Chips vom Blatt

In kaum einen Stoff setzen Materialwissenschaftler so große Hoffnungen für die Elektronik der Zukunft wie in Graphen. Wissenschaftler um Klaus Müllen, Direktor am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz, und um Jurgen Smet, Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart, arbeiten daran, dass sich diese Hoffnungen erfüllen.

Text: Christian J. Meier

Verglichen mit modernen Forschern, hatten es Steinzeitmenschen leicht. Zwar brauchten sie Geschick, um für verschiedene Zwecke Geräte wie Faustkeile, Äxte oder Pfeilspitzen zu fertigen. Den Stein, den sie dafür verwendeten, fanden sie jedoch in der Natur. Heute hingegen müssen Wissenschaftler oft erst einmal das Material entwickeln, bevor sie Geräte mit verschiedenen Funktionen konstruieren können. „Wir brauchen stoffliche Innovation“, sagt Klaus Müllen vom Mainzer Max-Planck-Institut für Polymerforschung, der sich dem Kohlenstoffmaterial Graphen widmet.

Man könnte einwenden, dass Müllen und sein Mainzer Team mit Graphen den Stoff ihrer Forscherträume längst gefunden haben – und zwar einen, den manche Medien gerne Wundermaterial nennen, weil seine mechanischen, elektrischen und thermischen Eigenschaften einzigartig sind und ein ganzes Potpourri an neuen Anwendungen versprechen. Doch Graphen ist nicht gleich Graphen – seine Eigenschaften hängen stark von seiner Form ab, davon, mit welchen anderen Stoffen es in Kontakt steht und welchen Umweltbedingungen es ausgesetzt ist.

Das nur eine Atomlage dünne Netz aus Kohlenstoffatomen, die im Wabenmuster angeordnet sind, ist eher eine Materialplattform als ein Material, eine Spielwiese für Forscher, ein wandlungsfähiger Superheld unter den Materialien, der je nach Erscheinungsform unterschiedliche Kräfte entwickelt.

Daher suchen der Chemiker Müllen und sein Team in Mainz sowie der Physiker Jurgen Smet am Stuttgarter Max-Planck-Institut für Festkörperforschung nach neuen Formen der Kohlenstoffblätter, nach innovativen Graphendesigns, die Funktionen ermöglichen, wie sie die einfachste Form des Graphens – die gleichmäßige zweidimensionale Kohlenstofffolie – nicht erlaubt.

Die Forscher fasziniert die Exotik des Graphens, in dem sich Elektronen so schnell und stoßfrei bewegen wie in keinem anderen Stoff, der Wärme besser leitet als der darin lange unüberbotene Diamant und dessen Zugfestigkeit rein rechnerisch eine freitragende Brücke von Irland zu den Azoren ermöglichen würde. „Es ist so eine wunderbare Physik“, sagt Jurgen Smet mit leuchtenden Augen, als er eines seiner Forschungsprojekte zu Graphen schildert.

Verschränkt mit ihrer Grundlagenforschung ist der Blick auf eine spätere industrielle Massenfertigung ihrer Materialinnovationen, ob für eine leistungsfähigere Nanoelektronik, für langlebigere und extrem speicherfähige Akkus oder für Supraleiter, die verlustfrei Strom transportieren.

Für die Nanoelektronik empfehlen sich die Kohlenstoffblätter, weil Elektronen sehr schnell durch das Material flitzen und weil sie extrem dünn sind. Dank der behänden Ladungsträger könnten elektronische Bauelemente auf Basis von Graphen schneller rechnen und somit leistungsfähigere Computerchips erlauben, als dies mit der heutigen Siliciumtechnologie möglich ist.

Manche Bauelemente digitaler Schaltkreise könnten sich aus dem denkbar dünnen Graphen auch wesentlich kleiner konstruieren lassen als aus Silicium. Dadurch würde die Leistungsfähigkeit von Chips weiter steigen. Zudem bietet das flache Material die Chance, dreidimensionale digitale Schaltkreise zu bauen, sodass auf einer gegebenen Chipfläche ein Vielfaches an Rechenkraft untergebracht werden könnte.

