Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institute für biophysikalische Chemie

Molekulare und zelluläre Mechanismen synaptischer Entwicklung und Plastizität

Autoren
Sigrist, Stephan
Abteilungen

Neuroplastizität (ENI) (Dr. Stephan Sigrist)
MPI für biophysikalische Chemie, Göttingen

Zusammenfassung
Nervenzellen "unterhalten sich" mithilfe von so genannten Synapsen, wobei Veränderungen dieser Synapsen der langfristigen Informationsspeicherung im Nervensystem zu dienen scheinen. Die Nachwuchsgruppe "Neuroplastizität" am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie beschäftigt sich mit den zellulären und molekularen Mechanismen, die der Etablierung und der plastischen Umgestaltung von Synapsen zu Grunde liegen. Als Modellsystem dienen die neuromuskulären Synapsen der Fruchtfliege Drosophila, wobei die bekannten genetischen Ansätze mit elektrophysiologischen Messungen kombiniert werden. Darüber hinaus haben die Wissenschaftler um Stephan Sigrist Protokolle entwickelt, die es erlauben, identifizierte Synapsen über mehrere Tage im intakten Tier (in vivo)zu verfolgen. Besonderes Interesse gilt hierbei den synaptischen Glutamatrezeptoren, die das von der vorgeschalteten präsynaptischen Zelle kommende Signal übertragen. Es zeigt sich, dass sich neue Glutamatrezeptor-Felder ausschließlich de novo ausbilden und dann innerhalb von etwa 24 Stunden zu ihrer endgültigen Größe heranwachsen. Die Mobilität der Glutamatrezeptoren während der Ausbildung einzelner Rezeptorfelder wurde in Bleichexperimenten und vermittels Photo-Aktivierung in vivo vermessen. Während reife Rezeptorfelder aufgrund geringen Ein- und Austritts von Rezeptoren stabil sind, kontrolliert der "Import"von Glutamatrezeptoren direkt das Wachstum der Rezeptorfelder. In Übereinstimmung hiermit finden die Wissenschaftler, dass Glutamatrezeptoren - unabhängig von ihrer Funktion als Ionenkanäle - direkt für den Aufbau der postsynaptischen Strukturen benötigt werden. Die Interaktion zwischen prä- und postsynaptischer Seite während der synaptischen Etablierung wird zurzeit durch In-vivo-Bildgebung untersucht. Überraschenderweise finden die Forscher hier, dass das "Drosophila-Grip-Homologe", potenzieller Bindungspartner von Glutmatrezeptoren, auch den Prozess der muskulären Wegfindung kontrolliert.

Die Erforschung unseres "Denkorgans", des Gehirns, ist und bleibt eine dominierende Aufgabe der Biologen und Mediziner. Hierbei kommt den Orten der Kommunikation zwischen Nervenzellen, den Synapsen, eine zentrale Bedeutung zu. An Synapsen werden Signalstoffe (Neurotransmitter) von einer erregten Nervenzelle freigesetzt, um nach Diffusion durch den so genannten synaptischen Spalt "postsynaptische" Rezeptoren in der nachgeschalteten Nervenzelle zu aktivieren. Hierdurch kommt es schließlich zur Weiterleitung des elektrischen Signals. Die Aminosäure Glutamat ist der in unserem Gehirn am weitesten verbreitete erregende Neurotransmitter ("glutamaterge Synapsen"), die Glutamatrezeptoren sind demgemäß Gegenstand intensiver Forschung.
Besondere Muster in der elektrischen Aktivität von Nervenzellen können die synaptische Signalübertragung zwischen Nervenzellen langfristig verändern. Diese "synaptische Plastizität" wird allgemein als zelluläre Grundlage von Lern- und Gedächtnisprozessen angesehen. Sie umfasst zum einen Veränderungen in der Funktion bereits existenter Synapsen ("funktionelle Plastizität"), welche an glutamatergen Synapsen oft durch Umstellungen in der Menge der synaptisch lokalisierten Glutamatrezeptoren vermittelt zu werden scheinen. Zum anderen kommt es aber auch zu Veränderungen der synaptischen Struktur, insbesondere zur Ausbildung neuer Synapsen innerhalb des Nervennetzwerks ("strukturelle Plastizität").

Funktionelle und strukturelle Veränderungen an Synapsen sind zeitlich dynamisch und räumlich eng verzahnt. Solche Prozesse lassen sich durch "statische Untersuchungen" (zum Beispiel biochemische Analyse oder Immunfärbungen an fixiertem Material) nicht in allen Aspekten analysieren und verstehen. Insbesondere lassen sich Übergangszustände (beispielsweise bei der Neuentstehung von Synapsen) nur schwer auffinden und die zeitliche Reihenfolge und kausale Verknüpfung von Teilprozessen so nur schwer abklären. Seit langer Zeit wurde daher der Bedarf formuliert, synaptische Ereignisse in lebenden Tieren (in vivo) direkt zu beobachten. Bisher konnten jedoch nur wenige Präparationen studiert werden, und das dann nur unter sehr großem experimentellen Aufwand. In letzter Zeit hat allerdings die Entwicklung genetisch einsetzbarer Fluoreszenz-Sonden (insbesondere das "Green Fluorescent Protein - GFP") neue Perspektiven für die In-vivo-Bildgebung aufgezeigt.

