Weltbild: An den Gezeiten gescheitert

4. Februar 2014

Inspiriert hat ihn offenbar das Verhalten von Wasser beim Anlegen von Barken: Jedenfalls zieht Galileo Galilei Analogschlüsse und erklärt Ebbe und Flut durch das Abbremsen und Beschleunigen der Ozeane, verursacht durch die Bewegung der Erde um die Sonne sowie die Eigendrehung der Erde. Doch Galilei liegt mit dieser Theorie völlig daneben.

Text: Jochen Büttner

Nach seinen teleskopischen Entdeckungen sucht Galileo Galilei immer eifriger nach Belegen für die kopernikanische Weltsicht, welche die Sonne anstelle der Erde ins Zentrum des Alls rückt. Mit seiner Erklärung der Gezeiten glaubt er, die endgültige Bestätigung für die Richtigkeit der kopernikanischen Sicht gefunden zu haben. Seine Gezeitentheorie krönt denn auch die Argumente, die er im Jahr 1632 in seinem skandalumwitterten Werk Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme für Kopernikus vorbringt.

Wohl zusammen mit seinem Freund Paolo Sarpi hatte Galilei beobachtet, was passiert, wenn jene Barken, die Süßwasser nach Venedig bringen, beim Anlegen unsanft abgebremst werden: Dann wird das Wasser im Rumpf – anders als das Boot selbst – den Antrieb „beibehalten und vorne nach dem Bug hinströmen; dort wird es merklich steigen“. Und danach noch eine ganze Weile hin und her schwappen. Dem entsprechend könnten auch Ebbe und Flut aus dem Vor- und Zurückfluten von Wasser in Meeresbecken resultieren, wenn diese immer wieder abgebremst oder beschleunigt werden. Aber wodurch?

Als überzeugter Kopernikaner hat Galilei eine Erklärung parat: Die Gezeiten erhalten ihren Anstoß von der doppelten Bewegung der Erde um die Sonne sowie um ihre eigene Achse. Da der Drehsinn der jährlichen und der täglichen Bewegung der Erde gleich sind, addieren sich ihre Geschwindigkeiten auf der sonnenabgewandten Seite der Erde. Auf der Seite, die der Sonne zugewandt ist, verhält es sich umgekehrt, argumentiert er. Zwischen diesen Punkten werde das Meerwasser also beschleunigt oder gebremst – genauso wie das Wasser im Ruderboot.

Der Naturforscher holt noch weiter aus. Um zu ergründen, in welcher Weise das Wasser in den Meeresbecken hin und her strömt, zieht er den Vergleich mit einem riesigen Pendel heran. In der Nationalbibliothek in Florenz wird ein 200 Seiten dickes Bündel Manuskripte mit Galileis Notizen zu Fragen der Bewegung aufbewahrt. Es enthält Berechnungen, Tabellen, Skizzen. Auf Seite 154r findet sich ein ungewöhnliches Gedankenexperiment: Galilei stellt sich ein gigantisches Pendel vor, dessen Länge dem Erdradius entspricht.

Er nimmt an, dass dieses Erdpendel in sechs Stunden hin und her schwingt und prüft, ob diese Annahme mit der messbaren Schwingungsdauer eines zehn Meter langen Pendels in Einklang zu bringen ist, etwa eines schwingenden Leuchters, der von der Decke einer Kirche herabhängt.

Wie die Manuskripte zeigen, läuft sein Versuch, die Periode der Gezeiten durch Vergleich mit einem Pendel herzuleiten, ins Leere. Jedenfalls findet Galilei keine schlüssige Erklärung für die Regelmäßigkeit, mit der Ebbe und Flut wiederkehren und sich dabei Tag für Tag um etwa 50 Minuten verzögern.

Den Dialog veröffentlicht er dennoch. Und schon bald werden Zweifel an seiner Gezeitentheorie laut. Es kommt aber noch schlimmer: Obwohl der römische Zensor dem Dialog zunächst die Druckerlaubnis erteilt hat, wird Ende 1632 der Vorwurf gegen Galilei erhoben, er hätte mit dem Werk gegen das antikopernikanische Dekret von 1616 verstoßen. Der Forscher muss der kopernikanischen Lehre abschwören und wird zu lebenslangem Hausarrest verurteilt.

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