Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Was Kinder lesen – kognitive Konsequenzen und pädagogische Herausforderung

Autoren
Schroeder, Sascha
Abteilungen
Max-Planck-Forschungsgruppe Reading Education and Development (REaD)
Zusammenfassung
Lesen ist eine Voraussetzung, um sich in unserer modernen, informationsbasierten Gesellschaft orientieren zu können. Das Lesenlernen ist jedoch ein langjähriger Prozess, den nicht jeder mit Leichtigkeit meistert, wie die PISA-Studien zeigen. Und wer unter funktionalem Analphabetismus leidet, ist von so manchem Lebens- und Arbeitsbereich ausgeschlossen. Die Forschungsgruppe „REaD“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersucht Struktur und Entwicklung des Schriftspracherwerbs im Kindes- und Jugendalter. Ziel ist, langfristige Lösungen für Lesedefizite zu erarbeiten.

Lesen ist eine komplexe kognitive Fähigkeit, deren Erwerb nicht selbstverständlich ist. Kinder brauchen deshalb pädagogische Unterstützung, um die Herausforderungen des Schriftspracherwerbs erfolgreich zu meistern. Die PISA-Studien haben gezeigt, dass dies nicht allen Kindern gleich gut gelingt: Lesen ist der schulische Fähigkeitsbereich, in dem sich vielleicht die größten Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern offenbaren und in dem es besonders schwierig ist, effektive Trainings- und Fördermaßnahmen zu implementieren. Das Forschungsteam REaD am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersucht, warum das so ist.

Ist Lesen schwierig?

Warum ist Lesen eigentlich so schwierig? Erwachsene vergessen häufig, dass Lesen alles andere als selbstverständlich ist. Für sie ist es eine hoch automatisierte Fähigkeit, die selbstständig und ohne große Anstrengung ausgeführt wird. In der Tat können Erwachsene „nicht nicht lesen“. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der sogenannte Stroop-Effekt. Hier werden Personen Wörter gezeigt, die in unterschiedlichen Farben gedruckt sind. Die Aufgabe der Probanden ist es, so schnell wie möglich die Farbe der Wörter zu benennen. Entscheidend ist nun, dass einige der Wörter selbst Farbwörter sind. Stimmt die Farbe und die Bedeutung eines Wortes überein, das heißt, wenn beispielsweise GRÜN in grün geschrieben ist, dann fällt uns die Antwort eher leicht. Wenn sich die beiden Bedeutungen aber widersprechen, das heißt, wenn beispielsweise GRÜN in rot geschrieben ist, dann können Erwachsene die Wortbedeutung kaum ignorieren. Es fällt ihnen deswegen schwer, in diesem Beispiel „rot“ zu antworten. Offensichtlich lesen wir unbewusst und automatisch das Wort mit, obwohl dies für die Farbbenennung nicht notwendig, sondern hinderlich ist.

Das war jedoch nicht immer so. Auch Erwachsene mussten sich das Lesen einmal mühevoll Wort für Wort erarbeiten. Manchmal wird ihnen das klar, wenn sie in einer Fremdsprache vorlesen sollen: Wie wird das englische Wort „examine“ noch einmal ausgesprochen? Ist beim französischen Wort „petite“ das letzte „e“ nun stumm oder nicht? Und wie wird „Spaghetti“ geschrieben? Vor solchen Fragen stehen Kinder, die gerade Lesen und Schreiben lernen, jeden Tag!

Was lesen Kinder?

Eines ist klar: Wie andere Dinge im Leben, lernt man Lesen nur dadurch, dass man es tut. Es ist deswegen wichtig, sich genauer anzuschauen, welche Informationen Kinder beim Lesen aufnehmen und wie sie diese nutzen. Das Kinder-Korpus childLex [1] soll hierbei helfen. Es stellt umfangreiche Informationen darüber zur Verfügung, welche linguistischen Eigenschaften die Sprache hat, die von Kindern gelesen wird. Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Sprache in Büchern, die sogenannte Schriftsprache, sich in verschiedener Hinsicht von der gesprochenen Sprache unterscheidet, die Kinder ja bereits vor Schuleintritt sicher beherrschen. Der wichtigste Unterschied für das Lesen ist, dass geschriebene Sprache in Büchern ungleich reichhaltiger ist als unsere Alltagssprache. Es ist eine Eigenschaft von Sprache, dass sich die Wörter in ihr sehr ungleich verteilen. Der vorliegende Text ist  insgesamt 449 Wörter lang (bis hierhin). Allerdings wurden nur 240 unterschiedliche Wörter verwendet. Das Wort, das am häufigsten verwendet wurde, ist „ist“ (insgesamt zwanzigmal 23-mal). Ebenfalls häufig verwendet wurden „die“ (20-mal) und „lesen“ (13-mal), das Wort „Wort“ (12-mal) und „und“ kam immerhin 9-mal vor. 169 Wörter („englische“, „Farben“, „Hinsicht“ usw.) kamen allerdings lediglich 1-mal, 26 Wörter nur 2-mal vor. In der Linguistik ist diese Gesetzmäßigkeit als „Zipf’sches Gesetz“ bekannt, das man salopp als „Es gibt wenig Riesen und viele Zwerge“ zusammenfassen kann. Das heißt, es gibt relativ wenig Wörter, die sehr häufig verwendet werden, und sehr viele, denen man nur ein- oder zweimal begegnet.

