Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik

Sozialrechtliche Rezeptionsprozesse in China

Autoren
Becker, Prof. Dr. Ulrich; Darimont, Dr. Barbara
Abteilungen

Prof. Dr. Ulrich Becker (Prof. Dr. Ulrich Becker)
MPI Sozialrecht, München

Zusammenfassung
Im Rahmen der zunehmenden internationalen Verflechtung intensiviert sich der Wissenstransfer unter den einzelnen Ländern und führt im Rechtsbereich und besonders im Sozialrecht zu Rezeptionen. Dabei tritt die Volksrepublik China einerseits als Rezipient auf, anderseits experimentiert sie derzeit mit unterschiedlichen Modellen und rechtlichen Regelungen, die neue Erkenntnisse bringen und auch für andere Länder von Interessen sind, da sie wiederum rezipiert werden könnten.

Die Transformation von einer Plan- zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft“, die in der VR China stattfindet, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Denn es wandeln sich die Grundlagen wirtschaftlichen Handelns, auf denen diese Sicherungssysteme aufbauten. Daraus ergibt sich ein Bedarf für eine weitreichende Umgestaltung. Der notwendige Reformprozess begann im Sozialrecht in China vor zwanzig Jahren und zeigt jetzt erste Ergebnisse. So wurde für die Stadtbewohner eine Renten-, Kranken-, Arbeitslosen-, Unfall- und Mutterschaftsversicherung etabliert. Für alle diese Sozialversicherungszweige sind rechtliche Bestimmungen ergangen, die in den nächsten Jahren weiter konkretisiert werden sollen.

Vergleicht man die Lage in Deutschland und der VR China, so sind die möglichen Reformgründe zum Teil ähnlich, besonders soweit sie aus der demografischen Entwicklung und den wachsenden internationalen Wirtschaftsbeziehungen folgen. Sie sind aber nicht nur in ihren Auswirkungen, sondern vor allem hinsichtlich der jeweiligen Ausgangssituation dieser beiden Länder höchst unterschiedlich. In China wird ein Neuaufbau angestrebt, während in Deutschland die Umstrukturierung der bestehenden Systeme im Vordergrund steht. Es lässt sich nicht übersehen, dass es insofern Anknüpfungspunkte gibt: Wer Neues schaffen will, wird erwägen, auf Vorbilder zurückzugreifen, die sich anderswo bewährt haben. Er wird dabei allerdings nicht nur berücksichtigen müssen, ob die jeweiligen Voraussetzungen eine Übernahme gestatten, sondern zugleich auch schon die Anpassungsfähigkeit der Vorbilder in sein Kalkül einbeziehen müssen. Daraus ergeben sich möglicherweise Modifikationen, deren Analyse für das eine Lösung „exportierende“ Land von Interesse ist – sowohl um die Grundlagen der eigenen Systeme besser zu verstehen, als auch um Optionen der Weiterentwicklung zu beobachten. Die Betrachtung der aktuellen sozialrechtlichen Entwicklung in China und Deutschland sowie der Vergleich des deutschen Rechts mit dem sich erst noch entwickelnden chinesischen Sozialrechtssystem können daher neue Erkenntnisse für beide Seiten bringen.

Einfluss der Rechtskultur auf den Rezeptionsprozess

Der Vergleich der Rechtskulturen ist eine notwendige Voraussetzung für die Übernahme von Recht. Rezeptionen spielten in China bereits zu Anfang des letzten Jahrhunderts eine große Rolle, weil viele Gesetze und Normen in den 1920er und 1930er Jahren aus Westeuropa importiert wurden. Diese „Tradition“ setzte die kommunistische Partei in der VR China fort, indem sie Recht aus der ehemaligen Union der Sowjetrepubliken einführte. Das übernommene Recht erwies sich in der Praxis jedoch häufig als inkompatibel mit dem heimischen Recht und Rechtsverständnis. Daher verwundert es kaum, dass in der VR China auch gegenwärtig intensiv über die Rechtsrezeptionen, die auch als Verwestlichung oder Modernisierung bezeichnet werden, diskutiert wird. Insbesondere bleibt offen, ob Rezeptionen westlicher Ideen geeignet sind, eine wesentliche Änderung des chinesischen Rechtssystems, der Rechtsgedanken und der Rechtskultur herbeizuführen.

Grundsätzlich stellt sich mit Blick auf die unterschiedlichen Rechtskulturen – hier der europäischen und der asiatischen Rechtskultur – einerseits die Frage, unter welchen Bedingungen Rezeptionen überhaupt vorgenommen werden und wann sie erfolgreich sind, und wie das rezipierte Recht in den neuen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext eingepasst werden soll. Das betrifft den Rezeptionsvorgang. Andererseits sind natürlich auch die Ergebnisse der Rezeption von großem Interesse und versprechen Erkenntnisgewinn über die Bedeutung kultureller Einflüsse auf das Recht. In dieser Hinsicht lassen sich eine Makro- und eine Mikrosicht voneinander unterscheiden: einmal, wenn gefragt wird, inwiefern Recht durch die Rezeption verändert wird, und zum anderen, wenn es darum geht, inwiefern die Rezeption von Recht auf das gesamte Rechtssystem und damit die Rechtskultur selbst rückwirkt und diese zu verändern in der Lage ist.