Die Sache hat jedoch einen Haken. Für digitale Schaltungen braucht man Bauelemente, die sich zwischen zwei Zuständen – „An“ und „Aus“ – hin und herschalten lassen, sogenannte Transistoren. Und dafür sind Halbleiter nötig, wie das in heutigen Computerchips verwendete Silicium. Doch reines, zweidimensionales Graphen ist kein Halbleiter, sondern ein Halbmetall.

Die beiden Materialklassen unterscheiden sich in der Bandlücke – ein Halbleiter hat eine, ein Halbmetall wie Graphen nicht. Die Bandlücke trennt das sogenannte Valenzband, in dem Elektronen unbeweglich bleiben, und das Leitungsband, in dem die Ladungsträger durch ein Material sausen und damit zur elektrischen Leitfähigkeit beitragen können.

Um die Bandlücke zu überwinden, brauchen Elektronen einen Energieschub. Bei einem Halbleiter ist der Energieunterschied zwischen beiden Bändern groß genug, sodass sich das Material durch Anlegen einer Spannung von leitend auf nichtleitend umschalten lässt. Daher eignet es sich für einen Transistor in einem digitalen Schaltkreis.

In schmalen Streifen wird Graphen zum Halbleiter

Doch Graphen wäre nicht Graphen, wenn man es nicht durch eine Änderung seiner Form mit einer Bandlücke ausstatten könnte. Ein vielversprechender und intensiv erforschter Ansatz sind bandnudelförmige Graphen-Nanostreifen (graphene nanoribbons, kurz: GNR).

Warum es in den nur wenige Nanometer – ein Nanometer ist ein Millionstel Millimeter – schmalen Streifen eine Bandlücke gibt, lässt sich mithilfe der Wellennatur von Elektronen verstehen. Die Breite des Graphenstreifens entspricht ungefähr der Wellenlänge der Elementarteilchen. Daher passiert etwas Ähnliches wie bei einer Violinsaite. Wie diese, je nach Länge, mit unterschiedlichen Frequenzen schwingt, so lässt ein GNR mit bestimmter Breite nur bestimmte Frequenzen der Elektronenwellen zu. Der Abstand zwischen zwei erlaubten Frequenzen entspricht jeweils einem Energieabstand.

Unterm Strich kommt es so zu einer Bandlücke, also einem Energiebereich, in dem die Elektronen nicht existieren können. Je schmaler der Streifen, desto größer ist seine Bandlücke. Ob es eine Bandlücke gibt und wie groß diese ist, hängt zudem von der Form der Streifenränder ab.

Diese Komplexität macht die Herstellung von Graphen-Nanostreifen zu einer Sache für Chemiker, meint Müllen. Warum? Physiker erzeugen die Bänder auf verschiedene Weisen. Sie schneiden mit Elektronenstrahlen Streifen aus Graphen gleichsam heraus. Oder sie schlitzen Kohlenstoff-Nanoröhrchen, praktisch röhrenförmiges Graphen, auf und rollen sie auseinander – so als mache man aus einer Makkaroni- eine Bandnudel.

Die Form der Ränder beeinflusst die Eigenschaften

„Doch diese Methoden bieten keine Kontrolle darüber, wie die Kanten aussehen“, sagt Müllen. Die Ränder maßschneidern zu können ist sehr wichtig, weil unregelmäßige Kanten die Elektronen bremsen. Damit geht ein großer Vorteil des Graphens verloren: die Schnelligkeit seiner Elektronen. Aber auch wenn die Kanten regelmäßig geformt sind, beeinflusst ihre Form die elektronischen Eigenschaften.

An den Rändern der Kohlenstoffstreifen können die Kohlenstoffsechsecke, aus denen Graphen zusammengesetzt ist, beispielsweise versetzt zueinander liegen. So entstehen an der Kante nebeneinanderliegende Buchten, die an Armsessel erinnern (armchair). Oder der Rand hat eine Zickzackform (zigzag). Die Variante armchair führt zu einer Bandlücke, die Zickzackvariante nicht unbedingt. Dafür hat die Zickzackvariante an ihrem Rand Elektronen mit bestimmtem Spin – eine magnetische Eigenschaft, dank derer die Teilchen Kompassnadeln ähneln. Das macht diese Art der Nanostreifen interessant für eine neuartige Form der Elektronik, die Spintronik. Diese soll Bits nicht mehr mit der Ladung der Elektronen speichern und verarbeiten, sondern mit dem Spin.