Die Arbeitsgruppe von Stephan Sigrist studiert die Synapsen, die zwischen den motorischen Nervenzellen und den Muskelzellen der Fruchtfliege Drosophila gefunden werden (Abb. 1), um den Prozess der Synapsenbildung in lebenden Tieren über ausgedehnte Zeiträume (Tage!) zu verfolgen. Diese neuromuskulären Synapsen ähneln den Gehirn-Synapsen im molekularen und ultrastrukturellen Feinaufbau, ihre Analyse profitiert aber davon, dass sie experimentell sehr gut zugänglich sind und effiziente genetische Werkzeuge zur Verfügung stehen. Die neuromuskulären Synapsen von Drosophila verwenden ebenfalls den Neurotransmitter Glutamat, den sie mithilfe von postsynaptischen Glutamatrezeptoren wahrnehmen. Diese Glutamatrezeptoren sind denen des Menschen verwandt. Die spezifischen Vorteile des gewählten Modellsystems (Larven sind optisch transparent, schnelle Etablierung transgener Tiere, übersichtliche Organisation identifizierbarer Neurone und Synapsen) haben es den Göttinger Forschern in der letzten Zeit erlaubt, individuelle synaptische Glutamatrezeptor-Felder über Tage in intakten lebenden Drosophila-Larven (In-vivo-Ansatz) zu beobachten (Abb. 2).

Die Versuche zeigen, dass sich zusätzliche Synapsen in diesem System stets neu ausbilden und nicht wie zuvor vermutet aus der Teilung bereits existenter Synapsen hervorgehen. Diese synaptischen Rezeptorfelder wachsen innerhalb von etwa einem Tag zu "reifen" Rezeptorfeldern heran, wobei ihre finale Größe eine spezifische Eigenschaft der jeweiligen Synapse darstellt. Dieser experimentelle Ansatz hat es den Wissenschaftlern um Stephan Sigrist erlaubt, die In-vivo-Mobilität von Glutamatrezeptoren direkt auf der Ebene einzelner Synapsen zu untersuchen (Abb. 3). Sie konnten zeigen, dass das Wachstum von Rezeptorfeldern direkt durch den "Import" neuer Rezeptoren kontrolliert wird. Die endgültige Stabilisierung von Rezeptorfeldern erklärt sich durch ein Abfallen des Imports bei sehr schwachem "Export" von Glutamatrezeptoren.

Für die Funktion der neuromuskulären Synapsen sind die Glutamatrezeptoren unverzichtbar. Es war allerdings unklar, ob die Rezeptoren auch am Aufbau der eigentlichen synaptischen Struktur teilnehmen. Die genetische Analyse zeigt, dass die Ausbildung präsynaptischer Strukturen und die präsynaptische Neurotransmitterfreisetzung vom Vorhandensein der postsynaptischen Glutamatrezeptoren weitgehend unabhängig sind. Die elektronenmikroskopische Analyse zeigt hingegen, dass der Aufbau der postsynaptischen Struktur von der Anwesenheit der Glutamatrezeptoren zwingend abhängig ist. So kommt es in Abwesenheit der Rezeptoren nur zu einem sehr lockeren Kontakt der prä- und postsynaptischen Membran.

Besonderes Interesse gilt auch den molekularen Mechanismen, die die zelluläre Dynamik von Glutamatrezeptoren steuern und die Ausbildung von Synapsen in die Entwicklung des neuromuskulären Systems zeitlich-räumlich integrieren. Wir haben das Drosophila-Homologe des Glutamatrezeptor-Bindeproteins (Grip) als potenziellen Bindungspartner eines neuromuskulären Glutamatrezeptors identifiziert. Grip verfügt über sieben so genannte PDZ-Domänen, " strukturelle Module" für die spezifische Protein-Protein-Erkennung. Diesen wird eine zentrale Rolle für die Etablierung zellulärer Signalkomplexe zugeschrieben. Die mechanistische Basis der Funktion solcher Proteine ist allerdings bisher kaum verstanden. Die genetische Analyse im Labor von Stephan Sigrist hat ergeben, dass Grip unerwarteterweise für die frühe (das heißt noch vor der Ausbildung der Synapsen!) Wegfindung der Muskelzellen im Drosophila-Embryo (Abb. 1) wichtig ist (Abb. 4, A und B). Die Arbeitsgruppe prüft zurzeit eine Hypothese, nach der das Grip- Molekül als "intelligenter Transporter" für Signal-gebende Proteine fungiert und somit verschiedene Teilschritte während der neuromuskulären Entwicklung verzahnt. In diesem Zusammenhang könnte Grip auch an der Regulation der präsynaptischen Freisetzung der Neurotransmittervesikel beteiligt sein, wie die elektronenmikroskopische (Abb. 4, C) und die elektrophysiologische Analyse neuromuskulärer Endigungen andeuten.

In weiteren Arbeiten wollen die Forscher die In- vivo-Mikroskopie weiter nutzen, um ein "integriertes Bild" synaptischer Entwicklung und Plastizität zu gewinnen. Insbesondere interessiert Stephan Sigrist, inwiefern neuronale Aktivität die Ausbildung von Synapsen auch lokal beeinflussen kann. Die spezifischen Vorteile des beschriebenen synaptischen Modells sollten hierbei zum Tragen kommen.

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