Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

Sprachliche Diversität und die Konstruktion gemeinsamer Identität in postkolonialen Kontexten: Das Beispiel der Oberen Guineaküste (Upper Guinea Coast)

Language diversity and the construction of common identity in postcolonial context: The example of the Upper Guinea Coast of West Africa

Autoren
Knörr, Jacqueline
Abteilungen
Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale)
Zusammenfassung
Abhängig von sozialen und politischen Bedingungen innerhalb einer Gesellschaft dienen Sprachen und bestimmte Sprachgebräuche und -stile der sozialen Inklusion und Exklusion. Sie können gemeinsame Identität stiften, Grenzen zwischen Gruppen schaffen und abbauen. Das Verhältnis von Sprache und Identität in postkolonialen Gesellschaften wird bis heute auch von den politischen Herrschaftsstrukturen der einstigen Kolonialmächte geprägt, die sich auch mit Blick auf Sprachideologien voneinander unterschieden.
Summary
Depending on their social and political contextualization and status in a given society, languages may function as means of inclusion and exclusion, as ways of (re-)constructing and reconciling collective identities and as strategies to display and transcend group boundaries. Where postcolonial societies are concerned, former colonial policies (also) with regard to language ideologies continue to influence the relationship between language and identity.

Sprache und Identität

Sprachen gehören zur Gesellschaft und Kultur derer, die sie sprechen. Dies betrifft sowohl verschiedene Sprachtypen – etwa ethnische, nationale und offizielle – als auch verschiedene Sprachgebräuche – etwa offizielle, informelle und symbolische. Sprachtypen und Sprachgebräuche korrelieren mit bestimmten sozialen Kontexten und Situationen, mit Gruppenzugehörigkeiten, Geschlecht und Alter. Die interessante Frage ist, wie die Beziehung zwischen verschiedenen Sprachtypen und -gebräuchen konstruiert und in verschiedenen sozialen und politischen Kontexten zum Ausdruck gebracht wird. Mit Blick auf postkoloniale Gesellschaften stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von Sprache und Identität durch koloniale und postkoloniale Erfahrungen geprägt ist und wie umgekehrt bestimmte soziale, politische und rituelle Praktiken innerhalb postkolonialer Gesellschaften „linguifiziert“, also mit bestimmten Sprachen und Sprachgebräuchen in Verbindung gebracht werden.

Sprachliche Diversität und die Konstruktion gemeinsamer Identität an der Oberen Guineaküste Westafrikas

Die Obere Guineaküste Westafrikas – welche die Territorien der heutigen Nationalstaaten vom Senegal im Westen bis Liberia im Osten einschließt – ist durch ein hohes Maß an sprachlicher Diversität geprägt und auch hinsichtlich ethnischer Identitäten, kultureller Merkmale, historischer Erfahrungen und sozialer und politischer Strukturen sehr heterogen.

Mit Blick auf die sprachliche Diversität in der Region lassen sich drei Sprachtypen voneinander unterscheiden: offizielle Sprachen, die durch die jeweiligen Regierungen bestimmt wurden, ethnische („indigene“) Sprachen, die von Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen in bestimmten Regionen gesprochen werden, und c) Lingua Francas (Verkehrssprachen), die als gemeinsame Sprachen Verwendung finden, wo Sprachgemeinschaften die Sprachen der anderen Sprachgemeinschaften nicht oder nicht ausreichend beherrschen oder wo der soziale Kontext dies sinnvoll erscheinen lässt.

Die offiziellen Sprachen sind weder mit den ethnischen Sprachen noch mit den Lingua Francas der Region identisch. Statt eine der ethnischen Sprachen als offizielle Sprache zu deklarieren, wodurch sich Sprecher anderer ethnischer Sprachen hätten benachteiligt fühlen können, haben die frühen postkolonialen Regierungen Afrikas bei Erlangung der Unabhängigkeit die Sprache ihres jeweiligen einstigen Kolonialherren als offizielle Sprache übernommen. Dies sollte eine gemeinsame Identität über ethnische Grenzen hinaus, den Prozess der Nationenbildung und die internationale Anerkennung als moderne Nationalstaaten fördern.

