Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Seewiesen)

Zeitabschätzen bei Putzerfischen

Autoren
Salwiczek, Lucie H.
Abteilungen
Zusammenfassung
Kognitives Zeitabschätzen wird bisher vor allem im Bereich von Sekunden bis zu wenigen Minuten untersucht. Oft aber reichen für Individuen wichtige Zeitabstände darüber hinaus. Es fehlen allerdings sowohl Daten als auch Modellvorstellungen darüber, wie Tiere diese größeren Zeitabstände lernen können. Ein mariner Putzerfisch lieferte nun das erste Beispiel dafür, dass ein nicht-warmblütiges Wirbeltier in der Lage ist, gleichzeitig mehrere Zeitintervalle bis mindestens 15 min ohne Hilfsmittel, also kognitiv, abzuschätzen.

Zeitlichen Änderungen der ökologischen und gegebenenfalls sozialen Umwelt sind alle Lebewesen ausgesetzt. Tiere, die sich auf zeitliche Regularitäten einstellen können, haben gegenüber solchen, die nicht über diese Fähigkeit verfügen, einen Vorteil. Das Handeln nach konstanten Periodizitäten wird am einfachsten genetisch kodiert und damit über Generationen hinweg weitergegeben; nur die Feinabstimmung muss ein Indiviuum selbst leisten. In einer nicht voraussagbaren variablen Umwelt hingegen ist es vorteilhafter, wenn jedes Individuum die für sich aktuellen Zeitintervalle in einem bestimmten Kontext lernen kann. Für Kognitionswissenschaftler sind vor allem diese gelernten Zeitintervalle interessant, wobei das Intervall im Gehirn ohne externe (z. B. Sonne, Uhr) oder innere (stoffwechselphysiologische) Hilfsmittel abgeschätzt werden soll (genannt: cognitive timing).

Tiere und Menschen zeigen ein erstaunlich breites Spektrum an Verhaltensweisen, die verknüpft sind mit der Fähigkeit, einen (oder mehrere) Zeitpunkt(e) im Tagesverlauf oder ein Zeitintervall auf der Skala von Millisekunden bis zu mehreren Tagen abzuschätzen. Psychologen, (Neuro-)Biologen und Mediziner zum Beispiel konzentrieren ihre Untersuchungen erstaunlicherweise auf zwei nicht zusammenhängende Bereiche der Skala: Die einen auf den wenige Stunden- bis Tage-Bereich (circadian timing system), die anderen auf den Sekunden- bis wenige Minuten-Bereich. Die Literatur über timing ist gewaltig, dennoch finden sich nur wenige Daten über das Abschätzen von 5-15-min-Intervallen, für Zeitintervalle darüber hinaus, bis zu einer Stunde, fehlen sie fast gänzlich. Vor allem aber fehlen die theoretischen Modelle für das Abschätzen dieser mittleren Zeitintervalle.

Die Arbeitsgruppe von Lucie H. Salwiczek am MPI für Verhaltensphysiologie hat begonnen, bei Tieren und Menschen Daten für das Abschätzen von gelernten Intervallen im Bereich von Minuten bis zu mehreren Stunden (und zwar unabhängig von der Tagesperiodik!) zu erheben. Die ersten vielversprechenden Ergebnisse kommen vom marinen Putzer-Lippfisch Labroides dimidiatus. Die bis zu 15 cm großen Lippfische unterhalten so genannte Putzerstationen; dorthin kommen Fische verschiedenster Art von nah und fern, um sich Ektoparasiten entfernen zu lassen. Labroides hat komplexe soziale Fähigkeiten entwickelt, wie sie aus der Natur noch von keinem nicht-menschlichen Primaten bekannt sind [1]. Dazu gehören eine unerwartete Individuenkenntnis für ihre Putzkunden, ein erstaunliches buchführendes Gedächtnis für bisherige Begegnungen mit einzelnen von ihnen; vielerlei Tricks, ihre Kunden zu betrügen sowie wieder zu beschwichtigen; und nicht zuletzt das Manipulieren der Entscheidungen ihrer Kunden. Putzerfische berücksichtigen sogar, ob Zuschauer – potenzielle Kunden – anwesend sind, die sich über ihr Verhalten ein Bild machen. Die Verhaltensbiologen stellten nun die Frage, ob in den Interaktionen zwischen Putzerfisch und Kunden auch zeitliche Komponenten eine Rolle spielen.