Die Mainzer Forscher können die Form der Streifen und somit auch die der Kanten auf einzelne Atome genau kontrollieren. Sie können etwa garantieren, dass die armchair-Variante entsteht. Denn sie planen für jedes einzelne Kohlenstoffatom, wo es im fertigen GNR sitzen wird. Das erreichen sie, indem sie quasi den umgekehrten Weg gehen wie Physiker. Sie zerkleinern nicht ein großes Kohlenstoffblatt, sondern bauen den Streifen aus kleineren Kohlenwasserstoffmolekülen auf. Sie arbeiten also nicht wie Bildhauer, die mit einem Meißel Material von einem Werkstück entfernen, sondern eher wie Maurer, die ein Gebäude nach Plan errichten, Stein für Stein.

Sie kommen mit diesem Bottom-up genannten Verfahren der höchsten Kunst der Nanotechnologie sehr nahe, nämlich dem Aufbau von Materialien Atom für Atom – so wie es Eric Drexler, Vordenker der Nanotechnologie, in den 1980er-Jahren avisierte. Weil man mit dieser Methode den Aufbau des Produkts so präzise beherrscht, wie es nur geht, kontrolliert man auch dessen physikalische und chemische Eigenschaften bis ins Detail.

Dadurch wird ein gezieltes Design von Komponenten für nanoelektronische Bauelemente möglich, wie es Bildhauermethoden nicht erlauben. Denn alle noch so filigranen Meißel, mit denen etwa die Halbleiterindustrie Transistoren aus Silicium ziseliert, sind zu grob, um damit Strukturen auf einzelne Atome genau zu bearbeiten.

Um die Kohlenstoff-Nanostreifen im Bottom-up-Verfahren aufzubauen, verwenden die Mainzer Forscher Moleküle, die aus mehreren sechseckigen Kohlenwasserstoff-Ringen zusammengesetzt sind. An zwei ihrer Enden tragen diese Monomere statt eines Wasserstoffatoms ein anderes Atom, etwa Brom. Wenn die Chemiker die Monomere auf einer Metalloberfläche wie etwa Gold auf rund 200 Grad Celsius erwärmen, lösen sich die Platzhalter-Atome und es bleiben reaktive Kupplungsstellen, an denen sich die Monomere zu einer Kette verknüpfen.

Da die Wasserstoffe an den Enden der verketteten Monomere einander im Weg stehen, wellt sich die Kette zunächst noch. Die Forscher entfernen diese störenden Wasserstoffatome, indem sie das Zwischenprodukt auf etwa 400 Grad Celsius erhitzen. Die Benzolringe benachbarter Monomere verbinden sich nun zu einem durchgängigen Nanostreifen. Die Mainzer Forscher haben ein ähnliches Verfahren entwickelt, um die Streifen auch in Lösung herzustellen. Das ist für eine großtechnische Anwendung praktischer.

Neben der Kontrolle über die Ränder bietet das Verfahren einige weitere Stellschrauben, die ein Design sehr unterschiedlicher Kohlenstoff-Nanostreifen ermöglichen. Diese könnten in der Nanoelektronik einmal sehr unterschiedliche Rollen spielen. „Durch Wahl der Monomere können wir das Verhältnis von Länge zu Breite des GNR steuern“, sagt Müllens Mitarbeiter Xinliang Feng.

Methoden, die sich für die Massenproduktion eignen

Wenn die Chemiker Monomere, die drei Platzhalter tragen, unter die Moleküle mit zwei Bromatomen mischen, entstehen Streifen in Y-Form, die sich in Schaltungen für sich verzweigende Leitungen nutzen lassen. Sogar Verknüpfungen von GNRs mit unterschiedlich großer Bandlücke haben die Mainzer Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Forschern der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt in Dübendorf hergestellt. Solche Heterostrukturen spielen auch in der herkömmlichen Mikroelektronik eine Rolle und könnten auf diese Weise in eine neuartige Nanoelektronik übersetzt werden.