So wurde im Senegal und in Guinea Französisch zur offiziellen Landessprache deklariert, die Kapverden und Guinea-Bissau optierten für Portugiesisch, und Englisch wurde Staatssprache in Gambia, Sierra Leone und Liberia. Einige Länder haben zudem bestimmten ethnischen Sprachen den Status nationaler oder regionaler Sprachen verliehen, die teilweise neben der jeweiligen offiziellen Sprache in der Primarschul- und Erwachsenenbildung verwendet werden. Die offiziellen Landessprachen dienen heute vor allem der internationalen Kommunikation, auf nationaler Ebene werden sie hauptsächlich in formalen Zusammenhängen eingesetzt. Bis heute haben nur Minderheiten eine umfassende Kenntnis ihrer jeweiligen offiziellen Landessprache [1].

Jedoch scheint weder die Frage, ob die jeweiligen offiziellen Sprachen beherrscht werden oder nicht, noch die Tatsache, dass sie allesamt einst von fremden Kolonialmächten eingeführt wurden, die Identifikation mit ihnen maßgeblich zu behindern. Die offiziellen Landessprachen werden in erster Linie als Ausdruck der Zugehörigkeit sowohl der eigenen Nation als auch Afrikas als Gesamtheit zur modernen, durch Nationalstaatlichkeit geprägten Welt betrachtet und gewürdigt.

Kreolsprachen im postkolonialen Kontext

Je nach sozialem und nationalem Kontext können offizielle, ethnische und/oder kreolische Sprachen als Lingua Francas dienen. In weiten Teilen der Oberen Guineaküste spielen vor allem Kreolsprachen seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle als Lingua Francas. Kreolsprachen – wie auch kreolische Kultur und Identität – haben in diesem extrem heterogenen Umfeld eine außerordentliche Bedeutung für die interethnischen Beziehungen und die Bildung transethnischer und nationaler Identität [2,3]. Das Verhältnis zwischen Kreolsprachen und ethnischen, transethnischen und nationalen Identifikationen in postkolonialen Kontexten variiert jedoch erheblich, ein Umstand, der für das Verständnis der Beziehung von Sprache und Identität in solchen Gesellschaften wichtig ist. Im Folgenden werden zwei Fälle exemplarisch dargestellt: Kriol in Guinea-Bissau und Krio in Sierra Leone.

Kriol (Guinea-Bissau)

Eine weitgehend auf portugiesischem Vokabular basierende Kreolsprache entstand im späten 15. Jahrhundert, als sich portugiesische Händler in dem bis dahin unbesiedelten kapverdischen Archipel niederließen, entlang der westafrikanischen Küste Handel betrieben und eine große Anzahl von Afrikanern unterschiedlicher Herkunft auf den Kapverdischen Inseln zwangsansiedelten. Diese Sprache war zum damaligen Zeitpunkt auf die Handelsniederlassungen entlang der Küste beschränkt. Dort wurde sie zur Muttersprache kleiner kreolischer Menschengruppen, die sich aus sogenannten Kristons und Kapverdianern zusammensetzten [4]. Die Portugiesen selbst lehnten den Gebrauch von Kriol ab, das sie als deformiertes und falsches Portugiesisch betrachteten [5].

Kriol setzte sich landesweit erst ab 1961 durch, als der Kampf um die Unabhängigkeit begann. Die Unabhängigkeitsbewegung wurde von Kreolen angeführt, die mittels Kriol über ethnische Grenzen hinweg kommunizierten und die nationale Integration propagierten [6,7,8]. Mit Erlangung der Unabhängigkeit wurde Kriol 1974 zur Nationalsprache deklariert, deren Bedeutung als Lingua Franca seither durch die mannigfaltigen interethnischen Kontakte und die zunehmende Präsenz diverser Medien weiter zugenommen hat [7,8].