Rezeptionen dienen der Entwicklung von Recht. Selektive Rezeptionen und Adaptionen kennzeichnen Rechtssysteme, die sich an soziale, politische und kulturelle Wandlungen angepasst haben. Das Sozialrecht erscheint in diesem Zusammenhang als besonders lohnenswertes Untersuchungsfeld. Das gilt jedenfalls, wenn von der These ausgegangen wird, dass dieses Recht durch seine enge Verbindung zu den jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen geprägt ist. Es betrifft in besonderem Maße die Aufgabenverteilung zwischen Staat, gesellschaftlichen Institutionen und dem Individuum und hängt zugleich in seinem Entwicklungsstand von der Organisation und dem Grad wirtschaftlicher Austauschverhältnisse ab.

Bemerkenswert ist, dass trotz der gegenwärtigen immensen sozialen Veränderungen weder in China noch in Deutschland eine spezielle Diskussion über sozialrechtliche Rezeption geführt wird, während aus politik- und sozialwissenschaftlicher Sicht unter dem Stichwort social policy learning über die Rezeption von Sozialversicherungsmodellen nachgedacht wird. Insofern war die Konferenz über die „Grundfragen und Organisation der Sozialversicherung im Rechtsvergleich zwischen Deutschland und China“ im Sommer 2004 auf Schloss Ringberg, an der sowohl deutsche als auch chinesische Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen teilgenommen haben, wegbereitend für einen interdisziplinären Austausch.

Rezeption der Selbstverwaltung in China

Zu den Erkenntnisgewinnen zählt zunächst das bessere Verstehen des chinesischen Sozialrechts. In den westlichen Wohlfahrtsstaaten haben subjektive Rechte die Funktion, dem sozialpolitisch Gewollten zur Durchsetzung zu verhelfen. Doch die schwache Institutionalisierung der Sozialpolitik in der Organisation des chinesischen Staates, der geringe Grad ihrer Verrechtlichung sowie der fehlende Gerichtsschutz sozialer Rechte haben zur Folge, dass die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in China der Gefahr parteipolitischer Einflussnahme ausgesetzt sind.

Angesichts der angedeuteten Schwierigkeiten ist zu überlegen, inwiefern die deutsche Selbstverwaltung zur Lösung der in China existierenden Probleme beitragen könnte. Von chinesischer Seite wird die Übernahme einer triparitätischen Selbstverwaltung erwogen, wie sie in Deutschland in der Arbeitslosenversicherung praktiziert wird. Dabei müsste diese Konstruktion der Selbstverwaltung natürlich den chinesischen Gegebenheiten angepasst werden, und dieser Adaptionsprozess – so wird eingeräumt – wird wahrscheinlich mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Wie eine stärkere Selbstbeteiligung in China genau auszugestalten sein wird, und in welcher Hinsicht das Modell der deutschen Selbstverwaltung als Vorbild dienen kann, bedarf weiterer Analysen.

Deutsches Verwaltungsrecht wird in China gegenwärtig verstärkt rezipiert. Dies lässt sich anschaulich im Sozialrecht am Beispiel des Widerspruchsverfahrens zeigen. Entsprechende Prozesse gilt es zu verfolgen, um festzustellen, inwieweit das deutsche Verwaltungsrecht chinesischen Gegebenheiten angepasst und mit anderen kontinentaleuropäischen Rechtsmaterien verbunden wird.

Resümee

Es wird weiterhin Aufgabe der Rechtsvergleichung bleiben, die angeführten Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Erscheinungsform und Funktionieren des Rechts zu analysieren. Im Übrigen könnten die in dem demnächst erscheinenden Tagungsband [1] aufgezeigten Schwierigkeiten mit der Implementierung des Sozialrechts durch eine fehlende Einbeziehung seiner gesellschaftlicher Voraussetzungen und Werte bei der Rezeption erklärbar sein. Um den Fragen nach der Wirkung des übernommenen Rechts intensiver nachzugehen, bedarf es eines übergreifenden und interdisziplinären Ansatzes. Über Querschnittsthemen, wie zum Beispiel die Verantwortung des Staates, die sich im Recht manifestiert, aber auch über die Untersuchung der Rolle der Familie im Sozialrecht und die Frage nach dem Einfluss der Rechtskultur auf das Sozialrecht werden zukünftig erste Annäherungen angestrebt.

Originalveröffentlichungen

U. Becker, G. Zheng, B. Darimont (Hrsg.):
Grundfragen und Organisation der Sozialversicherung in China und Deutschland.
Studien aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, Bd. 36. Nomos, Baden-Baden 2005 (im Erscheinen).
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