Geeignet geformte GNRs könnten auch in Solarzellen zum Einsatz kommen, da sie sichtbares und infrarotes Licht absorbieren, wie Müllens Team durch theoretische Berechnungen in Zusammenarbeit mit belgischen und französischen Forschern sowie der BASF herausgefunden hat.

Mit dem Ludwigshafener Chemiekonzern forscht Müllens Team seit 2012 in einem eigens gegründeten gemeinsamen Forschungslabor. „Wir machen Grundlagenforschung, sind aber offen für Anwendungen“, sagt Müllen. Das ist mehr als ein Lippenbekenntnis. Denn die Herstellungsmethoden der Mainzer eignen sich prinzipiell für die Massenproduktion. Zum einen sind die Monomere als Ausgangsmaterialien leichter zu handhaben als Graphen. Zudem haben beide Herstellungsverfahren der Chemiker Vorteile hinsichtlich der industriellen Produktion.

Die Methode, die Kohlenstoff-Nanostreifen in Lösung produziert, ist einfach und preiswert und bietet außerdem die Chance, elektronische Schaltungen mit kostengünstigen und schnellen Druckverfahren herzustellen. Die andere Methode – das Graphen auf Oberflächen abzuscheiden – kommt mit relativ geringen Temperaturen aus und ist somit kompatibel mit derzeitigen Herstellungsverfahren in der Computerindustrie.

Ein Material wie ein unerschlossenes Land

Allerdings eignen sich Metalle nicht als Graphenunterlagen in der Elektronik, da sie das Bauelement kurzschließen würden. Hier kommt der Physiker Jurgen Smet ins Spiel. Ein Transferverfahren ist das Ziel eines seiner Projekte zu Graphen. Mit verschiedenen Verfahren versuchen die Stuttgarter, Graphen von Kupferunterlagen auf andere Oberflächen zu bringen.

Obwohl Smet ein leidenschaftlicher Grundlagenforscher ist, hat auch er dabei die spätere industrielle Fertigung im Blick: „Wir entwickeln Methoden, bei denen die Unterlage nicht aufgelöst wird, um zu vermeiden, dass das Kupfer im Prozess verloren geht.“ So verwenden die Forscher etwa einen Stempel, der das Graphen von seiner Unterlage abzieht und auf einer anderen ablegt. „Dabei ist es wichtig, reproduzierbar einen definierten Druck auszuüben“, betont Smet.

Dieses Ziel hofft der Forscher durch Zusammenarbeit mit dem benachbarten Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung zu erreichen. Auf verschiedenen Wegen versuchen er und sein Team es zu ermöglichen, eine Graphen-tragende Kupferfolie etwa als Elektrode in einer galvanischen Zelle zu verwenden. Dafür gibt es Varianten, die das Kupfer nicht oder wenig zersetzen.

Neben der Suche nach praktischen Transferverfahren beschäftigen Smet auch noch wesentlich grundlegendere Aspekte des Graphens. Für ihn ist das Material ein unerschlossenes Land, in dem viele Überraschungen warten. „Es vereint eine ungewöhnliche Zahl an Superlativen“, begründet er die Faszination, die Graphen bei Forschern auslöst, sodass weltweit ein wahres Heer von Wissenschaftlern das Material untersucht. Der Hype hat allerdings den Nachteil, dass „die niedrig hängenden Früchte längst geerntet sind“, wie es Smet ausdrückt. Deshalb verfeinert sich die Forschung immer mehr.

Jurgen Smet möchte gleichsam in unbekanntes Terrain der Graphenforschung vordringen und dabei neue Eigenschaften des Materials entdecken. Zu diesem Zweck bringt er flächiges Graphen in unterschiedliche Umgebungen, verbindet es etwa zu Doppelschichten, benetzt es mit dünnen Flüssigkeitsschichten oder bettet es zwischen andere Materialien ein. Dabei winken Anwendungen, die über die Computerelektronik hinaus Bedeutung haben könnten – etwa in der Energiespeicherung oder der Supraleitung, die verlustfreien Stromtransport verspricht.