Die Verbreitung von Kriol als Guinea-Bissaus Lingua Franca und ihre zunehmende Bedeutung als Symbol nationaler Einheit wurden dadurch begünstigt, dass die kreolischen Bevölkerungsgruppen sich ebenso mit Guinea-Bissau identifizierten wie ihre nicht kreolischen Landsleute. Sowohl Kristons als auch Kapverdianer – die kreolischen Gruppen, die Kriol in Guinea-Bissau verbreiteten – werden als Resultat von Vermischung verschiedener exogener und indigener ethnischer Gruppen angesehen (mistura), die sie anteilig mit ihren (lediglich weniger durch Vermischung gekennzeichneten) Landsleuten verbinden. Entsprechend wird auch Kriol, das zuerst von Kreolen verbreitet wurde, als nationale Sprache mit heterogenen Wurzeln und nicht als Sprache einer bestimmten ethnischen Gruppe betrachtet. Ähnliches gilt für andere Ausdrucksformen kreolischer Identität in Guinea-Bissau, wie etwa den Karneval und die manjuandadi (Hilfsorganisationen auf Basis von Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit). Beide waren ursprünglich auf die kreolischen Gruppen beschränkt, breiteten sich dann aber im ganzen Land aus und wurden zu wichtigen Symbolen nationaler Identität [7].

Krio (Sierra Leone)

Krio entstand aus einem Konglomerat verschiedener Sprachen, welche die Ursprünge der Gruppe der Krio reflektieren, der Nachfahren verschiedener Gruppen befreiter Sklaven, die Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts in Sierra Leone angesiedelt wurden.

Anders als die Kristons und Kapverdianer Guinea-Bissaus betonten die Krios – über Religion, Kultur und Sprache –, was sie von den Einheimischen trennte und sie ihrer eigenen Einschätzung nach ihnen gegenüber überlegen machte [9]. Im 19. Jahrhundert wurde Krio hauptsächlich unter Krios gesprochen, die zwar zu diesem Zeitpunkt bereits viele Menschen lokaler Herkunft integriert hatten, von ihnen aber erwarteten, dass sie ihre ursprünglichen ethnischen Identitäten aufgäben. Im Gegenzug wurden die Krios von der Mehrheit der indigenen Bevölkerung nicht als vollwertige Einheimische anerkannt. Die Krios wurden zu einer Elite, deren Angehörige als Lehrer, Missionare und Verwaltungspersonal in Sierra Leone und Westafrika tätig waren. Krio fungierte dabei als Sprache der interethnischen Kommunikation, aber auch als Symbol kreolischer Überlegenheit. Unabhängig davon werden die Krios heute jedoch meist dafür gewürdigt, dass sie Sierra Leone die mit Abstand wichtigste nationale Lingua Franca beschert haben, die von fast allen Sierra-Leonern beherrscht wird. Es scheint ein wenig wie eine Ironie des Schicksals, dass die Krio-Sprache als einer der wichtigsten interethnisch einigenden Faktoren angesehen wird, während die Krios in mancherlei Hinsicht als Separatisten erlebt wurden.