Das Verhältnis der Anzahl unterschiedlicher Wörter zur Gesamtzahl aller Wörter in einem Text ist dabei ein Indikator für die „Reichhaltigkeit“ eines Textes. Denn es gibt an, ob in einem Text nur bekannte oder auch viele neue, unbekannte Wörter vorkommen. Vergleicht man nun verschiedene sprachliche Kommunikationsformen miteinander, wie zum Beispiel Gespräche zwischen Erwachsenen und Kindern, Fernsehsendungen und Kinderbücher, dann fällt auf, dass (Kinder-)Bücher ein wesentlich höheres lexikalisches Anregungspotenzial haben als andere Textsorten. Viele Alltagsgespräche („Und – wie war es heute in der Schule?“) sind nicht sehr komplex und drehen sich meist um bereits bekannte Dinge. Wenn es darum geht, Neues zu lernen und unbekannten Wörtern zu begegnen, geht also kein Weg am Bücherlesen vorbei. Auch ist klar, dass sich verschiedene Arten von Kinderbüchern hier sehr unterscheiden können.

Wieviel lesen Kinder?

Nun gibt es nicht nur große Unterschiede zwischen den Büchern, die Kinder lesen, sondern vor allem darin, ob sie überhaupt lesen. Aber wie häufig machen sie das eigentlich und wie lange? Es ist nicht einfach, das herauszubekommen. In der Schule selbst lesen Kinder kaum, zumindest nicht in der Grundschule. Ein durchschnittliches Lesebuch für den Deutschunterricht in der dritten Klasse hat ungefähr 30.000 Wörter – das ist in etwa der Umfang, den auch ein Band der „Drei ???“-Serie hat. Ein Buch wie Cornelia Funkes „Tintenherz“ (140.000 Wörter) umfasst ungefähr so viele Wörter wie alle Schulbücher der ersten bis zur vierten Klasse zusammen.

Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die meiste Lektüre in außerschulischen Situationen stattfindet – oder eben auch nicht. Darüber hinaus sind die meisten Lese-Episoden nicht in einen erzieherischen Kontext eingebunden, etwa in den Unterricht, sondern finden eher nebenher und selbstgesteuert statt. Fragt man Kinder und Jugendliche danach, wann und was sie in den letzten Tagen außerhalb der Schule gelesen haben, dann erhält man meist einen Mittelwert von ungefähr fünf Minuten pro Tag. Dabei gibt es aber erhebliche Unterschiede: Einige lesen gar nicht und andere dafür eine Stunde.

Ein Forscherteam am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat einen Fragebogen entwickelt, mit dem sich ermitteln lässt, ob Kinder eher „Lesemuffel“ oder „Leseratten“ sind. Dabei wird ihnen eine Liste von Kinderbuchtiteln gezeigt und sie sollen ankreuzen, welche sie bereits kennen. Allerdings wurden unter diese Liste auch eine Reihe von erfundenen Buchtiteln gemischt („Tintenschmerz“, „Harry Potter und die Höhle der Verdammnis“), um zu erkennen, ob die Kinder nur geraten haben. Die Ergebnisse zeigen, dass es sehr große Unterschiede zwischen den Kindern hinsichtlich ihrer Bücherkenntnisse gibt.