Am Anfang all dessen steht die Neugier des Physikers. „Graphen ist prädestiniert, um darin die Wechselwirkung zwischen Elektronen zu untersuchen“, sagt Smet. Solche Wechselwirkungen stehen hinter Phänomenen wie der Supraleitung oder den sogenannten Bose-Einstein-Kondensaten. Diese makroskopischen Quantenobjekte studieren Physiker weltweit, um die Möglichkeiten auszuloten, die exotische Zustände der Materie bieten.

Voraussetzung für die Studien sei allerdings, viele zusätzliche Elektronen in das Graphen hineinzubringen, damit diese miteinander wechselwirken. „Wir wollen herausfinden, wie stark man die Elektronendichte im Graphen erhöhen kann“, sagt Jurgen Smet. Möglicherweise gehe das so weit, dass aus Graphen ein Material werde, das sich auf Knopfdruck in einen Supraleiter umwandeln lässt.

Das Ausgangsmaterial der Versuche stellen die Physiker selbst her: möglichst große Flächen von perfektem Graphen, dessen Honigwabengitter absolut regelmäßig ist. In einem Reaktor leiten sie Methandampf über eine Kupferfolie, auf der sich in einer chemischen Reaktion Graphen bildet.

Auf unterschiedliche Weisen impfen die Forscher den Kohlenstoffblättern dann Elektronen ein. Bei einer ziemlich einfachen Art, das Material mit Elektronen aufzuladen, beschichten sie Graphen mit einem Elektrolyt: einer Flüssigkeit, die Lithiumionen enthält. Die Lithiumionen lagern sich an das Graphen an, sodass ihre positive elektrische Ladung ausgeglichen werden muss. Daher wandern Elektronen aus metallischen Kontakten in das Graphen ein.

Superkondensatoren aus Graphen als Energiespeicher

„Der Abstand zwischen den Ionen und den Elektronen im Graphen beträgt nur einen Nanometer“, sagt Smet. Diese Enge zwischen positiver und negativer Ladung macht aus dem mit Elektrolyt benetzten Graphen einen Kondensator mit extrem hoher Kapazität, einen Supercap. „Das bedeutet, dass sich mit wenig Spannung eine sehr hohe Ladungsträgerdichte erzielen lässt“, erläutert Smet.

Solche Superkondensatoren sind nicht nur interessant, um die Wechselwirkungen zwischen dicht zusammengepferchten Elektronen zu studieren, sondern auch für Anwendungen als Energiespeicher. Denn ein Kondensator kann umso mehr Energie speichern, je dichter die Ladungsträger in ihm gepackt sind. Derzeit versuchen die Stuttgarter Max-Planck-Forscher, ein auch für industrielle Zwecke geeignetes Herstellungsverfahren für die Beschichtung des Graphens mit einem möglichst dickflüssigen Elektrolyten zu entwickeln.

Einen weiteren Griff in die Wundertüte Graphen versucht Smets Team, indem es den Stoff mit einem anderen zweidimensionalen Material kombiniert. Und zwar mit Bornitrid, das wie Graphen ein flächiges Honigwabengitter bildet, dessen Sechsecke aber zu gleichen Teilen aus Bor- und Stickstoffatomen bestehen. Anders als Graphen ist Bornitrid ein Isolator.

Die Physiker stellen ein Sandwich her, indem sie zwischen drei Schichten Bornitrid zwei Lagen Graphen packen. So entstehen zwei nahe beieinander liegende, aber elektrisch voneinander isolierte Graphenschichten. Diese reden sozusagen miteinander: Elektronen in der einen Schicht interagieren mit Atomen in der anderen Schicht, denen ein Elektron fehlt – Physiker sprechen von Löchern. Elektronen und Löcher bilden eine für Graphen neue Art von Teilchen: Exzitonen, die Wasserstoffatomen ähneln.