Insbesondere seit dem Ende des über zehn Jahre währenden Bürgerkrieges im Jahr 2002 werden der Krio-Sprache auch versöhnende Wirkungen nachgesagt, weil sie im Gespräch Menschen einander näherbringen kann, die sich zuvor gegenseitig bekämpft haben. Unbesehen der Tatsache, dass die ethnische Identität für die meisten Sierra-Leoner weiterhin eine wichtige Dimension ihrer sozialen Identität darstellt, wird etwas weniger Ethnozentrismus und ein bisschen mehr transethnische Verbindlichkeit – wie man sie am ehesten mit den Krios und der Krio-Sprache in Verbindung bringt – für die gesamtgesellschaftliche und politische Entwicklung als förderlich angesehen [10]. Entsprechend hat in jüngerer Zeit besonders die Krio-Sprache, haben aber auch – wenngleich weniger eindeutig – die Krios selbst eine Aufwertung erfahren. Umgekehrt warf man den beiden großen Parteien des Landes, deren Vertreter und Anhängerschaft weitgehend mit einer der beiden dominierenden ethnischen Gruppen korrelieren, Tribalismus vor, als bekannt wurde, dass sie in ihren Regierungsbüros hauptsächlich in der eigenen ethnischen Sprache kommunizieren, wodurch Sprecher anderer Sprachen ausgegrenzt würden.

Fazit

Allgemein nimmt man an, dass Sprache und Identität in enger wechselseitiger Beziehung stehen und dass Sprache individuelle und kollektive – etwa ethnische, nationale, religiöse – Identitäten maßgeblich beeinflusst. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass das Verhältnis von Sprache und Identität von der Art und Weise geprägt ist, in der bestimmte Sprachen und mit ihnen assoziierte (Gruppen-)Identitäten innerhalb der Gesellschaften, in denen sie situiert sind, sozial und historisch eingeordnet und bewertet werden. Abhängig davon können Sprachen sowie bestimmte Sprachgebräuche und -stile der sozialen Inklusion und Exklusion dienen, sie können gemeinsame Identität stiften, Grenzen zwischen ethnischen Gruppen manifestieren, aber ebenso transzendieren. Das Verhältnis von Sprache und Identität in postkolonialen Gesellschaften wird bis heute auch von den jeweiligen politischen Herrschaftsstrukturen und damit in Verbindung stehenden Sprachideologien der einstigen Kolonialmächte geprägt.

Literaturhinweise

Oyètádé, A.; Luke, V. F.
Sierra Leone: Krio and the quest for national integration
In: Language and National Integration in Africa, 122–140 (Ed. Simpson, A.). Oxford University Press, Oxford (2008)
Knörr, J.
Contemporary creoleness, or: The world in pidginization?
Current Anthropology 51 (6), 731–759 (2010a)
Mufwene, S.
Développement des créoles et évolution des langues
Etudes Créoles 25, 45–70 (2002)
do Couto, H. H.
O Crioulo Português da Guiné-Bissau
Helmut Buske Verlag, Hamburg (1994)
Havik, P. J.
Kriol without creoles: Afro-Atlantic connections in the Guinea Bissau region (16th to 20th centuries)
In: Cultures of the lusophone Black Atlantic, Studies of the Americas, 41–73 (Eds. Naro, N. P.; Sansi-Roca, R.; Treece, D. H.). Palgrave Macmillan, New York etc. (2007)
Knörr, J. et al.
National, ethnic and creole identities in contemporary Upper Guinea Coast societies
Max Planck Institute for Social Anthropology Working Paper 135. Halle, Max Planck Institute for Social Anthropology (2012)
Kohl, C.
Diverse unity: Creole contributions to interethnic integration in Guinea-Bissau
Nations and Nationalism 18, 643–662 (2012)
Trajano Filho, W.
The Creole idea of nation and its predicaments: The case of Guinea-Bissau
In: The Powerful Presence of the Past: Integration and Conflict along the Upper Guinea Coast, 157–183 (Eds. Knörr, J.; Trajano Filho, W.). Brill, Leiden (2010)
Porter, A. T.
Creoledom: A study of the development of Freetown society
Oxford University Press, Oxford (1963)
Knörr, J.
Out of hiding? Strategies of empowering the past in the reconstruction of Krio identity
In: The Powerful Presence of the Past: Integration and Conflict along the Upper Guinea Coast, 205–228 (Eds. Knörr, J.; Trajano Filho, W.). Brill, Leiden (2010b)
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