Kinder unterscheiden sich nicht nur darin, wie häufig und wie lange sie ein Buch in die Hand nehmen, sondern auch darin, wie schnell und flüssig sie darin lesen [2]. Die Leseratte, die sich zum Beispiel durch Vorlesen oder Blickbewegungsdaten ermitteln lässt, entwickelt sich rapide in der Grundschulzeit. Lesen Kinder in der zweiten Klasse, brauchen sie für siebzig Wörter (das heißt fünf bis sechs durchschnittlich lange Sätze) ungefähr eine Minute. Ein Erwachsener braucht für die gleiche Menge an Text nur ungefähr ein Viertel dieser Zeit. Auf die Dauer summieren sich solche Unterschiede zu erheblichen Differenzen: Ein Kind, das durchschnittlich lange und gut liest, wird am Ende der sechsten Klasse ungefähr zwei Millionen Wörter gelesen haben (das entspricht ungefähr zweimal dem Umfang aller Harry-Potter-Bände). Ein Kind, das hingegen das Lesen fast vollständig vermeidet und eher zähflüssig liest, kommt nur auf etwa zehn Prozent davon. Gleichzeitig kann ein Kind, das doppelt so viel liest, leicht vier bis sechs Millionen Wörter in der Grundschule lesen. Wie bei allen exponentiell verlaufenden Wachstumsprozessen machen sich selbst kleine Unterschiede in den Anfangszuständen schnell bemerkbar.

Was hat das für Konsequenzen?

Es ist einfach zu sehen, dass die oben skizzierte Wachstumsdynamik erhebliche Konsequenzen hat, und zwar sowohl für die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler als auch für das Handeln von Eltern und Lehrern. Zunächst einmal kann sich durch das Zusammenspiel von Leseverhalten und Lesefähigkeit ein positiver „Engelskreis“ ergeben [3]: Menschen, die mehr und anspruchsvollere Bücher lesen, üben diese Fähigkeiten mehr und werden dadurch immer besser. Entsprechend hat das Forscherteam auch herausgefunden, dass das Lektüreverhalten stark mit anderen sprachlichen Leistungen der Kinder zusammenhängt: Kinder, die viele Kinderbücher kennen, haben einen größeren Wortschatz und lesen flüssiger. Leider ist jedoch der umgekehrte Fall wesentlich häufiger: Kinder, denen das Lesen schwerfällt, vermeiden es, dadurch fällt es ihnen immer schwerer und sie vermeiden es immer weiter.

Obwohl die Leseforschung diese komplexen Wechselbeziehungen zwischen dem, was Kinder lesen und dem was sie können, schon lange beobachtet, ist noch nicht klar, was man am besten dagegen tun kann. Sicherlich liegt die Lösung in einem Zusammenspiel unterschiedlicher Maßnahmen gleichzeitig: Die Lehrkräfte in der Schule sind wichtig, haben aber häufig nicht die Zeit, sich in jedem Einzelfall um das Lektüreverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler zu kümmern. Lesepaten-Systeme sind sicherlich eine gute Sache, aber es ist unklar, wie nachhaltig die Wirkung solcher eher punktuellen Maßnahmen ist. Programme zur Förderung der Lesemotivation sind ebenfalls gut und sinnvoll, aber aus kognitiver Perspektive meist zu unspezifisch. Gerade die schwächeren Schülerinnen und Schüler, denen das Dekodieren einfachster Wörter noch sehr schwerfällt, bedürfen der gezielten Förderung und Übung, um sie überhaupt erst in die Lage zu versetzen, eigenständig weiterzulesen. Denn das ist das Entscheidende: Statt einmal die Woche zum Leseunterricht zu gehen oder, von den Eltern vorgeschrieben, die obligatorischen fünf Minuten zu Hause lesen zu müssen, ist es wichtig, das „kognitive Immunsystem“ der Kinder soweit zu stärken, dass sie in der Lage (und willens) sind, sich eigenständig mit Büchern und Texten auseinanderzusetzen – egal ob in altmodischer Papierform, als E-Book oder im Internet.

Literaturhinweise

Würzner, K.-M.; Heister, J.; Schroeder, S.
Altersgruppeneffekte in childLex
Spektrum Patholinguistik 7, 95–102 (2014)
Schroeder, S.
What readers have and do: Effects of students’ verbal ability and reading time components on comprehension with and without text availability
Journal of Educational Psychology 103, 877–896 (2011)
Groeben, N.; Schroeder, S.
Versuch einer Synopse: Sozialisationsinstanzen – Ko-Konstruktion
In: Lesesozialisation in der Mediengesellschaft: Ein Forschungsüberblick, 306–348. (Hg. Groeben, N.; Hurrelmann, B.). Juventa, Weinheim (2004)
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