Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für Neurobiologie des Verhaltens - caesar

Die supramolekulare Struktur von Rhodopsin in Sehstäbchen

The supra-molecular structure of rhodopsin in retinal rods

Autoren
Gunkel, Monika
Abteilungen
Abteilung Molekulare Neurosensorik
Zusammenfassung
Der Sehsinn ist für viele Tiere und den Menschen der wichtigste Sinn. Ein Schlüsselprotein ist der Sehfarbstoff Rhodopsin; es absorbiert Licht, das auf die Sehzellen der Netzhaut fällt. Über die supramolekulare Organisation von Rhodopsin gibt es seit vielen Jahren eine kontroverse Diskussion. Diese Kontroverse konnten wir mithilfe der Elektronentomografie klären. Viele Krankheiten, die Blindheit verursachen, sind auf Mutationen im Rhodopsin-Gen und eine Degeneration der Netzhaut zurückzuführen. Vielleicht können unsere Erkenntnisse zur Aufklärung einiger Ursachen für Blindheit beitragen.
Summary
The sense of vision is the most important sense for many animals and humans. The visual pigment rhodopsin is a key protein, it absorbs light which falls onto the visual cells in the retina. There has been a controversial discussion on the supra-molecular organisation of rhodopsin for many years. We have been able to clarify this controversy with the aid of electron tomography. Many illnesses which cause blindness can be traced back to mutations in the  rhodopsin gene and the resulting degeneration of the retina. Our findings can maybe contribute to explaining some causes of blindness.

Der Sehprozess beginnt in Sehzellen der Netzhaut unserer Augen. Man unterscheidet Sehstäbchen, die für das Sehen in der Dämmerung zuständig sind, und Zapfen, mit denen man bei Tageslicht Farben erkennen kann. In ihrer Forschung beschäftigen sich die caesar-Wissenschaftler der Abteilung „Molekulare Neurosensorik“ mit den Sehstäbchen (Abb. 1 a). Ein Sehstäbchen besteht aus einem Innen- und einem Außensegment. Das Innensegment enthält den Zellkern, Mitochondrien und die Synapse, also die „Schnittstelle“ zum Nervensystem. Im Außensegment befinden sich flache, übereinander gestapelte Membranscheibchen, sogenannte Disks. Jedes Disk besitzt eine Einfaltung (Abb. 1 a); die Einfaltungen benachbarter Disks sind zueinander ausgerichtet, manchmal über Hunderte von Disks. Rhodopsin ist in der Disk-Membran eingelagert.

Was passiert in den Sehstäbchen nach der Absorption eines Photons? Rhodopsin ändert seine Konformation. Dadurch aktiviert Rhodopsin ca. 20 sogenannte Transducin-Moleküle, die zur Familie der G-Proteine gehören. Die Transducin-Moleküle wiederum aktivieren Phosphodiesterase-Moleküle, die ihrerseits Tausende von zyklischen Guanosinmonophosphat-Molekülen (cGMP) hydrolysieren, also mithilfe von Wasser spalten. Das cGMP-Molekül ist ein zellulärer Botenstoff, der Ionenkanäle öffnet, durch die Natrium-Ionen in die Zelle fließen. Die Kaskade von Reaktionen bewirkt in kürzester Zeit eine enorme Verstärkung des Lichtsignals! Die Folge: Die cGMP-Konzentration nimmt ab (Abb. 1 b).

Ist die cGMP-Konzentration gering, schließen die Kanäle; der Natrium-Einstrom wird unterbrochen. Zusätzlich zum Natrium-Strom gibt es auch einen Kalium-Kanal, durch den Kalium aus dem Sehstäbchen fließt. Dieser wird durch den Lichtreiz nicht geschlossen. Da positiv geladene Kalium-Ionen aus der Zelle fließen, wird das Membranpotenzial negativer; die Zelle hyperpolarisiert. Dadurch fällt die hemmende Wirkung der Sehstäbchen auf die nachfolgenden Nervenzellen weg. Elektrische Signale werden an das Gehirn weitergeleitet; es kommt zur visuellen Wahrnehmung.

