruhmestat); die Herrschaft der Medici im Florenz des 16. Jahrhunderts (unter anderem ikonologische Neuinterpretation der Räume des Palazzo Vecchio).

Am Kunsthistorischen Institut (KHI) in Florenz beschäftigt sich ein vor einigen Jahren gemeinsam mit dem Kunsthistoriker und Archivar Romano Silva begonnenes Forschungsprojekt mit dem toskanischen Stadtstaat Lucca. Das Lucca-Projekt unterscheidet sich in methodischer Hinsicht von den genannten Musterbeispielen vor allem in zwei Aspekten. Erstens wird nicht ein begrenzter Zeitraum oder eine bestimmte Herrschaftsform, sondern die "ganze Geschichte" im Zeitraum von über einem Jahrtausend von den Karolingern im 9. Jahrhundert bis zu Mussolini in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erforscht. Der historische Längsschnitt ermöglicht eine genauere Erkenntnis der Kontinuität der politischen Leitideen. Kontinuität im politischen und historischen Selbstverständnis (und folglich auch in der politischen Ikonographie) war für einen Stadtstaat wie Lucca von primärer Bedeutung. Als einziger Staat in Mittelitalien hatte Lucca seine Freiheit trotz der drohenden Umklammerung durch die die Toskana dominierende Medici-Herrschaft bis in napoleonische Zeit bewahren können.

Im Zentrum von Politik und politischer Ikonographie stand über viele Jahrhunderte eine in Lucca neu erdachte Freiheitsideologie, die sich auf höchste, die Kommunalpolitik jedoch nicht beeinflussende Mächte berief. Im Bild des "Christus imperator" ("Volto Santo") ehrte man dessen Spiegelbild: die transzendentale Autorität des über die Freiheit Luccas wachenden, ja diese förmlich staatsrechtlich garantierenden Kaisers. Weitere ikonographische Sinnbilder warnten vor der Gefahr eines Umsturzes, vor allem vor der Errichtung der als Tyrannei bezeichneten Herrschaft einer Familie (analog den Vorgängen in Florenz und in den meisten Stadtstaaten in Oberitalien, mit Ausnahme von Venedig). An diese Darstellung des ideologischen Kerngedankens schließen sich in den Forschungen des KHI eine Fülle thematisch weit ausgreifender Untersuchungen an, die hier mit Nennung der einzelnen Kapitelüberschriften eines Buchprojektes zumindest angedeutet seien: "Il Lucchese a cavallo e San Martino", "Luoghi del potere", "Altari e patronato", "Satira musicale", "Il trionfo di Cesare", "Due spade", "Il difficile pantheon degli eroi".

Der zweite neuartige Aspekt dieser Forschungen betrifft den Zusammenhang von politischer Ikonographie und politischer Propaganda. Wie die eingangs genannten Musterbeispiele zeigen, schien politische Ikonographie bisher allein auf der Grundlage einer besonders stark entwickelten Propaganda erforschbar zu sein. In Lucca hingegen war politische Propaganda verpönt, ja zeitweise ausdrücklich untersagt. So präsentierte sich beispielsweise der Luccheser Gesandte vor dem französischen Marschall Lautrec mit dem Bekenntnis, das effektiv wirtschaftlich und finanziell sehr starke Lucca sei so klein und so machtlos, dass die Großmächte diesen Staat doch bitte lieber übersehen möchten ("siamo noi minimi"). Der beste Interpret der Luccheser Geschichte, der renommierte Historiker Marino Berengo, nannte als das wesentliche Merkmal Luccheser Diplomatie den Wunsch, möglichst unsichtbar zu bleiben. Die politische Ikonographie Luccas richtete sich folglich nicht in propagandistischer Weise nach außen, sondern ausschließlich zur Stärkung des politischen und historischen Selbstbewusstseins an die eigenen Bürger. Dieses Phänomen einer "verhüllten politischen Ikonographie" erfordert einen neuen Forschungsansatz und ein neues methodisches Instrumentarium als Mittel zur Aufdeckung bewusst verhüllter Sinnschichten. Das Resultat ist verblüffend: Die bisher nicht wahrgenommene politische Ikonographie Luccas zeigt jetzt einen den berühmten Beispielen in Florenz, Siena und Pisa mindestens ebenbürtigen Gedankenreichtum.

Im weiteren Sinn zielt dieses Projekt auf eine umfassende Darstellung der politischen Ikonographie der italienischen Stadtstaaten. Dieses Ziel ist nach meiner Erkenntnis allein durch die genaue Erforschung einzelner Fallbeispiele erreichbar, die schließlich in der Zusammenfassung das erstrebte Gesamtwerk ergeben. Es handelt sich jeweils um sehr singuläre Fälle, die mit einem zielgenau eingesetzten, methodisch breiten Instrumentarium möglichst umfassend erforscht werden müssen. Im Fall Lucca galt es ein immens reiches, zum größten Teil noch nie bearbeitetes Quellenmaterial zu sichten. Mehr als zehntausend über ganz Europa von Böhmen bis zur Niederlausitz verstreute Schriftstücke, vor allem jedoch im Luccheser Staatsarchiv bewahrte Dokumente von einem Reichtum, von dem deutsche Archivare nur träumen können, wurden analysiert. Diese Baustein für Baustein zu einem Gebäude aufschichtende Methode bewahrt vor falschen Schlüssen, die ein allzu schnelles Vorpreschen in Richtung auf einen flüchtigen Gesamtüberblick zwangsläufig kennzeichnen würde. Die Methode hat bereits Vorbildcharakter: Kompetente italienische Kolleginnen und Kollegen aus der Werkstatt der "Scuola normale superiore di Pisa" (ein Äquivalent der Pariser "École normale supérieure") beispielsweise denken an eine Erforschung der politischen Ikonographie des Stadtstaates Padua.

Literatur

[1] M. Seidel: Dolce libertà - Iconografia politica a Lucca. Marsilio, Venedig 2004 (mit englischsprachiger Ausgabe).

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