Im Gegensatz zu Elektronen und Löchern an sich gehören die Exzitonen zur quantenmechanischen Teilchenfamilie der Bosonen. Diese wiederum können sich in einem Festkörper zu einer Art Superteilchen verbinden, zu einem Bose-Einstein-Kondensat. Dieser exotische Materiezustand tritt normalerweise nur knapp oberhalb des absoluten Temperaturnullpunkts auf, bei minus 273 Grad Celsius.

„Eine kontrovers diskutierte Theorie sagt voraus, dass in so einem System ein Bose-Einstein-Kondensat auch bei Raumtemperatur existieren könnte“, sagt Smet. Die Kontroverse könne nur die empirische Forschung entscheiden, sie wird damit zu einer Herausforderung für Physiker wie ihn. „Das Material aus Graphen und Bornitrid bietet uns viele Stellschrauben, um dieses Ziel zu erreichen“, sagt Jurgen Smet. Beispielsweise lässt sich die Dichte an Exzitonen gezielt einstellen.

Bose-Einstein-Kondensate bei Raumtemperatur wären nicht nur für Grundlagenforscher interessant, sondern der Meinung einiger Physiker zufolge auch für Quantencomputer nutzbar. Diese bisher nur ansatzweise verwirklichte Art von Rechnern könnte bestimmte Aufgaben, für die herkömmliche Computer Ewigkeiten brauchen, im Handumdrehen lösen.

Ob als reines Material oder als Komponente von neuen Materialkombinationen – der Tausendsassa Graphen wird vermutlich noch Furore machen. Max-Planck-Forscher könnten hierfür entscheidende Impulse geben. Nicht zuletzt dank ihrer Fähigkeiten, neue Werkstoffe auf atomarer Ebene aufzubauen, kitzeln sie immer neue Funktionen aus der simpel aufgebauten Kohlenstoffverbindung. „Stoffliche Innovation“ eben, wie Klaus Müllen es formuliert.

So könnte die Materialfamilie des Graphen irgendwann einmal aus kaum einem elektronischen Geräten wegzudenken sein. Womöglich trägt Graphen, neben anderen technisch interessanten Kohlenstoffverbindungen wie etwa Kohlenstoff-Nanoröhrchen oder den wie Fußbällen geformten Fullerenen, zu einem neuen Zeitalter bei: der Kohlenstoffzeit. In dieser dürfte das Element vielleicht eine ebenso unverzichtbare Rolle spielen wie Stein für die Steinzeit oder Silicium in der Siliciumära.

Auf den Punkt gebracht

  • Bei Graphen handelt es sich um eine einzige Lage Kohlenstoffatome. Das Material hat außergewöhnliche mechanische, elektronische und thermische Eigenschaften und ist daher für viele Anwendungen, etwa in der Elektronik, interessant.

  • Über die chemischen Ausgangsstoffe lässt sich die Struktur des Graphen maßschneidern und beispielsweise seinem Rand gezielt eine gewünschte Form geben, wodurch es zu einem Halbleiter gemacht werden kann.

  • Mit verschiedenen Methoden, etwa mit Stempeln, wird Graphen von den metallischen Unterlagen gelöst, auf denen man es erzeugt. Erst so wird es für viele Anwendungen brauchbar.

  • Anhand der einzelnen Kohlenstoffblätter lassen sich starke Wechselwirkungen zwischen Elektronen, etwa die Supraleitung, untersuchen, wenn zusätzliche Ladungsträger in das Material gepumpt werden.

Glossar

Bose-Einstein-Kondensat
Mehrere Bosonen, neben Fermionen die zweite Art von Quantenteilchen, in die Physiker Partikel einteilen, können quantenmechanisch zu einem einzigen Teilchen verschmelzen – gewöhnlich aber nur nahe dem absoluten Nullpunkt der Temperatur bei rund minus 273 Grad Celsius.

Supraleitung
Ein Material verliert seinen elektrischen Widerstand, wenn seine Elektronen sich zu Paaren zusammenschließen. Das geschieht in allen bisher bekannten Supraleitern weit unter Null Grad Celsius, also bei technisch nicht sehr interessanten Temperaturen. Daher versuchen Physiker, Supraleiter bei Raumtemperatur zu entwickeln.

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