Rhodopsin ist das „Gründungsmitglied“ einer großen Familie von Membranrezeptoren, den sogenannten G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (GPCRs). Die Struktur von Rhodopsin und anderen GPCRs wurde mit atomarer Auflösung aufgeklärt und mit dem Nobelpreis für Chemie 2012 an Robert Lefkowitz und Brian Kobilka gewürdigt. Einige Mitglieder der GPCR-Familie können Dimere bilden, also Strukturen, die aus zwei Molekülen bestehen.

Für Rhodopsin war bislang unklar, ob es Dimere bildet oder als Monomer vorliegt: Zahlreiche biophysikalische Untersuchungen führten zu widersprüchlichen Ergebnissen. Die hohe Beweglichkeit und Rotation von Rhodopsin in der Membran deuten darauf hin, dass Rhodopsin als Monomer existiert. Andere Experimente hingegen, wie die Kraftfeld-Mikroskopie, sprachen für die Dimer-Hypothese. Der springende Punkt ist: In all diesen Studien wurde Rhodopsin in einem nicht natürlichen Zustand untersucht. Es wurden zum Beispiel isolierte Moleküle oder Membranen von aufgebrochenen Zellen verwendet.

Die Wissenschaftler des Forschungszentrums caesar haben deshalb Rhodopsin im intakten Netzhautgewebe mithilfe der Elektronentomografie unter die Lupe genommen. Zunächst wurde die intakte Netzhaut von Mäusen aus dem Auge präpariert und durch schockartiges Einfrieren unter hohem Druck konserviert. Diese Methode garantiert, dass die Ultrastruktur der Probe erhalten bleibt. Ein solches Verfahren bezeichnet man als Kryo-Technik (vom altgriechischen κρύος - Frost, Eis).

Gegenüber herkömmlichen Verfahren hat die Kryo-Technik den Vorteil, dass die biologische Probe weder chemisch fixiert noch angefärbt werden muss, um sie im Elektronenmikroskop sichtbar zu machen. Doch ein anderes Problem könnte den Forschern zu schaffen machen: Es ist wohlbekannt, dass die Bildung von Eiskristallen Gewebe zerstört, also genau das verursacht, was man vermeiden will. Warum kristallisiert Wasser unter unseren Bedingungen nicht? Ganz einfach: Das Wasser kann sich bei der Eisbildung durch den hohen Druck (~2000 Bar; zum Vergleich: der „normale“ Luftdruck beträgt 1 Bar) nicht ausdehnen. Stattdessen verwandelt es sich in eine glasartige, amorphe, viskose Flüssigkeit; das Gewebe bleibt dabei sehr gut erhalten. Nach dem Einfrieren werden die Proben in 20 bis 50 Nanometer dünne Scheibchen geschnitten und im Transmissions-Elektronenmikroskop untersucht.

Das Transmissions-Elektronenmikroskop liefert zunächst nur zweidimensionale Bilder. Nimmt man aber – ähnlich wie in der medizinischen Computertomografie (CT) – Bilder aus verschiedenen Richtungen auf (Tomogramm), kann man die Einzelbilder später im Computer zu einer dreidimensionalen Darstellung des Schnittes zusammenfügen. Allerdings ist das Signal-Rausch-Verhältnis in Kryo- Tomogrammen sehr gering, sprich: Das Signal ist zu schwach, das Rauschen zu groß. Deshalb sind zelluläre Strukturen und Moleküle nicht gut sichtbar.