Die Wissenschaftlerin und ihre Kollegen haben dazu Versuche in Meerwasseraquarien gemacht. Putzer wurden einzeln gehalten und daran gewöhnt, von Plexiglasplatten zu fressen. Die Plexiglasplatten ersetzten Kunden verschiedener Fischarten, die sich in Farbe und Musterung unterschieden.

In ihrem Experiment gab es zwei Typen von Kunden: A) Kunden, die man zu jeder Zeit, wenn sie auftauchen, putzen kann; diese Kunden waren von weniger wohl schmeckenden „Parasiten“ befallen. B) Kunden, die von wohl schmeckenden „Parasiten“ geplagt wurden. Letztere, drei an der Zahl, unterschieden sich individuell in ihrem Verhalten: Jeder Kunde ließ ein bestimmtes Mindest-Zeitintervall (Ruhezeit) nach der letzten Putzaktion verstreichen, bevor er sich von Labroides wieder putzen ließ. Diese individuellen Ruhezeiten von verschiedenen Zeitlängen mussten die Putzerfische lernen. Die Putzer wurden mehrmals täglich von Kunden besucht (trial), wobei immer zwei Kunden gleichzeitig für wenige Sekunden anwesend waren. Die Reihenfolge und Kombination der Kunden wechselte von trial zu trial. Die Putzer konnten also weder die Reihenfolge der Besuche lernen, noch Anzahlen zwischen den letzten Besuchen abschätzen, noch externe Hilfsmittel zur „Zeitmessung“ verwenden. Die Herausforderung für jeden Putzerfisch war, bei jeder Begegnung neu zu entscheiden, welchen der zwei gerade anwesenden Kunden er putzen darf. Entschied er sich für den falschen Kunden, das heißt für das Individuum, dessen Ruhezeit nach der letzten Putzaktion noch nicht verstrichen war, dann schwammen beide Kunden davon und der Putzer blieb hungrig zurück. Entschied er sich für das korrekte Individuum, durfte er den „Parasiten“ entfernen, bevor die Kunden verschwanden.

Die Putzerfische wurden mehrere Wochen lang trainiert und dann mit den Kunden getestet. Einige Individuen zeigten eine erstaunlich exakte Buchführung für ihre Kunden, für deren Ruhezeiten und die seit der letzten Interaktion mit dem jeweiligen Kunden verstrichene Zeit. Manche Individuen allerdings versuchten die Aufgabe durch Alternativstrategien – zum Beispiel den Aufbau einer Seitenbevorzugung – zu lösen; natürlich vergebens. Diese ersten Befunde lassen auf weitere interessante Ergebnisse hoffen.

Es stellen sich nun weitere Fragen: Wozu benötigen Putzerfische diese Fähigkeit im Freiland? Was ist der selektive Vorteil für Putzer gegenüber anderen? Wie schätzen die Putzerfische ab, wieviel Zeit seit der letzten Interaktion vergangen ist (die Frage nach dem Mechanismus)? Keine dieser Fragen ist momentan zu beantworten. Bisher hat noch niemand darauf geachtet, ob zeitliche Aspekte bei der Symbiose zwischen Putzern und ihren Kunden in der komplexen Lebensgemeinschaft im Riff eine Rolle spielen. Es fehlen bisher auch Felddaten von anderen Tierarten; dabei ist momentan nicht zu entscheiden, ob bisher nur noch keiner hingeschaut hat oder ob Putzerfische ein hochentwickelter Spezialfall sind. Auf jeden Fall erweisen sie sich immer mehr als Idealfall für eine fruchtbare Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen, nunmehr auch von Vergleichender Psychologie, Verhaltensökologie und theoretischer Biologie.

Originalveröffentlichungen

Bshary, R., W. Wickler and H. Fricke:
Fish cognition: A primate's eye view
Animal Cognition 5, 1-13 (2002).
Zur Redakteursansicht