In solchen Fällen hilft eine Nachbearbeitung. Der wichtigste Bearbeitungsschritt ist eine Mittelwertbildung von Subtomogrammen. Hierbei werden viele kleine Tomogramme, die nur wenige Rhodopsinmoleküle enthalten, aus dem großen Tomogramm ausgeschnitten und übereinander gelegt. Wenn man die Rhodopsin-Moleküle perfekt ausrichtet, verbessert man das Signal-Rausch-Verhältnis deutlich. Nach dieser Bildbearbeitung konnten die Wissenschaftler einzelne Rhodopsin-Moleküle in der Membran erkennen (Abb. 2). Bis dahin war es weltweit noch niemandem gelungen, ein so kleines Molekül in einem intakten Gewebe sichtbar zu machen.

Deshalb konnte auch die Kontroverse geklärt werden, ob Rhodopsin Dimere bildet oder als Monomer vorliegt. Die Antwort: Es bildet Dimere! Zusätzlich haben die caesar-Forscher herausgefunden, dass Rhodopsin sogenannte supramolekulare Strukturen ausbildet. Die Dimere sind in Reihen aus jeweils ca. 50 Molekülen angeordnet; je zwei Reihen lagern sich zu einer Doppelreihe zusammen (wie „Bahngleise“). Die Doppelreihen sind räumlich voneinander getrennt. Interessant ist auch die Anordnung der Doppelreihen innerhalb der Disk-Membran: Wie bereits erwähnt besitzt jedes Disk eine Einfaltung. Die Doppelreihen der Rhodopsin-Dimere sind parallel zu diesen Einfaltungen angeordnet. Die Ergebnisse der Abteilung „Molekulare Neurosensorik“ sind in einem Modell illustriert (Abb. 3).

Welcher physiologischen Funktion dient eine solche geometrische Anordnung? Darüber kann man im Moment nur spekulieren. Die Wissenschaftler vermuten, dass die Rhodopsin-Doppelreihen funktionelle Einheiten darstellen: Auf den Rhodopsin-Gleisen werden Komponenten, die am Sehprozess beteiligt sind, räumlich organisiert und so „in Stellung gebracht“. Eine solche Einheit könnte aus 50 Rhodopsin-Molekülen, drei Transducin-Molekülen und einem Phosphodiesterase-Molekül bestehen; die Signalmoleküle liegen in diesem Verhältnis in der Disk-Membran vor. Die Transducin-Moleküle passen auch von der Größe her genau in die Mulde zwischen zwei Dimer-Reihen. Diese Vororganisation hat den Vorteil, dass sich die Moleküle nicht erst finden müssten; sie wären alle schon perfekt zueinander ausgerichtet.

Welchen Vorteil könnte es bringen, dass die Doppelreihen parallel zur Einfaltung angeordnet sind? Dies könnte die strukturelle Grundlage für Polarisationssehen sein. Was versteht man darunter? Einige Tiere, vornehmlich Insekten, orientieren sich, indem sie die Polarisation des Lichtes (also die Ebene, in der die Lichtwellen schwingen) detektieren. Dazu müssen die Sehpigmente, die das Licht absorbieren, alle ausgerichtet vorliegen; nur so ist die Sensitivität für eine Polarisationsrichtung groß genug. Der hohe Ordnungsgrad, mit der das Rhodopsin in den Sehstäbchen der Maus vorliegt, könnte Polarisationssehen ermöglichen. Allerdings ist die Polarisationsempfindlichkeit bei Säugetieren umstritten. Bisher wurde Polarisationssehen vorwiegend bei Insekten, Amphibien und bei einigen Fischen nachgewiesen. Vielleicht stimulieren die Ergebnisse der caesar-Forscher ja weiterführende Untersuchungen zum Polarisationssehen von Säugetieren.

Ausblick:

Obwohl die Kontroverse über die Organisation von Rhodopsin geklärt wurde, können die Wissenschaftler nicht erklären, warum frühere verlässliche Arbeiten gezeigt haben, dass Rhodopsin sich um sich selber dreht und auf der Disk-Oberfläche herumwandert. Weitere Experimente werden darauf ausgerichtet sein, diesen Widerspruch aufzuklären.

Literaturhinweise

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Polarized light in animal vision: Polarization patterns in nature
Springer (2004)
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